Das ist ein Buch, aus dessen Lektüre man einiges über Fehlformen des politischen Journalismus in Deutschland lernen kann.
Eckart Lohse ist politischer Redakteur bei der FAZ und war dort als journalistischer Begleiter angesetzt auf Angela Merkel, schon in deren Zeit als CDU-Vorsitzende. Er hat somit über mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrungen und Material gesammelt über seine Protagonistin. Es liegt nahe, dass er aus diesem Erfahrungsschatz noch Kapital schlagen wollte. Ergebnis ist ein Buch zu ihr, welches knapp vor den Merkelschen Erinnerungen erscheinen sollte.
Der heutige Leser hat somit die Option, beide Bücher zu denselben Ereignissen aus Merkels Kanzlerschaft nebeneinander zu legen. Das Ergebnis des Vergleichs: Lohse zeigt, was eine Verwendung von zeitgenössisch gesammeltem Material ist, die von einem unprofessionellen journalistischen Konzept geleitet ist. Dass er eine Agenda verfolgt, zeugt auch davon.
Fokussiert wird hier, beispielhaft, das Thema Atomkraft nach Fukushima. Dem widmet Lohse üppige 31 Seiten. Lohses Darstellung ist langatmig, ziellos füllt er die Seiten, anscheinend als Rezyklat seiner zeitgenössischen Darstellungen. Ursprünglich wird Lohse an sein Material auch dadurch gekommen sein, dass ihm Kontrahenten von Frau Merkel vertraulich Material und Einschätzungen zukommen ließen, die ihre Position gegen Frau Merkel öffentlich stützen sollten – damals funktionierte Lohse sach- bzw. rollengerecht als „Medium“ und brachte all dies an die Öffentlichkeit. Dieses zeitgenössische Wirrwar an Ranküne und Kolportage aber im Nachhinein zu lesen zu geben, ist nicht mehr erhellend sondern nur Aufmerksamkeit-raubend. Lohse fügt noch ein neues Element in den unkonturierten Brei, da er mit 12 Spitzenpolitikern der Merkel-Ära aus der CDU sowie mit Seehofer und Söder Interviews geführt hat. Deren Aussagen müssen auch verwertet werden, auch wenn es in der verhandelten Sache kaum etwas austrägt. Auf eine Unterfütterung durch vertiefte sachliche Hintergrund-Darstellungen verzichtet Lohse. So bringt er das Kunststück fertig, das konzeptionell zentrale Dokument, den am 6. September 2010 nachts um 4:30 h unterzeichneten geheimen Förderfondvertrag mit den vier Atomkraftwerke betreibenden EVU, auszublenden. So wird er mit zeitlichem Abstand nicht klüger als er im Nebel der Zeitgenossenschaft war.
Der Titel des Buches zeigt den Autor auf dem Pfad eines hybriden innenpolitischen Kampfes. Systematische „Täuschung“ wird der Ex-Kanzlerin, einer Ostdeutschen, also einer Fremden, keiner von uns, als Prinzip ihrer Herrschaft attestiert. Die Kanzlerin sei, „um keine Schwäche zu zeigen, über viele Herausforderungen hinweg <gegangen>“ und habe „damit die Deutschen <getäuscht>“. Soll heißen: Sie habe Herausforderungen, für deren Lösung sie die Mehrheit im demokratischen System nicht hinter sich versammeln konnte, die Macht somit nicht in hinreichendem Maße besaß, nicht angemessen aufgegriffen. Das aber ist unstrittig: Das ist eine These, die Frau Merkel in ihren Erinnerungen wieder und wieder zugibt, beispielhaft am Thema Klimapolitik. Wieso ein solches Verhalten eine Täuschung sein solle, ist unverständlich. Ein Regierungschef im Föderalstaat ist nicht allmächtig.
Lohse exemplifiziert seine sperrige These prominent an dem Thema Atomkraftwerke bzw. Ausstieg aus der Laufzeitverlängerung nach dem Kernkraft-Unfall in Fukushima. Angedeutet ist sie in der Kapitel-Überschrift „Gegen die eigene Überzeugung: der Atomausstieg“. Seine Behauptung lautet wörtlich:
„Die Physikerin Merkel hält den Atomstrom für eine wichtige Energiequelle, doch weil viele Wähler, vor allem aber ihre Partei und die CSU nach dem Reaktorunglück in Fukushima gar nicht schnell genug aussteigen können, beugt sie sich dem Druck.“
Der Tatbestand der Täuschung wird somit als Differenz zwischen „eigentlichen“ persönlichen Überzeugungen und faktischen Zielen im politischen Handeln definiert. Eine solche Definition ist seltsam unpolitisch. Unter den Bedingungen eines politischen Systems wie in Deutschland agieren Politiker auf großer Bühne und spielen Rollen wie im Theater. Politik ist Inszenierung – wie Medienschaffen auch.
Aber unterstellt, die behauptete Differenz sei täuschend: Dann hat Lohse zu zeigen, dass Frau Merkel Strom aus Atomkraftwerken für unabdingbar gehalten habe. Da Atomstrom fast die einzige CO2-freie und in hinreichendem Ausmaße noch vermehrbare Energiequelle zur Stromerzeugung qua Dampfprozess ist, ist die These eigentlich die Unterstellung: Es braucht in einem Stromsystem, das bekanntlich latent instabil ist, eine dominante Quelle, die nach dem thermischen Prinzip, über Turbinen, funktioniert und als Retter in der Not die Unwägbarkeiten und Flatterhaftigkeit der übrigen Quellen auszugleichen vermag und somit die Stabilität des Stromsystems sichert. Der Hinweis auf die „Physikerin“ fällt nicht von ungefähr. Er soll sagen: Diese (angeblich) unbestreitbare Unverzichtbarkeit von „Grundlastkraftwerken“ wird auch Frau Merkel bekannt sein.
Lohse stellt schließlich die zentrale kontrafaktische Frage: „Wäre eine andere Entscheidung als der Ausstieg möglich gewesen?“ Seine Antwort ist schlicht moralisch und lautet, Frau Merkel hätte gegen einen inner circle der CDU/CSU im Sinne ihrer angeblichen Überzeugung standhaft bleiben müssen. Eine analytische Antwort wird von Lohse nicht gegeben. Die würde die Bedingungen des Machterhalts für CDU/CSU mitreflektieren.
Die Ex-Kanzlerin kommt zu diesem Thema mit zwölf konzise geschriebenen Seiten aus. Sie beschreibt in ihren Erinnerungen (Freiheit, Köln 2024, S. 409 – 411) offen ihr Dilemma:
„Ich hatte eine Verlängerung befürwortet, auch im Wahlkampf. Gleichzeitig hatte ich eine Wiederauflage der Auseinandersetzungen mit den Kernkraftgegnern, die ich aus meiner Zeit als Umweltministerin kannte, vermeiden wollen, denn die Schröder-Regierung hatte durch ihre Entscheidungen gesellschaftlichen Frieden hergestellt. Mich aus energiepolitischen Gründen für die Kernenergie einzusetzen und gleichzeitig zu versuchen, den gesellschaftlichen Frieden zu wahren, war im Rückblick betrachtet von vornherein zum Scheitern verurteilt, zumindest glich es der Quadratur des Kreises. Damit hatte ich weder die vehementen Befürworter der Kernenergie noch ihre Gegner überzeugen können.
Hinzu kam, dass das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 mit 33,8 Prozent für die Union noch schlechter als 2005 ausgefallen war und die FDP mit 14,6 Prozent phänomenal gut abgeschnitten hatte. Manche, die mich schon immer für zu kompromissbereit gehalten hatten, glaubten, dass sie jetzt endlich einmal keine Rücksicht auf mich nehmen mussten und CDU-Politik pur betreiben konnten, wie sie das nannten. Die FDP hatte sich durch das Wahlergebnis offenbar sowieso ermutigt gefühlt, alles anders zu machen als die Vorgängerregierung, meine erste Koalition mit der SPD. Das alles brachte mich in eine schlechte Verhandlungsposition.
In der Besprechung am 5. September 2010 hatten die anderen, allen voran Volker Kauder, der mich sonst immer unterstützt hatte, und der damalige Landesgruppenvorsitzende der CSU, Hans-Peter Friedrich, aber auch Finanzminister Wolfgang Schäuble, Innenminister Thomas de Maizière, der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer sowie die Vertreter der FDP, neben Guido Westerwelle Wirtschaftsminister Rainer Brüderle und die Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger, auf eine möglichst üppige Laufzeitverlängerung gedrängt. In dieser Situation hatte ich mich entschlossen, meine Kräfte in den Verhandlungen realistisch einzuschätzen, die Koalition nicht unnötig in eine Krise zu stürzen, und schließlich zugestimmt, die Laufzeiten der älteren sieben Kraftwerke um acht Jahre und die der anderen zehn um vierzehn Jahre zu verlängern. Mein Einwand, dass diese Entscheidung nicht als eine Verschiebung des Ausstiegs verstanden werden würde, sondern als Ausstieg vom Ausstieg, hatte nicht überzeugt.“
Erst als sich mit dem Unfall in Fukushima der Möglichkeitsraum für sie öffnete, hat sie anders entschieden – um den Grünen ihr Thema und damit Stimmen zu nehmen.
Ich vermag nicht zu sehen, was an dieser Darstellung „Täuschung“ sein soll. Ja, Frau Merkel ist in der Situation von September 2010 über die Herausforderung, die Koalition auf ein angemessen begrenztes Maß der Laufzeitverlängerung zu verpflichten, hinweggegangen – dieser Teil der Lohseschen Diagnose ist korrekt. Sie hat dies aber in realistischer Einschätzung ihrer damaligen Möglichkeiten getan – daran ist nichts Täuschung.
Frau Merkel aber täuscht in dieser Textstelle den Leser durch Weglassen sehr wohl. Dass die namentlich genannten Partner in ihrer zweiten Koalition auf „möglichst üppige Laufzeitverlängerung gedrängt“ haben, hat einen klaren und rationalen Grund – anders als Frau Merkel insinuiert handeln die Vertreter einer „üppigen“ Laufzeitverlängerung nicht aus einer Ideologie des Atom-Extremismus heraus. Die Laufzeitverlängerung wurde vielmehr in einem Geheimvertrag den vier Betreibern „verkauft“ gegen die Hälfte des Werts dieser Rechteeinräumung, der auf rd. 100 Mrd. € angesetzt war. Mit diesem Geldsegen wollte die Koalition der zweiten Regierung Merkel Wohltaten für Wähler finanzieren, um ihre Chancen auf Wiederwahl zu erhöhen. Dieses zentrale Motiv im Hintergrund nicht zu benennen, ist Täuschung durch Verschweigen. Daran aber beteiligt sich Herr Lohse in gleicher Weise wie Frau Merkel. Dass Geld auch die Welt der Politik regiert, daran wollen beide nicht rühren.
[1] https://taz.de/Regierungsvertrag-mit-Atomindustrie/!5135944/
[2] https://www.blog-der-republik.de/angela-merkel-blickt-zurueck-der-crash-im-ukraine-konflikt-sowie-ihre-entscheidung-zum-atomausstieg/