Die FDP hat zwei Seelen in ihrer Brust. Erstmalig mit ihrer Gründung nach dem 2. Weltkrieg ist es wenigstens vordergründig gelungen, linke und rechte Liberale seit Mitte des 19. Jahrhunderts in einer einzigen Partei zu organisieren. Die gegenläufigen Interessen beider Flügel auszutarieren war immer das größte innerparteiliche Problem der FDP. Wer diese Partei des Liberalismus einschätzen will, muss ihre Geschichte kennen.
Der größte politische Erfolg und zugleich Höhepunkt des Einflusses der Liberalen war die von einer aufgeklärten und gebildeten bürgerlichen Oberschicht geführte Revolution von 1848/49 mit der Bildung des ersten Parlaments in der Paulskirche.
Danach spaltete sich die liberale Bewegung nach einem noch heute geltenden Muster in „Halbe“ und „Ganze“. Diese wunderbare Kennzeichnung klingt nach ein bisschen und richtig schwanger.
Von den „Ganzen“ dominiert wurde am 06.06.1861, zwei Jahre vor der SPD, die erste politische Partei Deutschlands nach heutigem Verständnis gegründet: die Deutsche Fortschrittspartei (DFP).
Wie hundert Jahre später in der sozialliberalen Koalition hielt der innerparteiliche Frieden nicht lange. Eine Reihe von Parteigründungen in linkeren und rechteren Gruppierungen folgte noch im 19. Jahrhundert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zementierte sich die Trennung in Freisinnige Volkspartei und Freisinnige Vereinigung, später Nationalsozialer Verein und Fortschrittliche Volkspartei.
Mit der Zäsur durch den ersten Weltkrieg und dem Untergang der Monarchie in Deutschland gab es neue Namensgebungen frei nach dem Motto „ alter Wein in neuen Schläuchen“. Deutsche Demokratische Partei (DDP) und die rechte Deutsche Volkspartei (DVP) mit der Führungsperson Stresemann. Nach seinem Tod im Jahr 1929 rückte die DVP stark nach rechts und war sich mir der NSDAP einig in der Bildung eines autoritären Systems.
Die Katastrophe des zweiten Weltkriegs förderte bei den Liberalen linker und rechter Prägung die Einsicht, alle liberalen Kräfte dauerhaft in einer Partei zu bündeln. Organisatorisch gelang dies weitgehend.Wie im wirklichen Leben hat das Herz der FDP zwei Kammern. Alte Nazis, Weltkriegsoffiziere und rechte Wirtschaftsliberale bestimmten bis Anfang der sechziger Jahre Kurs und Nähe zur Union. Linke Liberale waren eher regional auf den Süden Deutschlands landespolitisch beschränkt.Symbolhaft für den Parteikurs stand Erich Mende, ehemaliger Offizier und Ritterkreuzträger mit dem Spitznamen „der schöne Erich“. Er war auch 1961 nach der Bundestagswahl wohl der Hauptverantwortliche für den „Umfall“ der Partei bei einer erneuten Regierungsbildung mit der Union. Vollmundig war vor der Wahl verkündet worden, eine Regierungsbildung mit der Union sei nur ohne Adenauer möglich. Dies bescherte der FDP einen zweistelligen Wahlerfolg. Nach der Wahl wurde das Versprechen rasch kassiert. Damit war die Umfallerpartei geboren, was der FDP über Jahrzehnte anhing.
Diese Erfahrung wirkte sich in der Folge langsam zu personellen Veränderungen in der Parteispitze aus. Walter Scheel versuchte die FDP zu öffnen. Gelungen ist dies mit der Bildung der ersten großen Koalition 1966 in Nordrhein-Westfalen. Weitere Annäherungen folgten auch nach der Festlegung von Willy Brandt, die von Herbert Wehner und führenden Vertretern der Union
angestrebte Wahlrechtsreform zu verhindern. Ein Mehrheitswahlrecht hätte unweigerlich das parlamentarische Ende der FDP auf Bundesebene bedeutet. Linke Liberale wie Karl-Hermann Flach und Werner Maihofer und zunächst auch Genscher unterstützten und förderten den neuen Kurs der FDP. Rechtsstaatlichkeit, Bildungsreformen und die von Brandt formulierte neue und an der politischen Realität orientierte Ostpolitik waren das gemeinsame Band mit der SPD. Mit der Wahl des Sozialdemokraten Gustav Heinemann im Frühjahr1969 entschied die FDP sich endgültig für den Kurswechsel. In dem 1982 erschienen Buch „Machtwechsel“ hat der bekennende Westberliner Arnulf Baring, der zu Studienzwecken zeitweise im Bundespräsidialamt bei Walter Scheel gearbeitet hatte, diese Phase und die Entstehung der neuen Ostpolitik hervorragend und detailreich geschildert.
Der erkennbare Schwenk der FDP in Richtung sozialliberaler Zukunft führte bei der Bundestagswahl im Herbst 1969 zu herben Stimmverlusten. Mit 5,7 % der Stimmen gelang gerade noch der Sprung in den Bundestag und damit eine knappe Mehrheit für die neue Koalition. Gefestigt wurde das neue Bündnis auch programmatisch durch die Freiburger Thesen von 1971, gemeinsam formuliert und durchgesetzt von Karl-Hermann Flach und Werner Maihofer. Unter schwersten innerparteilichen Verwerfungen in der FDP gelang die Umsetzung der Ostpolitik mit der Sowjetunion, Polen und der DDR in Form von völkerrechtlichen Verträgen, die Jahrzehnte später zur Basis für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurden.
Nach dem gescheiterten Misstrauensantrag vom April 1972 und der Monate danach von der SPD spektakulär gewonnenen Bundestagswahl, die auch die FDP stärkte, geriet die sozial liberale Koalition nach den großen Anfangserfolgen auch in der Bildungspolitik langsam aber sichtbar außer Tritt. Nach der Aufdeckung des Spionage Falles Günter Guillaume im April 1974 trat Willy Brandt zurück und machte seinem Nachfolger Helmut Schmidt Platz. Wie der neue Kanzler zu visionären Reformen wie die Ostpolitik stand, macht ein berühmtes Zitat von ihm deutlich: „ Wer Visionen hat, muss zum Arzt gehen“. Die Ostpolitik stockte über Jahre und auch sonst wurde nur gut der Bestand verwaltet. In dieser Zeit ist die FDP mindestens in Teilen auf Distanz zur SPD gegangen. Die Kieler Thesen von 1977 waren die logische Konsequenz daraus und der Anfang vom Ende der Koalition. Das sogenannte Lambsdorff Papier zur Überwindung der Wachstumsschwäche und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit war der gewollte und entsc heidende Zündfunken für den Koalitionsbruch im September 1982.
Aus dem folgenden konstruktiven Misstrauensvotum ging Kohl, damals spöttisch „Birne“ genannt, mit Hilfe des neuen Bündnispartners FDP als Kanzler hervor. Für die FDP war der Koalitionswechsel ein kaum zu kalkulierendes Risiko, das sie nur überstand, weil Kohl die fälligen Neuwahlen manipulativ auf das Jahr 1983 verschob. Die Folgen waren aber trotzdem dramatisch und wirken bis in die heutige Zeit. Nahezu komplett wurde der sozialliberale Flügel personell durch Austritt oder politische Neutralisierung dezimiert. Damit war die politische Bindung an die Union für 40 Jahre festgeschrieben. Linke Liberale wie Verheugen und Ingrid Matthäus traten in die SPD ein. Andere siedelten sich bei den gerade in den Bundestag gekommenen Grünen an. Schließlich hatte die Partei der Grünen den gleichen bildungspolitischen Nährboden wie der frühe Liberalismus. Auch der SPD, in dieser Zeit inhaltlich wie personell noch der Idee der Arbeiterpartei verhaftet, tat der Zustrom junger liberaler und vorwiegend akademisch gebildeter junger Menschen durchaus gut.
Politischer Repräsentant aller Liberalen war die FDP nicht mehr. Seit dem bundespolitischen Scheitern bei den Wahlen 2013 wurde in den Führungskreisen über ein mögliches Ende der babylonischen Gefangenschaft beider Union nachgedacht. Entscheidendes Hindernis dafür war die nahezu ausschließlich wirtschaftsliberal orientierte eigene Wählerschaft und die entsprechend gebundene Parteibasis. Erst das Wahlergebnis vom Herbst 2021 hat der mehrheitlich für eine
Öffnung zur Sozialdemokratie geneigten Parteispitze den Wechsel ermöglicht.
Dramatische Einbrüche bei folgenden Landtagswahlen haben das Dilemma der FDP offen gelegt:
Es fehlt der Partei die linksliberale Wählerschaft und deren Vertretung an der Basis. Diese Wählerinnen und Wähler haben ihre politische Heimat inzwischen weitgehend bei den Grünen gefunden. Eine erneute Metamorphose scheint deshalb kaum möglich zu sein, zumal die Grünen einfach die wesentlich stärkere und attraktivere politische Kraft geworden sind. Ob die FDP dem politischen Nahtod nach dem Verlust des linken liberalen Flügels entkommen kann, ist längst noch nicht entschieden. Die Versuche der Parteiführung, sich durch Konfrontation mit den Grünen neue Wählerschichten zu erschließen und die alte rechtsliberale Stammwählerschaft zu mobilisieren, haben nach den Umfragen kaum wesentliche Erfolge. Ob sich in den Führungskreisen der FDP die Erkenntnis durchsetzen kann, dass eigentlich nur der Erfolg und das Erscheinungsbild der Regierung Wählerschaften Lager übergreifend überzeugen kann, steht in den Sternen. Den Status, Alleinvertreter des Liberalismus zu sein, hat die FDP vor 41 Jahren verloren. Sie wird ihn wohl auch nie wieder erringen können.