Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat den deutschen Bundeskanzler veranlasst, von einer „Zeitenwende“ zu sprechen. Dass Olaf Scholz diesen Begriff verwendet und vor allem die Tatsache, dass er damit breite Akzeptanz gefunden hat, hat einen Historiker wie mich etwas verwundert. Eigentlich kann eine Zeitenwende erst im Nachhinein als solche identifiziert werden, als das Ende einer alten und der Beginn einer neuen Ära, wenn die Konturen einer neuen Zeit erkennbar geworden sind. Es spricht einiges dafür, dass die Historiker das Diktum des Kanzlers im Nachhinein bestätigen, aber mir würde es reichen, wenn vom Ende einer politischen Phase oder von einer historischen Zäsur gesprochen wird. Auf jeden Fall markiert Putins Krieg in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt, politisch, ökonomisch, diplomatisch, menschlich oder wie auch immer, aber es wird noch vieler Betrachtungen und Analysen bedürfen, um angemessen bewerten zu können, welche historische Bedeutung dieser Wendepunkt im Nachhinein hatte.
Das Etikett der „Zeitenwende“ beinhaltet einen Hinweis auf die Geschichte, was im Fall des Ukrainekrieges bedeutet, dass die Ereignisse nicht zu verstehen sind ohne eine Kenntnis der Geschichte Russlands und der Ukraine. Dabei ist eine zusätzliche Besonderheit, dass Wladimir Putin ein eigenes Verständnis von dieser Geschichte hat, was für ihn sein Handeln rechtfertigt. Putins Krieg wird von künftigen Historikergenerationen also nicht nur politisch oder militärisch erforscht und bewertet werden müssen, sondern auch mit Blick auf die Geschichtsbilder der Akteure. Dazu muss aus meiner Sicht aber der zeitliche Abstand zum eigentlichen Geschehen größer sein als bisher. Wir werden mehr wissen müssen über die Abläufe und Ereignisse dort, wo der Ursprung der jüngsten Ereignisse liegt, nämlich im Kreml und bei Wladimir Putin und seiner Umgebung.
Wie komme ich zu diesen Überlegungen? Über die Verhältnisse in den innersten Zirkeln der Macht erfährt man meistens wenig, erst recht nicht im Fall von absoluten Herrschern, Königen, Kaisern oder Diktatoren. Aber dennoch erschließt die Wissenschaft später immer wieder Quellen, die ein Licht auf die Entourage eines Herrschers und damit auf ihn selbst werfen, was dann zu einem besseren Verständnis des historischen Geschehens beiträgt. Ein Beispiel sind die mittlerweile zahlreichen Darstellungen über Adolf Hitler und seine Umgebung, nicht nur auf dem Obersalzberg, aber besonders auch dort. Ein weiteres Beispiel aus der deutschen Geschichte ist die Person von Wilhelm II., der im Ersten Weltkrieg als Oberbefehlshaber der Streitkräfte den Krieg im militärischen Hauptquartier hinter der Front und nicht etwa aus Berlin begleitete. Darüber gibt es seit kurzem ein Buch, das aus der Feder eines Wissenschaftlers stammt, der seit 1996 am Militärhistorischen Forschungsamt in Potsdam gearbeitet hat und quasi als sein letztes großes Œuvre im Amt eine Darstellung über das „Große Hauptquartier“ im Ersten Weltkrieg und speziell die Rolle des deutschen Kaisers in diesem Hauptquartier vorgelegt hat:
Im „Großen Hauptquartier“, das mehrfach seinen Sitz wechselte und dem vorrückenden Frontverlauf im Westen folgte, waren die wichtigsten politischen und militärischen Entscheidungsträger versammelt, die für das Kriegsgeschehen auf deutscher Seite verantwortlich waren. Groß geht vor allem der Frage nach, wie für den Kriegsverlauf wichtige Entscheidungen überhaupt zu Stande kamen und welche Rolle dabei der Kaiser spielte. Wilhelm II. war als „Oberster Kriegsherr“ qua Verfassung der entscheidende Akteur, aber führte er wirklich oder wer hatte in der Realität die Fäden in der Hand? Groß kommt zu dem eindeutigen Ergebnis, dass Wilhelm II. nicht selbst führte, sondern von seiner Entourage in vielfältigster Weise geführt wurde. Dies wird belegt mit Hilfe einer Vielzahl von Quellen, die der Autor anhand von Aufzeichnungen, Briefen und Tagebüchern der zahlreichen Beteiligten ausgewertet hat.
Ebenso, wie Christopher Clarks „Schlafwandler“ über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs ein neues Verständnis der Ursachen und Abläufe dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) ermöglicht hat, so liefert auch das Buch von Gerhard Groß eine klarere und neue Sicht der Dinge. Beiden Büchern ist im Übrigen gemein, dass sie nicht bereits Vorhandenes rekapitulieren und zu einer neuen Darstellung zusammenfassen, sondern auf der Erschließung von umfangreichen und bisher so nicht zur Kenntnis genommenem Quellenmaterial basieren. Das ist für mich ein Charakteristikum für viele als groß zu qualifizierende Darstellungen. Und beide Werke sind in einer Sprache geschrieben, die sich gut lesen lässt und auch nicht in Fußnoten ertrinkt, die bis ins letzte die Wissenschaftlichkeit und Gelehrsamkeit des Autors beweisen wollen. Geschichte will gut erzählt sein, das ist eine weitere Voraussetzung für eine positive Rezeption und Bewertung.
Am Rande sei angemerkt, dass sich intensive Quellenstudien und langwierige Recherchen für ein solches Buch nur Forscher erlauben können, die dazu die institutionellen und damit verbundenen finanziellen Voraussetzungen haben. Ein Geschichtsprofessor in Cambridge, wie Clark, ist in diesem Sinne ebenso wie ein Wissenschaftler an einem historischen Forschungsinstitut, wie Groß, in einer sehr privilegierten Lage. Die personelle und finanzielle Ausstattung der hiesigen Universitäten und die in den letzten Jahren immer weiter gestiegenen Belastungen durch Lehre und Gremientätigkeiten liefern für mich denn auch Gründe, warum historische Institute und Lehrstühle an unseren wissenschaftlichen Hochschulen trotz der Möglichkeit von Forschungsfreisemestern für ihre Professoren nicht genug Raum und Zeit für derartige Leistungen haben. Die Förderung von Exzellenz in den Geisteswissenschaften ist nicht so sehr durch Geld, sondern vor allem durch verbesserte strukturelle Rahmenbedingungen zu bewerkstelligen. Aber das ist ein anderes Thema.
Das Buch von Gerhard Groß analysiert akribisch die Personen und Abläufe im „Großen Hauptquartier“, als dessen Zentrum Wilhelm II. fungierte. Über ihn weiß man seit langem, dass er in vielerlei Hinsicht nicht in der Lage war, die Funktion eines Oberkommandierenden kompetent auszufüllen. Groß zeichnet in seinem Werk detailliert nach, auf welche Weise der Kaiser im Hauptquartier in wichtige Entscheidungen eingebunden beziehungsweise mit Ihnen nicht befasst wurde, wer ihn begleitete und beriet, wer ihn von manchen Informationen und Entwicklungen fernhielt und wie er in vielerlei Hinsicht manipuliert wurde. Groß weiß anschaulich nachzuweisen, welche handelnden Personen nicht nur auf Seiten der Militärs, sondern auch im politischen und persönlichen Umfeld dabei eine besondere Rolle spielten.
Dabei entsteht vor den Augen des Lesers ein faszinierendes und gleichzeitig erschreckendes Bild einer höfischen Entourage, in der es sehr unterschiedliche Interessen gab, die miteinander konkurrierten. Es geht dem Autor wohlgemerkt nicht um die konkreten Kriegsgeschehnisse beziehungsweise den gesamten Kriegsverlauf. Er entwirft vielmehr ein „institutionelles Psychogramm“, wie es im Vorwort des Buches heißt, das die vorhandenen Darstellungen über die militärischen Entwicklungen im Ersten Weltkrieg um eine Facette bereichern will, die bisher nicht intensiv erforscht war. Darin liegt die inhaltliche Stärke des Buches. Nebenbei erfährt man vieles über den Alltag des Kaisers und seiner Gemahlin, was die Abgehobenheit der Herrscherfamilie von den realen Verhältnissen im Reich illustriert.
Bei der Lektüre mancher Passagen des Buchs drängen sich dem Leser Fragen auf, die sich gegenwärtig, zur Zeit des russischen Kriegs in der Ukraine, auch über die Entourage des Kremlherrschers Wladimir Putin stellen und über die in den Medien viel spekuliert wird. Auch in Moskau wird es die ganze Palette von politischen und militärischen Beratern, treuen Vasallen und eigenen beziehungsweise externen Interessen verpflichteter und in Schlüsselpositionen sitzender Höflinge geben, wie es sie beim deutschen Kaiser gab. Festzuhalten ist, dass die Spekulation, Putin erhalte nur gefilterte und ihn bestärkende positive Informationen, die an der Realität oft vorbei gehen, im Falle des deutschen Kaisers zu belegen ist. Um Wilhelm II. bei Laune zu halten und ihn positiv zu stimmen, wurde systematisch vermieden, ihn mit zu negativen Informationen über den Kriegsverlauf beziehungsweise die sich anbahnende Niederlage am Ende des Krieges zu informieren.
Es ist nichts Neues, dass im Endeffekt die Konzentration aller Entscheidungsgewalt auf nur eine Person, sei es Wilhelm II., Adolf Hitler oder Wladimir Putin, der Kern des Problems ist. Wenn jemand als oberster Befehlshaber Entscheidungen trifft, die auf mangelnder Kenntnis der tatsächlichen Lage, auf Wunschvorstellungen und geschönten Berichten über die militärische Entwicklung oder auch auf Selbstüberschätzung beruhen, darf man sich über das Ergebnis nicht wundern. Im Zweiten Weltkrieg führte die noch viel größere, uneingeschränkte Macht Adolf Hitlers, des „Größten Feldherrn aller Zeiten“, bekanntlich in ein noch größeres Desaster, dessen Dimensionen sich mit denen des Ersten Weltkriegs nicht vergleichen lassen. Vergleichbar ist aber die Rolle der jeweiligen Entourage und damit die Frage nach deren Verantwortung für das Geschehen. Die Untersuchung von Gerhard Groß steuert zu dieser Frage und zu den Intrigen und Ränkespielen im unmittelbaren Umfeld des Kaisers viele neue Erkenntnisse bei. Dabei widersteht er aber der Versuchung, durch Vergleiche etwa zu Hitlers Führerhauptquartier von seinem eigentlichen Thema abzulenken oder es zu relativieren. Seine Arbeit ist auf jeden Fall lesenswert und kann für mich schon jetzt als ein Standardwerk über die Rolle und Person des deutschen Kaisers im Ersten Weltkrieg bezeichnet werden.