Es wirkt wie ein letzter Akt der Verzweiflung, wenn der Herausforderer den Amtsinhaber wenige Tage vor der Stichwahl zur türkischen Präsidentschaftswahl verklagt. Dennoch tut Kemal Kılıçdaroğlu gut daran, die unlauteren Methoden von Recep Tayyip Erdoğan vor Gericht zu bringen.
Das gefälschte Video, mit dem der durchtriebene Präsident seinen Gegner in die Nähe der Kurdischen Arbeiterpartei PKK rückt, steht als kleines Symbol für all die demokratiefeindlichen Manöver des Machthabers. Das darf der Oppositionsführer ihm nicht durchgehen lassen.
Weitaus bedenklicher ist der Last-Minute-Aktionismus, mit dem Kılıçdaroğlu die nationalistische Karte spielt. Der Kandidat, der das Kunststück vollbracht hatte, die türkische Opposition hinter sich zu einen und den Präsidenten erstmals in eine Stichwahl zu zwingen, kopiert damit das gemeinsame Feindbild. Die Popularität des Präsidenten gründet neben der fanatisch religiösen Komponente auf einem nationalistischen Gepräge, das mit der laizistischen Tradition von Kemal Atatürk bricht, Minderheiten ausgrenzt, politische Gegner kaltstellt, Intellektuelle verfolgt und großtürkische Visionen als weiße Salbe über sein Versagen tüncht.
Wirtschaftsmisere und Prestigebauten, Inflation und Verelendung, das verheerende Erdbeben und die Korruption waren die zentralen Angriffspunkte der Opposition, die mit dem als bedacht und versöhnlich geltenden CHP-Chef Kılıçdaroğlu einen Machtwechsel greifbar erscheinen ließ. Doch schon in der Parlamentswahl behauptete sich Erdoğans AKP unerwartet stark, und sein Vorsprung in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl wurde – trotz vielfacher Hinweise auf Wahlmanipulationen – offiziell bestätigt.
Rein rechnerisch stehen die Chancen auf einen Machtwechsel schlecht. Der Vorsprung von fast fünf Prozentpunkten gilt als kaum aufholbar, nachdem der im ersten Wahlgang drittplatzierte Ultranationalist Oğan seinen Anhängern die Wahl des Amtsinhabers empfohlen hat. Die im europäischen Ausland lebenden Wahlberechtigten haben ihre Stimme bereits abgegeben. 1,5 Millionen sind es in Deutschland, etwa jeder zweite nutzte sein Wahlrecht in der ersten Runde, zwei Drittel der Stimmen entfielen auf Erdoğan.
Ähnlich deutlich fielen die Ergebnisse in Frankreich und den Niederlanden aus, was Landsleute in der Türkei spotten ließ, je weiter weg der Präsident von den Wählern sei, desto beliebter werde er. Sein internationales Auftreten, mit dem er sich gern als einflussreicher Staatenlenker inszeniert, kommt offenbar gut an.
Er vermittelt das Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine, macht lukrative Geschäfte mit der EU, schreckt nicht vor völkerrechtswidrigen Militäraktionen in den Kurdengebieten zurück, torpediert den Nato-Beitritt von Finnland und – bis heute – von Schweden, riskiert immer mal wieder eine gefährliche Zuspitzung im Konflikt mit Griechenland, wenn es ihm zur Imagepflege zupass kommt. Und er zeichnet ein islamfeindliches Bild vom Westen, das er über die Grenzen trägt und auch hier einen tiefen Keil in die türkischstämmige Gemeinschaft treibt.
Es gibt viele Gründe, Kılıçdaroğlu Erfolg zu wünschen, denn Erdoğan tut weder seinem Land, noch der internationalen Gemeinschaft gut. (Wobei spekulativ ist, wie anders die Geschichte verlaufen wäre, wenn die Europäische Union die Türkei aufgenommen und nicht mit einer „privilegierten Partnerschaft“ abgespeist hätte.) Doch mit seiner fremdenfeindlichen Attacke hat der sonst so besonnene Herausforderer Glaubwürdigkeit und Sympathie verspielt. Für den Zusammenhalt seines Bündnisses und eine befriedende Entwicklung der Türkei lässt das nichts Gutes erwarten.
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