Teile der Unionsparteien haben längst begonnen, sich auf die Zeit der Ampel einzustellen. Motto: Kein Jammern mehr, Tränen trocknen und Schluss mit den Kaspereien. Am besten ist, dass wir anfangen, die Ampel-Männer und-Frauen vor uns her zu treiben.
Gestern hatte der bayrische Gesundheitsminister Klaus Holetschek, zugleich Vorsitzender der Konferenz der Gesundheitsminister damit begonnen: „Wenn wir die Abrechnungsmodalitäten an die erste Stelle setzen, es aber niemanden gibt, der sich um die Menschen kümmert, haben wir ein riesiges Problem. Aktuell laufen wir sehenden Auges in eine humanitäre Katastrophe.“
Damit zielt Holetschek auch auf Konsequenzen der von der noch amtierenden Regierung und vom Bundestag beschlossenen Pflegereform. In der Pflege wird für kinderlose Mitglieder der Beitragssatz erneut leicht erhöht. Die Pflegekassen erhalten ab 2022 eine Milliarde € aus der Staatskasse, damit, so die Erwartung, die Pflegebetriebe ab Herbst 2022 Tarif-Entgelte zahlen. Die Pflegekassen sollen ab Mitte 2022 nicht tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen Zuschüsse zahlen. Dieser Teil der Pflegereform, von Arbeitsminister Hubertus Heil vorangetrieben, sagt klar, dass ab September 2022 Tarifgehälter in den Einrichtungen der Altenpflege gezahlt werden müssen. Tun sie das nicht, erhalten sie keine Verträge mehr mit den Pflegekassen. Für solche Betriebe fiele die Grundlage für die Pflege in der sozialen Pflegeversicherung weg. Gegenwärtig werden rund 50 Prozent der Altenpflegerinnen und Altenpfleger nach Tarif oder nach tarifähnlichen Bedingungen (Caritas und Diakonie) bezahlt.
Holetschek weiß genau, dass die Bindung an Tarife mit einem enormen Aufwand innerhalb kurzer Zeit während Verhandlungen mit den Vertretungen der Pflegeunternehmen, der Pflegekassen, den Sozialämtern und den Ländern kaum möglich ist. Daher der Hinweis auf „Abrechnungsmodalitäten“. Die bisher nicht tarifgebundenen Pflegebetriebe bezweifeln, dass eine Milliarde ausreicht, um überall Tariflöhne und Tarifgehälter zu refinanzieren. Außerdem bezweifeln sie, ob der Gesetzgeber Tariflöhne flächendeckend verordnen darf, wenn es faktisch keinen fordernden Tarifkontrahenten gibt. Der Organisationsgrad in den Pflegebetrieben liegt unter zehn Prozent.
Ein anderer, der den Problembereich Pflege aufgriff, war Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Er erklärte kürzlich auf dem deutschen Pflegetag, er könne bei 4000 € Einstiegs-Entlohnung in der Altenpflege „mitgehen“. Was er damit sagen will: Wer aus der Ausbildung kommend als Fachkraft in der Altenpflege arbeitet, sollte mit 4000 € im Monat beginnen.
Wie diese 4000 € aufbringen wären, erklärt Spahn nicht. Das bleibt sein Geheimnis. So holt er sich noch mal Beifall kurz vor dem Ende seiner 4-jährigen Dienstfahrt als Bundesminister ab.
Zurzeit liegen die Einstiegsgehälter in der Altenpflege zwischen 2600 und 3200 € im Monat. Das sind 600 € Unterschied je nach Einrichtung, Arbeitgeber, Beschäftigung in Stadt, Großstadt oder auf dem Land: die Differenz zu Spahns Einstieg beträgt bis zu 1400 €. Bezahlt wird die Altenpflege über Zuschüsse der Pflegekassen in fünf Stufen, durch die Sozialämter, die diese Zuschüsse je nach Fall ergänzen, durch Eigenanteile der Pflegebedürftigen, weitere ergänzende Hilfen in einigen Bundesländern. Die Eigenanteile der Pflegebedürftigen will Spahn zudem verringern. Pflegeanbieter und Pflegekassen sehen eine Lücke von rund drei Milliarden € in Spahns Gesetz. Die müssten von den Pflegebetrieben aus ihren Zuschüssen und Zuweisungen aufgebracht werden.
Rund 1,4 Millionen Frauen und Männer arbeiteten 2019 in der Pflege einschließlich der Betreuung. Rund 600 000 arbeiten in Pflegeheimen, 360 000 für ambulante Pflegedienste und knapp 500 000 als Pflegekräfte in den Krankenhäusern. Pflege ist der größte deutsche „Arbeitgeber“. Dabei sind die Millionen betreuenden Familienangehörigen nicht mitgerechnet.
Spahn hatte sich bis vor wenigen Monaten gegen eine Tarif-Pflicht in der Altenpflege mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gewehrt. Ganz offenkundig hängt die Hinwendung zu den 4000 € je Monat mit dem Verlust seiner Regelungskompetenz als Bundesgesundheitsminister zusammen, also mit ordinärem Opportunismus. Das erklärt auch, warum der Pflegebeauftragte der Bundesregierung mit Büro im Bundesgesundheitsministerium, Andreas Westerfellhaus, auf die Frage des ZDF nach der Spahn-Bemerkung mit den 4000 € Einstiegsentgelt nur vorsichtig sagte: „Faire Gehälter gehören sicherlich dazu.“ Gute Pflege gebe es heute oft deswegen nicht, weil die Pflegekräfte fehlten. „Da drehen wir uns natürlich ein bisschen im Kreis“, räumte Westerfellhaus ein.
Im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP steht zur Pflege: „Wir wollen eine Offensive für mehr Pflegepersonal.
Hochwertige Pflege gibt es nur mit gut ausgebildeten Pflegekräften, guten Arbeitsbedingungen und angemessenen Löhnen in der Pflege. Wir wollen mehr qualifizierte ausländische Pflegekräfte gewinnen und die nötigen Voraussetzungen dafür schaffen.“ Ohne zusätzliche Mittel aus Beiträgen und Staatskasse wird das nicht zu machen sein.
Bildquelle: Wikipedia, by Deutsch: K.u.k. Kriegspressequartier, Lichtbildstelle – Wien, Public domain