Der Skandal der letzten Tage ist die Forderung der zwei führenden rechtsextremen Frauen, an den Grenzen auf Flüchtlinge – auch Frauen und Kinder – schießen zu lassen. Armes Deutschland, wenn derart obszönes politisches Gewäsch der Gewaltpredigerin noch mehr Wähler zu triebe (Wählerinnen entscheiden sich ja noch selten für die Rechte). Aber selbst ein solcher Exzess würde – wie alle Abschottungsmaßnahmen – auf die Dauer fliehende Menschen aus Not- und Krisengebieten nicht aufhalten.
Unsere Regelungen reichen bei sehr geringer Migration, einen geordneten Prozess zu gewährleisten; bei der aktuellen großen Zahl müssen sie versagen. Aber sind wir bereits so hilf- und ratlos, dass wir auf Flüchtlinge schießen, sie einfach töten wollen?
Ein Rückblick
In diesen Wochen erinnert die öffentliche Aufregung stark an die Jahre1992/93, in denen das deutsche Asylrecht per Verfassungsänderung von CDU/CSU, FDP und SPD stark eingeschränkt wurde. Dies geschah vor dem Hintergrund dass 74% der Deutschen eine Grundgesetzänderung befürworteten, wenn sie weniger „Asylanten“ bewirken würde. Die Argumente waren vor 24 Jahren auf allen Seiten nahezu dieselben wie heute. Es gab brutale, fremdenfeindliche Gewalt. Es gab Anschläge auf Unterkünfte und sogar auf private Wohnungen in Solingen und in Mölln, wo eine türkischstämmige Großmutter und zwei ihrer Enkeltöchter durch einen Brandanschlag ermordet wurden. Die fremdenfeindliche Partei, die bei Landtags- und Europawahlen profitierte hieß noch „Republikaner“. Damals wurden auch keine1000 betrunkene(!) muslimische(!), übergriffige Männer in vielen Städten zu Silvester benötigt, um zu begründen, dass „die Stimmung kippt“ – die Angst vor „Ausländerkriminalität“ entstand noch ganz ohne solche Anlässe und war rasch allgegenwärtig. Wenn Straftäter ausländischer Herkunft waren, erfuhr man es sofort.
Der Fortschritt besteht offenbar darin, dass damals schon deutlich kleinere Zuwanderungszahlen als heute zum Auslösen fremdenfeindlicher Hysterie ausgereicht haben; EU-weit gab es damals nur 700.000 Asylanträge. Die Hauptherkunftsländer waren die sich im jugoslawischen Bürgerkrieg herausbildenden neu-alten Balkanstaaten. Manche dieser „Jugoslawen“ zahlen heute etwa im Schengenstaat Slowenien mit Euro, andere Balkanstaaten werden absehbar EU-Mitglied werden und die Menschen die entsprechende volle Freizügigkeit genießen. So schnell kann es gehen!
Damals kamen zu den Kriegsflüchtlingen noch viele von der Bundesregierung aufwändig angeworbene sogenannte Russlanddeutsche hinzu, die sich aktuell als fremdenfeindliche Demonstranten hervortun. Auch das kann schnell gehen. Insgesamt scheinen die Hürden vor der Ausbreitung der „Das-Boot-ist-voll-Ideologie“ also in den letzten 25 Jahren qualitativ und quantitativ höher geworden zu sein. Das ist gut. Unüberwindbar sind aber nicht. So, wie heute der fragwürdige Begriff „Flüchtlingsströme“ (oder gar „Flut“- leider auch hier im blog) grassiert, war damals die Rede vom „Asylantenstrom“ – ob der dann wegen der Grundgesetzänderung „versiegte“ oder weil in Regionen Ex-Jugoslawien die Kampfhandlungen nachließen oder gar aufzuhören schienen, wird sich kaum unterscheiden lassen.
Das anscheinend Geniale an der damaligen Grundgesetzänderung war sicherlich die Erfindung der „sicheren Drittstaaten“, die die Bundesregierung sogar via Dublin-Übereinkommen ab 1997 als Europarecht durchsetzen konnte. Damit war es rechtlich so gut wie ausgeschlossen, dass Asylbewerber überhaupt bis Deutschland vordringen konnten. Denn Deutschland ist umgeben von lauter sicheren Drittstaaten und lässt die mit dem Aufwand und dem Ärger konsequent allein, die mit der Durchführung von Asylverfahren verbunden sind. Denn dazu verpflichtet „Dublin“ die „sicheren Drittstaaten“. Schwer zu sagen, was das mit europäischer Arbeitsteilung und Solidarität zu tun hat, aber offenbar haben die übrigen EU-Staaten dem ja einschließlich der Überarbeitungen insgesamt drei Mal zugestimmt.
Dieses Dublin-“System“ ist nun an der Realität der großen Zahl der Anreisenden gescheitert. Das ist der zweite nennenswerte Unterschied zu der Zeit nach dem Asylkompromiss von 1993. In den 90er Jahren sank die öffentliche Präsenz der Xenophobie; sie galt zwischenzeitlich fälschlicherweise als ostdeutsche, zuletzt sogar bloß noch Dresdner Besonderheit. Politisch Verantwortliche konnten sich gelassen zurücklehnen: das Thema war an den Rand gedrängt worden – und es konnten ja eigentlich auch kaum noch Fremde ankommen, es sei denn, sie hätten ein Flugticket und eine Airline hätte sie ohne Visum auf einem deutschen Flugplatz mitgenommen oder sie wären – ohne Berührung etwa dänischer Gewässer – über Nord- und Ostsee ankommen. 1998 hatte das beim Asylkompromiss gegründete BAMF dennoch 98.000 Asylanträge zu bearbeiten – eine über das ganze Jahr verteilt eher komfortable Aufgabe. Dementsprechend schien die Aufnahme- und Integrationsinfrastruktur überflüssig und muss heute improvisierend von den Kommunen wieder aufgebaut werden. Genau das ist im Rückblick jedenfalls so vollkommen unverständlich, wie nur kaum ein anderes Beispiel von Politikversagen.
Selten war eine Entwicklung besser vorhersehbar als die massenhafte Flucht nach Norden. Wie oft und wie lange sind die hohen Zäune um die spanischen Exklaven in Nordafrika von Flüchtlingen belagert worden? Wie genau waren die Absprachen mit Lybiens Gaddafi, der EU „Wirtschaftsflüchtlinge“ vom Halse zu halten? Wie überraschend war der pseudoreligiös motivierte Überfall von Gaddafisöldnern auf Mali, nachdem „der“ Westen Lybien bombardiert hatte? Wie lange schon ist in Zentralafrika, in Somalia, im Sudan keine friedliche Stabilität mehr zu erreichen? Wie lange wird es dauern, bis Nigeria unter dem Terror zusammenbricht, wie weit ist die „Infizierung“ Kenias mit dem Terror schon fortgeschritten? Seit wie vielen Jahren sind die Folgen des Klimawandels und der Desertifikation schon offensichtlich? Seit 1994 zerstören westliche
Mächte mit militärischen wie zivilen Mitteln systematisch die Stabilität im Nahen Osten – und zwar im Zusammenwirken mit Mächten, das jegliches Moralisieren verbietet.
Lampedusa scheint schon vergessen, wo etwa 2005 bereits 20.000 Flüchtlinge angelandet waren, auf einem Seeweg, auf dem auch vor der Katastrophe von 2013, als über 300 Menschen ertranken, schätzungsweise 6000 Menschen umgekommen waren. 2009 gab es einen Ausbruch aus dem Flüchtlingslager dort, mit dem Ziel gegen die unmenschlichen Zustände in einem umzäunten Ort zu protestieren, an dem sich 1000 Menschen mehr aufhalten mussten, als Plätze vorhanden waren. So gut wie ungehört verhallten die Rufe der italienischen Regierung nach Hilfen der anderen EUStaaten stattdessen verwies ausgerechnet Deutschland die Italiener auf ihre Dublin-Pflichten. Alles schon vergessen?
Selbst dem unbedarftesten Politlaien konnte seit Jahren klar sein, dass es zu massenhaften Wanderungsbewegungen kommen wird, Flucht vor Krieg und Elend, wie wir sie seit tausenden (!) von Jahren aus dem Alten Testament, kennen. Die europäischen sogenannten Völkerwanderungen, die Auswanderung von Millionen Deutscher nach Süd- und Nordamerika (die zwangsrekrutierten und verkauften Soldaten in den nordamerikanischen Bürgerkrieg und die Nazis, die nach 1945 aus Angst vor Strafe nach Lateinamerika flohen nicht mitgerechnet!) – immer handelte es sich sowohl um die Hoffnung auf ein besseres Leben als auch Flucht vor Krieg. Die Iren, die angesichts einer katastrophalen Hungersnot nach USA flohen – sie hätten nach unserem Verständnis von „Wirtschaftsflüchtlingen“ wohl zurück geschickt werden müssen.
Während der Flüchtlingsbeauftragte der heutigen Bundesregierung sehr viel Öffentlichkeitsarbeit macht und aktuell auch „die Voraussetzungen schaffen“ will, Bürgerkriegsflüchtlinge zurück zu schicken, falls sie straffällig würden, aber nicht zuletzt das Geld für Integrationsmaßnahmen fehlt, kann die Bundesregierung über Nacht mehrere Milliarden aufbringen, die zusätzlich für die Bundeswehr ausgegeben werden sollen. Ob das hilft? Moderne Auslandseinsätze – siehe etwa Afghanistan – haben sich bislang recht selten als „Bekämpfung von Fluchtursachen“ bewährt. Immerhin: Würden wir angesichts der Ratlosigkeit die UN-Maßeinheit zur Aufwendung von 0,7% des Bruttoinlandsproduktes für Entwicklungshilfe erreichen, wäre das zwar erfreulich, aber längst noch keine wirksame Bekämpfung von Fluchtursachen. Sehr viel eher könnte eine radikale Kehrtwende der europäischen Agrarpolitik helfen, die billigste Exporte in landwirtschaftlich geprägte, arme Länder abstellt, wo sie die ökonomischen Existenzgrundlagen vernichten. Mit der finanziellen Unterstützung der Nachbarländer Syriens ist die Bundesregierung auf einem richtigen Weg. Das sind sehr kleine Länder, Jordanien, Libanon, die im Vergleich zu 80 Millionen Deutschen, denen schon vor einer Million Flüchtlingen zu grausen beginnt, unglaubliche humanitäre Leistungen erbringen!
Ein Mittel allerdings, dass sofort und unmittelbar die Fluchtursachen abstellt, ist nicht in Sicht. Daraus folgt eine ganz andere Aufgabe, nämlich hier die Integrationsbedingungen für eine große Zahl von Zuwanderern zu gestalten und auszubauen. Das dazu auch eine konsequente Strafverfolgung gehört, ist selbstverständlich. Leider ist aber noch kaum einer der Täter überführt
und niemand verurteilt, die derzeit im Durchschnitt täglich drei Anschläge auf Flüchtlingseinrichtungen verüben. Vielleicht wäre eine längere Verjährungsfrist für solche Taten angesichts der Personalnot bei Polizei und Justiz ein erstes Signal, wie es ein konsequentes polizeiliches Vorgehen vor und in großen Bahnhöfen gegen Diebe „mit Migrationshintergrund“ auch wäre.
Damals, als die Mehrheit für den Asylkompromiss geschmiedet wurde, war ein wichtiges Argument, dass die Kommunen die Infrastruktur für die Asylbewerber weder finanziell noch logistisch stemmen könnten. Das ist nachvollziehbar und heute nicht anders. Die Lösung dieses unabweisbaren Problems dürfte auch bei den Regeln zu suchen sein, die den längeren Aufenthalt in
Flüchtlingseinrichtungen verursachen. Deutsche Ausländerämter haben keine Hemmungen, junge, ausgebildete, gut integrierte, hier aufgewachsene Menschen abzuschieben. Vor diesem Hintergrund wäre die Abschiebung eines abgelehnten Asylbewerbers am Ende eines rechtsstaatlichen Verfahrens durchaus vertretbar, wenn der in der Zwischenzeit einer Erwerbsarbeit nachgehen oder sonstige sinnvoll erscheinende Tätigkeiten ausüben könnte.
Ein Blick in die Geschichte
Jeder Vergleich hinkt, aber als Wegweiser einer aussichtsreichen Integrationspolitik könnten alte Erfahrungen dienen. Nach dem Ende des 30jährigen Friedens im 17. Jahrhundert brauchten die Länder „Untertanen“. So verfügte Karl-Ludwig von der Pfalz, dass seine Staatsdiener die „Sonderbarkeiten“ der (verbotenen) Mennoniten nicht weiter erforschen sollten, weil „Menschen und Untertanen“ zum Wiederaufbau des „erödeten Landes“ dringend gebraucht würden. Das war die Erfindung der Toleranz aus eigennützigem Motiv – eine List der Vernunft.
Im rheinischen Neuwied durften unter einem calvinistischen Herrscher Katholiken und Lutheraner zwar ihre Religion nicht öffentlich ausüben, alles andere stand ihnen offen, selbst Wege bis in die Spitzen der Verwaltung. Sie sollten sich nicht „excludieret“ fühlen. Auch dies geschah, weil dringend tätige Menschen benötigt wurden. Brandenburg siedelte gezielt Holländer und französische Hugenotten an – mit Fördermitteln wie anfänglicher Steuerfreiheit.
Heute muss angesichts großer Wanderungsbewegungen niemand angeworben werden, aber die Ansiedlung und Verteilung derer, die bleiben dürfen und sollen, könnte mit preußischem „Zuckerbrot“ eher gelingen als mit der verfassungswidrigen „Peitsche“ der Verweigerung der Freizügigkeit. Friedrich „der Große“ versprach muslimischen Tataren Moscheen und muslimischen Religionsunterricht, damit sie sich in Ostpreußen niederließen – und hielt diese Versprechen, unter anderem indem er einen Imam aus der Staatskasse bezahlte. Das 19. Jahrhundert ist dann nach den napoleonischen Feldzügen und dem Wiener Kongress wieder ein Migrationszeitalter. Im Deutschen Bund entschied man sich, die Wanderung zu steuern und zu kontrollieren und zwischen legalem und illegalem Aufenthalt zu unterscheiden, das Kaiserreich setzte diese Politik fort – mit einem eindeutigen Resultat: die Illegalisierung der Migration kann Migration nicht abschaffen, sondern schafft nur sich illegal aufhaltende Menschen. In der „christlich-abendländischen“Kultur, die darauf beruht, jeden Menschen zu respektieren und seine Würde nicht zu verletzen, kann aber als moralischer Imperativ nur gelten: Kein Mensch ist illegal!
Wir müssen über den Tag hinaus diskutieren, ob die Globalisierung der Waren- und Finanzmärkte in letzter Konsequenz auch eine globale Freizügigkeit nach sich ziehen muss. Europa wird sich nicht abschotten können gegen Menschen, die dem Elend in ihrer Heimat entfliehen. Europa wird darüber nachdenken müssen, ob es die Zuwanderung steuern und wie es die Integration der neuen Europäer gestalten kann. Abschottung kann – nach allem, was vorhersehbar ist – allenfalls zeit gewinnen, nicht aber, das Problem lösen.
(Die historischen Beispiele entstammen dem aktuellen Booklet „ZEIT-Geschichte – Die neuen Deutschen“)
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