Bundeskanzler Olaf Scholz wird heute mit der Formel „Frieden ohne Gerechtigkeit nennt man
Diktat“ aus seiner Rede vor den Vereinten Nationen zitiert. Das ist, bei allem Respekt, schlicht
Unsinn. Den Beweis liefert schon ein Blick auf die Bundesrepublik Deutschland. Hier herrscht
zweifelsfrei seit 77 Jahren Frieden; Westdeutschland ist ebenso lange keine Diktatur und die heutige
Bundesrepublik ist es insgesamt seit 33 Jahren nicht. In Ost wie West wird niemandem etwas
diktiert und die große Mehrheit ist sich darin einig, dass Verschwörungsglaübige, Covid-Leugner,
Impfgegner, und AFDler, die das Gegenteil behaupten, einen an der Waffel haben.
Gerechtigkeit, die gibt es allerdings in Deutschland nicht. Die Bundesrepublik begann mit vielerlei
Ungerechtigkeit; ich nenne nur die in aller Regel ungebremste Karriereentwicklung von Nazi-
Tätern. Niemand hat der Währungsreform nachgesagt, sie habe der Gerechtigkeit gedient und so hat
uns eine Vermögensungleichheit alle Jahre begleitet, die seit der Entfesselung der Finanzmärkte
ungeahnte Größenordnungen erreicht. Viele Vermögende sind Erben, sind also praktisch ohne
eigenes Zutun zu Reichtum gelangt. Die ungleichen Chancen zwischen Frauen und Männern,
zwischen weißen und farbigen Menschen, solchen, die in Ostdeutschland leben und solchen im
Weste, Kindern aus reicheren und gebildeten Familien und solchen aus armen und bildungsfernen
werden fast täglich und völlig zu Recht beklagt, aber ändern tut sich daran wenig bis nichts. Ob
übrigens der Gleichstellungsfortschritt, den sich die Frauen erkämpft haben oder die, die zu
LBGTQI gehören, ohne Frieden möglich gewesen wären, ist mehr als nur zweifelhaft.
Die Interpretationsfähigkeit des Gerechtigkeitsbegriffs ist legendär. Die größten Geister der
Menschheitsgeschichte haben sich darüber den Kopf zerbrochen. Ohne einvernehmliches Ergebnis.
Allein in der von Olaf Scholz geführten Bundesregierung gibt es mehrere sehr unterschiedliche
Vorstellungen von Gerechtigkeit. Zur Illustration sei nur an den kürzlichen regierungsinternen Streit
über die Kindergrundsicherung erinnert, bei dem diese Unterschiede wirksam waren. Wenn
Christdemokraten ihre Sorge um Gerechtigkeit als Hauptmotiv ihres Parteibeitritts nennen,
schütteln Sozialdemokraten verständnislos den Kopf: für sie gibt es zwischen Gerechtigkeit und
CDU-Politik keinen erkennbaren Zusammenhang.
Schließlich: wie viele Kriege wurden geführt unter dem propagandistischen Deckmantel,
Gerechtigkeit herstellen zu wollen oder gar weil Ungleichheiten als so unerträglich empfunden
wurden, dass Gewalt und Krieg als letzter Ausweg erschien?
Es spricht also viel dafür, dass der friedenspolitische Pragmatiker Egon Bahr das richtig gesehen
hat: Frieden, hat er gesagt, habe mehr für die Gerechtigkeit geleistet, als die Gerechtigkeit für den
Frieden. Offenbar wird aber Egon Bahr in der heutigen Sozialdemokratie nicht mehr gelesen –
sicher von des Kanzlers Redenschreibern nicht.
Olaf Scholz hat vor der UNO-Vollversammlung auch Frieden ohne Freiheit als Scheinfrieden
bezeichnet und als Unterdrückung definiert. Zu dieser Aussage fällt Widerspruch wesentlich
schwerer. Unsere parlamentarische und den Grundrechten verpflichtete Demokratie ist ja tatsächlich
die einzige Staatsverfassung, die ein Höchstmaß möglicher individueller Freiheit zum Ziel hat. Kein
Demokrat wird auf Freiheit – auch nicht auf die der anderen Individuen – verzichten. Wer
unterscheidet, welchen Menschen mehr und welchen weniger Freiheit gebühre und die Demokratie
auf das bloße Mehrheitsprinzip reduziert, ist kein Demokrat. Es wird aber keineswegs überall auf
der Welt unter Freiheit unsere demokratische Priorität der individuellen Entfaltung verstanden.
Vielmehr wird gesehen, dass diese politische Priorität durch soziale, kulturelle und ökonomische
Bedingungen auch bei uns selbst vielfach gebrochen ist. Diese Bedingungen wurden von einem der
Vorreiter moderner Friedensforschung, Johan Galtung, „strukturelle Gewalt“ genannt. Das könnte
man weniger nüchtern auch mit Ungerechtigkeit übersetzen, gemeint sind eben die Bedingungen,
die Einzelne an der Entfaltung ihrer Möglichkeiten zu einem freien Leben hindern. Diese
strukturelle Gewalt gibt es aber auch in dem Land, dessen Kanzler Frieden ohne Freiheit nicht
akzeptieren will.
Trotzdem kann, so denke ich, der Gleichsetzung von Frieden und Freiheit mit entsprechender
definitorischer Trennschärfe zugestimmt werden. Politisch klug erscheint sie mir nicht. Denn sie
setzt – in der von Scholz gewählten Formulierung – andere gesellschaftliche Verfasstheit als unsere
eigene mit Unterdrückung gleich. Bei der weltweiten Suche nach Freunden und Koalitionen ist das
sicher hinderlich.
Andere werden später die Außenpolitik der Ampelregierung zu bilanzieren versuchen. An
überzeugende internationale Erfolge kann ich nicht glauben, solange Eliten anderer Staaten mit
Vorwürfen und Anschuldigungen bedacht werden. Manche haben solche Urteile sicher verdient.
Aber die Nachbarschaft mit einem Scheißkerl ist noch nie dadurch verbessert worden, dass man
ihm ständig sagt, dass er ein Scheißkerl ist. „Wertebasierte“ Außenpolitik scheint darauf aber nicht
verzichten zu können.
Am Rande bemerkt: ist es nicht paradox, dass wir einerseits innergesellschaftlich versuchen, für alle
möglichen menschlichen Eigenschaften und Unzulänglichkeiten, Begriffe zu finden, die von den
Betroffenen nicht als verletzend empfunden werden, international aber die Außenministerin einen
Präsidenten und mächtigen Vorsitzenden einer stabilen, undemokratischen Einparteienherrschaft
ungehemmt Diktator nennen darf?
Immerhin hat sie Prinz Salman nicht gesagt, dass er unter dringendem Mordverdacht steht. Die
hierzulande gerne als „offen“ oder gar „erfrischend“ bezeichneten wertebasierten Worte der
Außenministerin haben – ebenso wenig wie ihre gelegentliche Unterlassung an den jeweils
kritisierten Herrschaften etwas geändert.
Fazit: Im Unterschied zur Behauptung, Frieden sei keiner ohne Gerechtigkeit, ist die, Frieden sei
keiner ohne Freiheit, nicht falsch, aber als Anspruch an andere gehört sie nicht zum
Präzisionswerkzeug aus dem diplomatischen Handwerkskoffer. Der Kanzler kommt mir persönlich
dem eher missionarischen Verständnis der Außenministerin von der Wertebasis ihrer (und der
Ampel) Politik damit unnötig nahe.
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