Vor kurzem entdeckte ich, auf der Suche nach Lesestoff, in unserem Antiquariat Bücher-Oase in Wilhelmshaven einige kleine Bücher, die verstreute Texte Hesses über Politik, Bäume und Alter enthielten. Ich habe darin einen ganz neuen Hesse entdeckt.
In seinen Politischen Betrachtungen, die er im Laufe der Jahrzehnte angestellt hat, ist ihm seine zutiefst humanistische Weltanschauung stets Richtschnur seiner politischen Einschätzungen gewesen; vor allemderen oberstes Prinzip: Du sollst nicht töten!
Hesse möchte seine Stellungnahmen zur Politik keinesfalls als politisch im engeren Sinne verstanden wissen; schon gar nicht als parteipolitisch. Dazu schreibt er: Wenn ich meine Aufsätze ‚politisch’ nenne, so tue ich dies stets in Anführungszeichen, denn politisch an ihnen ist nichts als die Atmosphäre, in der sie jeweils entstanden. Im übrigen sind sie das Gegenteil von politisch, denn jeder dieser Betrachtungen sucht den Leser nicht vor das Welttheater und seine politischen Probleme zu führen, sondern in sein eigenes Inneres, vor sein ganz persönliches Gewissen. Hierin bin ich mit den Politikern aller Richtungen durchaus nicht einig und werde stets unbelehrbar bleiben, dass ich im Menschen, im einzelnen Menschen und seiner Seele Bezirke anerkenne, wohin politische Antriebe und Prägungen nicht reichen.
Im Unterschied auch zu vielen seiner Künstlerkollegen ist Hesse ein entschiedener Gegner des Chauvinismus, des überbordenden Nationalismus sowie der siegestrunkenen Kriegsbegeisterung im Vorfeld des Ersten Weltkrieges. Im September 1914 schreibt er:
Da sind uns in letzter Zeit betrübende Zeichen einer unheilvollen Verwirrung des Denkens aufgefallen. Wir hören von Aufhebung der deutschen Patente in Russland, von einem Boykott deutscher Musik in Frankreich, von einem ebensolchen Boykott gegen geistige Werke feindlicher Völker in Deutschland. Es sollen in sehr vielen deutschen Blättern künftig Werke von Engländern, Franzosen, Russen, Japanern nicht mehr übersetzt, nicht mehr anerkannt, nicht mehr kritisiert werden…
Alle diese Äußerungen vom frech erfundenen ‚Gerücht’ bis zum Hetzartikel, vom Boykott ‚feindlicher’ Kunst bis zum Schmähwort gegen ganze Völker, beruhen auf einem Mangel des Denkens, auf einer geistigen Bequemlichkeit.
Hesse wurde wegen seiner konsequenten Antikriegshaltung von vielen Seiten angegriffen. Ebenso gradlinig ist seine Haltung gegenüber dem grassierenden Antisemitismus. Bereits 1922 (!!) wendet er sich gegen die blödsinnige, pathologische Judenfresserei der Hakenkreuzbarden. Es gab früher einen Antisemitismus, er war bieder und dumm, wie solche Antibewegungen eben zu sein pflegen. Heute gibt es eine Art von Judenfresserei unter der deutschen, übel missleiteten Jugend, welche sehr viel schadet, weil sie diese Jugend hindert, die Welt zu sehen wie sie ist, und weil sie den Hang, für alle Missstände einen Teufel zu finden, der dran schuld sein muss, verhängnisvoll unterstützt.
Dass Hesse den unheilvollen Charakter des heraufziehenden Nationalsozialismus bereits früh erkennt, ist vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit dem Ersten Weltkrieg und seiner überzeugten Abneigung gegen den Antisemitismus nicht verwunderlich. Interessant sind jedoch seine Äußerungen zum Sozialismus. 1930 schreibt er an seinen Sohn:
Ich selber bin, aus guten Gründen, weder ‚bürgerlich’ noch Sozialist, obgleich ich, rein politisch betrachtet, den Sozialismus für die einzige anständige Gesinnung halte. Dass ich trotzdem nicht Sozialist geworden bin, das kommt davon her, dass die geistigen Grundlagen des Sozialismus (das heißt die Lehren von Marx) keineswegs ganz rein und einwandfrei sind, und zweitens kommt es daher, dass die Sozialdemokraten in der ganzen Welt ihren besten Grundsätzen längst untreu geworden sind. Vor allem haben mich die deutschen Sozialisten enttäuscht, als sie begeistert mit in das Kriegsgeheul anno 1914 einstimmten, und als sie nachher, im Jahr 18, die Revolution verrieten.
Gleichwohl fährt er im selben Brief etwas später fort: Es wäre besser, Du würdest den Versuch machen, diesen Feind, die kapitalistische Gesellschaftsordnung, wirklich kennen zu lernen, also die sozialistische Lehre Dir durch wirkliches Studium zu eigen machen. Dort führt der Weg weiter. Und obwohl Hesse insbesondere die Marxsche Formel von der Diktatur des Proletariats entschieden ablehnt, fährt er in dem Brief fort: Beim heutigen Stand der Dinge ist eben doch der Sozialismus die einzige Lehre, die an den Grundlagen unsrer falschen Gesellschaft und Lebensweise wenigstens ernstlich Kritik übt.
Eine der Hauptursachen für den Siegeszug der Nazis sieht Hesse in der Leugnung der Mitschuld am Ersten Weltkrieg. 1932 schreibt er:
Deutschland hat es vollkommen versäumt, seine ungeheure Mitschuld am Weltkrieg und an der heutigen Lage Europas einzusehen, sich dazu zu bekennen (ohne darum zu leugnen, dass auch die ‚Feinde’ schwere Schuld haben), und eine moralische Reinigung und Gewissenserneuerung an sich vorzunehmen. Deutschland hat den harten und ungerechten Friedensvertrag dazu benützt, sich vor der Welt und vor sich selber um jede Schuld herumzulügen. Statt einzusehen, wo seine Fehler und Sünden liegen, und sie zu bessern, schwadroniert es genau wie Anno 1914 von der unverdienten Paria-Stellung, die es einnehme, wirft die Schuld an allem Übel anderen vor, bald den Franzosen, bald den Kommunisten, bald den Juden.
Hesse, der es stets ablehnte, sich für politische Zwecke einspannen zu lassen, Aufrufe zu unterschreiben und dergleichen, verweist darauf, dass er vor allem in seinem Werk Stellung bezogen hat.
Wer sich mit dem Ganzen meiner Lebensarbeit befasst, der wird bald merken, dass auch in den Jahren, aus denen keine aktuellen Aufsätze vorhanden sind, der Gedanke an die unter unsern Füßen glimmende Hölle, das Gefühl der Bedrohtheit durch nahe Katastrophen und Kriege mich nie verlassen hat. Vom Steppenwolf, der unter andrem ein angstvoller Warnruf vor dem morgigen Krieg war, und der entsprechend geschulmeistert oder belächelt wurde, bis in die scheinbar so zeit- und wirklichkeitsferne Bilderwelt des Glasperlenspiels hinein wird der Leser immer wieder darauf stoßen, und auch in den Gedichten ist dieser Ton immer wieder und wieder zu hören.
Es ist also durchaus ertragreich, die Werke Hesses von Zeit zu Zeit einmal wieder in die Hand zu nehmen. Hesse würde vielleicht auch heute, wo der Zeitgeist wieder schlimme Blüten treibt, belächelt und als naiv gebrandmarkt werden. Aber immerhin hat er gegenüber den Vielen, die glaubten, die Zeichen der Zeit erkannt zu haben, recht behalten; vor allem aufgrund seines untrüglichen Sinns für die menschlichen Dinge, gespeist aus einem durch und durch humanistischem Denken.
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Bäume sind für Hesse nicht nur Gegenstände der Kontemplation oder Motive für seine Malerei. In Zeiten rücksichtsloser Industrialisierung, dramatischer Klimaveränderungen und zunehmender Versteppung ganzer Regionen, sind sie vor allem Korrektive unserer Zivilisationsdefekte. Neben allerlei nützlichen Funktionen sind sie für Hesse gleichzeitig Spiegel der Jahreszeiten, Landschaften und Umwelt sowie – als Bestandteil seiner durch das Christentum und die indische Philosophie geprägten Lebensauffassung – Symbole der Vergänglichkeit und Wiedergeburt. In dem ihm eigenen Enthusiasmus schreibt er:
Bäume sind für mich immer die eindringlichsten Prediger gewesen. Ich verehre sie, wenn sie in Völkern und Familien leben, in Wäldern und Hainen. Und noch mehr verehre ich sie, wenn sie einzeln stehen. Sie sind wie Einsame. Nicht wie Einsiedler, welche aus irgendeiner Schwäche sich davongestohlen haben, sondern wie große, vereinsamte Menschen, wie Beethoven und Nietzsche. In ihren Wipfeln rauscht die Welt, ihre Wurzeln ruhen im Unendlichen; allein sie verlieren sich nicht darin, sondern erstreben mit aller Kraft ihres Lebens nur das Eine: ihr eigenes, in ihnen wohnendes Gesetz zu erfüllen, ihre eigene Gestalt auszubauen, sich selbst darzustellen. Nichts ist vorbildlicher als ein schöner, starker Baum.
Voller Empathie schildert Hesse das Leben mit den Bäumen seiner nächsten Umgebung. Einige davon hat er selbst gepflanzt und ihr Wachstum erlebt. Andere sind im Laufe der Zeit abgestorben. Von ihnen nimmt er Abschied wie von einem nahen Verwandten. Insgesamt enthält das Bändchen derart liebevolle Schilderungen seiner Erfahrungen mit Bäumen, die wie Farbtupfer in diesen düsteren Zeiten wirken.
Hesse kann sich glücklich schätzen, dass er das große Waldsterben der letzten Jahre nicht mehr erlebt hat. Wir haben es aus nächster Nähe mit ansehen müssen. Über dreißig Jahre lang hatten wir ein Häuschen auf dem Lande, am Waldrand gelegen, etwas außerhalb eines 100-Seelen-Dorfes. Innerhalb kürzester Zeit wurden in der Umgebung unseres Grundstücks 40 Hektar Wald gerodet; meist waren es Fichten, die aufgrund der Trockenheit und Hitze von Borkenkäfern zerfressen wurden.
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In seinem Buch über das Alter mit dem schönen Titel Mit der Reife wird man jünger räsoniert Hesse über die Vorzüge und Plagen des Alters; in einer überaus weisen, mitunter auch selbstironischen und humorvollen Weise.
Für Hesse hat jede Altersstufe, wie er sagt, ihr Gesicht, d.h.: ihre Reize, aber auch ihre Schattenseiten.
Das Jahrzehnt zwischen vierzig und fünfzig ist für Menschen mit Temperament, für Künstler, immer ein kritisches, eine Zeit der Unruhe und häufiger Unzufriedenheit, wo man sich mit dem Leben und mit sich selbst oft schwer abfinden kann. Aber dann kommen Jahre der Beruhigung. Ich habe das nicht nur an mir erlebt, sondern an manchen anderen beobachtet. So schön die Jugend ist, die Zeit der Gärung und der Kämpfe, so hat doch auch das Altwerden und Reifwerden seine Schönheit und sein Glück.
Mit fünfzig Jahren hört der Mensch allmählich auf, gewisse Kindereien abzulegen. Er lernt warten, er lernt schweigen, er lernt zuhören und sollten diese guten Gaben durch etwelche Gebresten und Schwächen erkauft werden müssen, so betrachtet er diesen Kauf als einen Gewinn.
Sich selbst nicht mehr so ernst nehmen, einfach einmal innezuhalten im täglichen Getriebe, das ist für ihn eine Maxime seines Handeln. Dazu gehört der selbstironische Blick auf sich. In einem seiner Gedichte heißt es:
Man vertrottelt, man versauert
man verwahrlost, man verbauert
und zum Teufel gehen die Haare
Auch die Zähne gehen flöten
und statt dass wir mit Entzücken
junge Mädchen an uns drücken
lesen wir ein Buch von Goethen.
Zeilen wie diese könnten auch von Wilhelm Busch oder Ringelnatz stammen. Bei Hesse sind sie Teil einer philosophisch grundierten Weltanschauung, eines Lebensgefühls, das durch seine Bekanntschaft mit indischer Philosophie geprägt ist, die von der Einheit der Gegensätze und alles Seienden ausgeht. Diese Sicht auf die Welt beruht auf Lebenserfahrungen, wenn nicht gar Altersweisheit. So heißt es an einer Stelle bei ihm:
Haben wir auch vermutlich in jungen Jahren den Anblick eines blühenden Baumes, einer Wolkenformation, eines Gewitters heftiger und glühender erlebt, so bedarf es für das Erlebnis, das ich meine, doch eben des hohen Alters, es bedarf einer unendlichen Summe von Gesehenem, Erfahrenem, Gedachtem, Empfundenem, Erlittenem, es bedarf einer gewissen Verdünnung der Lebenstriebe, einer gewissen Hinfälligkeit und Todesnähe, um in einer kleinen Offenbarung der Natur den Gott, den Geist, das Geheimnis wahrzunehmen, den Zusammenfall der Gegensätze, das große Eine. Mit der Reife wird man jünger, schreibt Hesse, da ich das Lebensgefühl meiner Knabenjahre im Grund stets beibehalten habe und mein Erwachsensein und Altern immer als eine Art Komödie empfunden habe.