er Wahlkampf kommt in diesen Spätsommertagen mehr und mehr auf Touren. Martin Schulz träumt nach wie vor von seinem Einzug ins Kanzleramt. Doch beim Blick auf die demoskopischen Befunde für seine SPD drei Wochen vor dem Wahltag leidet er wohl eher unter einem Albtraum. Mit 22 bis 24 % für seine Partei wird es nicht annähernd für eine Koalitionsmehrheit mit den Linken und Grünen reichen. Zudem schadet das Liebäugeln mit Sarah Wagenknecht und ihren sozialistischen Genossen mehr als gedacht. Wenn Schulz gar von einer großen Koalition mit ihm als Kanzler phantasiert, wirkt er auf die große Mehrheit der Wähler mehr als abgehoben, fast wie ein Mann von einem fernen Stern. Nahezu hilflos wirken auch die Versuche, Angela Merkel persönlich zu attackieren. Manche Angriffe, etwa die Hinweise auf ihre Nutzung der Flugbereitschaft, sind nicht einmal Petitessen eines geradezu verzweifelten Herausforderers, der im politischen Boxring Zuflucht zu Luftschwingern sucht.
Gerechtigkeit: Kein Thema?
Deutschland steht derzeit gut da: Die Wirtschaft wächst, die Beschäftigung erreicht neue Rekorde, die Einkommen, vor allem die Tariflöhne, steigen um fast 4 %, die Preise sind stabil, die Renten sind in den letzten Jahren erhöht worden. Das Wohlbefinden der Nation war selten größer: Fast 80 % der Einwohner unseres Landes sind zufrieden oder sogar sehr zufrieden. Vor diesem Hintergrund zündet das Thema Gerechtigkeit, auf das die SPD so sehr gesetzt hat, nur wenig. Die Neidkampagne, mit der Martin Schulz Stimmen gewinnen wollte, erweist sich als Rohrkrepierer und eben nicht als Gewinnerthema. Ohnehin hat das immer weitere Abrücken der SPD von der Agenda 2010 ihres Spitzengenossen Gerhard Schröder eher geschadet als geholfen. Der Einsatz von Schröder, der inzwischen hunderttausende Euro für seinen Job von der russischen Rosneft-Firma kassiert, mag für schaulustige Sozialdemokraten noch interessant sein; doch zusätzliche Wählerprozente lassen sich auch damit nicht gewinnen.
Weltpolitische Unsicherheiten
Vielmehr wollen die Wähler erfahren, was auf sie in den nächsten Jahren zukommt. Gerade in der derzeitigen Phase großer Unsicherheiten und Umbrüche gieren viele nach politischen Aussagen und Hinweisen dazu, wie der Zukunftskurs, die Herausforderungen und Aufgaben gemeistert werden können. In der Außenpolitik wird Angela Merkel großes Vertrauen geschenkt. Ihr wird von der überwiegenden Mehrheit der Bürger am ehesten zugetraut, mit Donald Trump und Wladimir Putin sowie Erdogan auf Augenhöhe verhandeln zu können. Ebenso spielt sie in der Europa-Politik den dominanten Part, in den sie mehr und mehr auch den französischen Präsidenten Macron einbindet. Sigmar Gabriel hat sich in kurzer Zeit als Außenminister gut profiliert. Inzwischen ist er neben Andrea Nahles der bekannteste SPD-Politiker der Regierung, während die anderen sozialdemokratischen Frauen und Männer im Regierungsteam doch mehr oder weniger blass bis unbemerkt bleiben.
Unbefriedigende Antworten auf innenpolitische Fragen
Bei den wichtigen innenpolitischen Themen konnte Martin Schulz ebenfalls kaum punkten. Als engagierter Europapolitiker ist er einfach nicht auf den wichtigen Feldern der inneren Sicherheit, Sozial-, Steuer- und Bildungspolitik der kundige Thebaner. Da hilft auch sein Hinweis wenig, dass er als Bürgermeister von Würselen mit den Menschen dort vor Ort immer wieder im Gespräch war. Die Versuche der SPD, Martin Schulz im Wahlkampf mit den parteigemachten Konzepten zur Steuer-, Renten- und Bildungspolitik ins Gefecht zu führen, fanden nur begrenzte Aufmerksamkeit und verpufften recht schnell. Von einem Herausforderer werden schon kräftigere und wirkungsvollere Treffer mit Nachhaltigkeit erwartet.
Dabei brennen nicht wenige Themen den Menschen auf den Nägeln. Denn die meisten haben längst begriffen, welche großen Herausforderungen etwa mit der Digitalisierung auf sie zukommen. Rund 50 % aller Arbeitsplätze sind von der digitalen Revolution betroffen. Ohne schnelle und leistungsfähige Netze als Datenautobahnen werden in Zukunft selbst kleine Firmen nicht mehr auskommen. Die entsprechende Qualifizierung zur digitalen Arbeit betrifft Millionen von Beschäftigten. Das tägliche Leben verändert sich – mit dem expandierenden Online-Handel, Smarthome und der elektronischen Gesundheitskarte. Hier müssen die Arbeitgeber und Gewerkschaften mit den politisch Verantwortlichen noch wesentlich enger zusammenarbeiten, um gemeinsam die Chancen der Digitalisierung für alle im Lande wahrzunehmen.
Die Paradebranche Deutschlands, die Automobilindustrie, wird sich in den nächsten Jahren so stark umstellen müssen wie nie zuvor. Nach der Dieselbetrugsaffäre gilt es, die Weichen neu zu stellen. Die Politiker sollten dafür die umwelt- und verkehrspolitischen Rahmenbedingungen, wie etwa die Emissionswerte, vorgeben. Mit welchen Technologien diese zu erreichen sind, das müssen die Automobilhersteller, ihre innovativen Zulieferer und die vielen hunderttausend Beschäftigten schaffen.
Die großen Herausforderungen in der Energie- und Umweltpolitik werden sowohl von der CDU und CSU als auch von der SPD nur unzulänglich im Wahlkampf erörtert. Dabei besteht gewaltiger Handlungsbedarf, sollen die ehrgeizigen Ziele des Klimaschutzplans noch erreicht werden. Dabei wird es um konkrete Maßnahmen im Verkehrssektor, bei Kraftwerken, bei der Gebäudesanierung und im Energiebereich gehen. Längst haben die meisten Bürger begriffen, dass allein mit Windrädern im Lande und Sonnenpaneelen die Energiewende nicht zu schaffen sein wird. Bislang liefern die regenerativen Energiequellen gerade einmal ein Drittel des elektrischen Stroms.
Es müssen viele neue Kilometer an Leitungen gelegt und Stromspeicher gebaut werden, denn der Wind weht nicht immer, und die Sonne ist unberechenbar. Rund 25 Mrd. € zahlen allein in diesem Jahr die Stromverbraucher für die Einspeisung des „grünen Stroms“; diese satten Subventionen sollten in den nächsten Jahren massiv gekürzt werden.
Über die Integration der vielen hunderttausend Migranten, die in Deutschland inzwischen leben, wird ebenfalls viel zu wenig diskutiert. Diffus reden die Repräsentanten der Parteien über Sprachunterricht oder ein Einwanderungsgesetz. Die konkreten Schritte etwa zu einer konsequenten Abschiebung, zur Unterbringung in Wohnungen, zur Eingliederung in die Arbeitswelt u.ä. zeichnen sich bei allen kaum deutlich ab.
Mehr Bildung für alle
Für eine bessere Bildung plädieren fast alle Wahlkämpfer. Martin Schulz will gar 12 Mrd. € mehr dafür einsetzen. Selbst die Kita-Gebühren sollen für alle entfallen, obwohl die Besser- und Doppelverdiener durchaus bereit sind, für die qualitativ gute Betreuung ihrer Kinder zu zahlen. Doch „Freibier für alle!“ mag schön klingen, verfängt jedoch nicht. Zudem gibt es das Kooperationsverbot: Der Bund muss die Verantwortung von Ländern und Kommunen in der Bildungspolitik beachten; ohnehin könnte er nicht die Zuständigkeit für über 40.000 Schulen beanspruchen und ihr gerecht werden. Zur Sanierung von Schulen in finanzschwachen Gemeinden hat der Bundesfinanzminister gerade viele Milliarden € zur Verfügung gestellt; diese Mittel sind bislang noch nicht einmal voll von den Kommunen abgerufen worden. Eine klare Antwort darauf, wie der wachsende Bedarf an qualifizierten Fachkräften in der Wirtschaft in Zukunft zu decken wäre, ist von keiner Partei im Wahlkampf zu vernehmen. Dies ist umso erstaunlicher, als die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in allererster Linie von gut ausgebildeten und permanent fortgebildeten Arbeitnehmern abhängt und auch weiterhin abhängen wird. Denn „Human-Kapital“ wird immer wichtiger als Finanz-Kapital bleiben; es sind letztlich die Menschen, die trotz allen Vordringens von Robotern, Sensoren und Algorithmen für innovative Produkte und Dienstleistungen sorgen.
Koalitionsmehrheit noch offen
Zu Beginn der letzten Etappe des „heißen Wahlkampfes“ halten es über 70 % der Wähler für ausgemacht, dass Angela Merkel auch in der nächsten Legislaturperiode die Chefin im Bundeskanzleramt bleiben wird. 45 % sind der Meinung, dass die Wahl bereits entschieden sei. Doch etwa ein Drittel der Wahlberechtigten ist noch unentschlossen, ob sie wählen gehen und wem sie ihre Stimmen geben. So bleibt die Spannung bis zur Schließung der Wahllokale am Abend des 24. September erhalten, welche Parteien schließlich eine Koalitionsmehrheit zusammenbringen und in der 19. Legislaturperiode die Regierung stellen werden. Die CDU, CSU und SPD könnten auf jeden Fall wieder mit etwa 68 % und mehr eine Große Koalition bilden. Die Union plus FDP hätte nach den aktuellen Umfragen kaum eine tragfähige Mehrheit. Da müssten schon die Grünen mit ins Boot gelockt werden, was außerordentlich schwierig werden dürfte; die CSU, die bereits auf die Landtagswahl 2018 in Bayern schaut, zeigt deutliche Berührungsschwierigkeiten mit den Grünen. Mit der AfD will keine andere Partei ins Koalitionsbett. Und die Linken werden Martin Schulz nicht ins Kanzleramt bringen können, sondern etwas geschwächt auf den Oppositionsbänken weitere vier Jahre fristen müssen.
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