Er oder Merz? Wer die erste Biographie über Hendrik Wüst liest, findet die erhoffte Antwort nicht. Dafür sorgt der CDU-Ministerpräsident selbst. Er lässt sich nicht in die Karten schauen, noch gibt er sich im Interview oder einer Rede die Blöße, die den Bundeschef der CDU, Friedrich Merz , zum Kampf um die Macht provozieren würde. Die Macht, das wäre dann zunächst die Kanzlerkandidatur der Union für die Bundestagswahl 2025. Favorit ist, ja wer eigentlich? Merz wird sich in der für ihn typischen Bescheidenheit selbst dafür halten, weil er sich immer für den Größten gehalten hat, obwohl er da Größe mit Länge verwechselt. Zu erinnern ist daran, wie er vor Jahren, als Angela Merkel den Anspruch nicht nur auf die Chef-Position der CDU im Bund erhob, sondern auch auf die Führung der Unions-Fraktion in Berliner Reichstag, freiwillig den Kampfplatz verlies, der Politik Adieu sagte, um in der Wirtschaft Millionen zu verdienen.
Tobias Blasius und Moritz Küpper, der eine Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf, der andere berichtet für den Deutschlandfunk über die Landespolitik, haben ein Werk hingelegt, das sich sehen lassen kann und lesen auch. Auf gerade mal 224 Seiten erfährt man vieles über den Wandlungskünstler Wüst, dem die beiden Autoren nicht ohne Grund den Buchtitel gaben: „Der Machtwandler.“ Und mächtig ist der Mann Wüst, der gerade als NRW-CDU-Chef mit 97 vh der Stimmen wiedergewählt wurde. Mit 110000 Mitgliedern ist sein Landesverband der mit Abstand stärkste im Bund.
Friedrich Merz, der am 11. 11. 68 Jahre alt wird, könnte eines Tages dafür die Verantwortung zugeschrieben werden, wenn Hendrik Wüst, 48, tatsächlich ganz nach oben streben sollte. Hatte doch der Sauerländer dem Westfalen geraten: „Du darfst nie einen Zweifel daran lassen, dass Du ein potentieller Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sein kannst“. So wird Merz im Buch von Blasius und Küpper zitiert. Und Merz habe zur Begründung angefügt, der Regierungschef des bevölkerungsreichsten Bundeslandes gehöre „qua Job-Deskription zur Führungsreserve um das Kanzleramt. Das ist Teil der Amtsbeschreibung.“ Und Merz habe an das politische Schicksal der früheren NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft(SPD) erinnert, die ziemlich am Anfang ihrer Karriere als Ministerpräsidentin diesen Anspruch aufgegeben und gesagt habe, sie werde nie, nie nach Berlin gehen. „Das war der Anfang vom Ende“, so Merz. Er hätte noch hinzufügen können, dass sie den Verzicht auf Berlin ohne Not tat und im Grund später die Wahl gegen Armin Lachet verlor, weil sie keine Lust mehr auf Politik dieser Art hatte. Als es vorbei war, sagte sie: „Ich habe mein Leben zurück.“ Dies nur als Ergänzung.
Aktuell ist seine Aufgabe in NRW
Ob das mit NRW und der Führungsreserve so stimmt? Laschet ließ sich einst vom Altkanzler Gerhard Schröder(SPD) in einem großen Interview die Fähigkeit zum Kanzler bescheinigen mit der Begründung, wer NRW regiere habe das Zeug, die Republik zu regieren. Das Ergebnis ist bekannt. Laschet ist irgendein Bundestagsabgeordneter, Olaf Scholz Kanzler, und Hendrik Wüst fiel durch Laschets Griff nach der Macht das Amt des Ministerpräsidenten in den Schoß. Und als Ministerpräsident ist er ja quasi gesetzt. Oder Herr Merz? Oder sollen wir Markus Söder fragen?
Offene Ambitionen auf Berlin hat Wüst bisher vermieden, ganz bewusst. Er hat sie auch nicht dementiert, sondern nur einmal Richtung Merz betont, dass „meine Aufgaben aktuell in NRW liegen“. Und natürlich hat er damit Raum für Spekulationen gelassen. Einer wie Merz hat das gespürt. Da können sich die beiden noch so herzen auf der Bühne, sie sind Kontrahenten, wenn es um die Frage des Kanzlerkandidaten der Union geht. Für Merz wäre es mit bald 68 Jahren die letzte Chance, Kanzler zu werden, Wüst könnte noch warten. Und die Chance aufs Kanzleramt ist ja groß, legt man die Umfragen aller Institute zugrunde, nimmt man die Landtagswahlen in Hessen, in Bayern, zuvor in NRW und in Schleswig-Holstein. Die Union kommt auf rund 30 vh und mehr der Stimmen oder besser der Zustimmung, weil Umfragen ja nur Stimmungen sind, sie sind noch keine Stimmen.
Hendrik Wüst regiert in NRW mit den Grünen, lautlos, ohne den Krach, mit dem die Berliner Ampel uns täglich die Politik zum Frühstück serviert. Und deshalb auch nach Umfragen abgeschlagen am Tabellenende rangiert. Das mit den Grünen könnte sein Vorteil sein, Merz hat die Grünen zum eigentlichen Gegner der CDU erhoben wie übrigens auch Söder. Anders als Merz vermeidet Wüst alles, was riskant sein könnte für das Bild, das die Öffentlichkeit sich über ihn macht. Nur nicht negativ auffallen, mitschwimmen, kontrolliert, für schöne Bilder sorgen, für Harmonie. Welche Politik man von ihm erwarten kann, bleibt unklar. Performance ist Wüst wichtig, nicht das Programm.
Der Weg nach oben
Der Weg des Hendrik Wüst, von Blasius und Küpper Schritt für Schritt beschrieben, man kann den Weg mitgehen, wenn man Borken, Bocholt, Rhede und die anderen Dörfer kennt. Die Ecke ist rabenschwarz. Zur Erinnerung: die Steigerung von Schwarz beginnt mit Bocholt, setzt sich fort über Münster und endet in Paderborn. Da ist der Mann zu Hause, in einem konservativen Umfeld in der Nähe der holländischen Grenze, ist ein mittelmäßiger Schüler(Abiturnote 2,5). Seine Mutter war Hausfrau und gelernte Fleischerin, der Vater Handelsvertreter für Textilmaschinen. Hendrik hat zwei ältere Schwestern. Später studiert er Jura, schließt ab mit Examen.
Und man kann sagen, dass sich schon der junge Wüst versucht, nach oben zu kämpfen, in der CDU. Er gründet mit 15 den Ortsverband der Jungen Union, war sich für keine Arbeit zu schade. Sportlich ist Hendrik wie schulisch eher mittelmäßig, so spielt er auch Handball. Ihn trifft der frühe Tod der Mutter mit 53 Jahren, später schockt ihn der Tod des Vaters, dann der Tod des Freundes Philipp Missfelder, der an den Folgen einer Lungenembolie stirbt. Der Niederrhein ist seine Heimat, Haus, Gärtchen, die überschaubare Provinz seine Welt wie die bürgerliche Normalität.
Die Autoren des Buches haben mit 100 Personen gesprochen, mit Freunden, Förderern, Fachleuten und Rivalen. Der Leser erfährt viel über die Seilschaften, die der junge Wüst früh knüpft innerhalb der Partei, man liest über die Einstein-Connection, die aus Wüst besteht, Söder, Stefan Mappus(in Baden-Württemberg gescheitert) und Missfelder. Die Vierer-Gruppe will der Union eine konservativeres Bild verpassen.
Einst ein Grünen-Fresser
Hendrik Wüst wird CDU-Generalsekretär in NRW und als solcher von Jürgen Rüttgers auch wieder gefeuert, weil das von ihm gefertigte Papier „Rent-a-Rüttgers“ auf heftige Kritik stößt. Norbert Lammert, ein einflussreicher Christdemokrat, urteilte, das sei „selten dämlich“, was unter Wüst aufgeschrieben worden sei. Und da Rüttgers bei der Landtagswahl 2010 viele Stimmen einbüßt und somit die Mehrheit an die SPD und Hannelore Kraft verliert, scheint es für einen Moment mit der politischen Karriere des Hendrik Wüst vorbei zu sein. Aus dem rechten Hardliner wird ein Mann des CDU-Wirtschaftsflügels, wo er sich neu erfindet. Wieder mal. Laschet macht ihn zum Verkehrsminister, was ihn nicht sonderlich als Ressort reizt, aber ihm die Gelegenheit bietet, neu aufzustehen und aufzusteigen in der CDU und in der Politik. Aus dem einstigen Grünen-Fresser und schneidigen Konservativen wird ein Christdemokrat, der plötzlich erkennt, dass das Konservative nie der Markenkern der CDU gewesen sei und diese niemals Programmpartei. Also regiert er in NRW mit den Grünen, was früher niemand für möglich gehalten hätte. Aber Wüst ist anpassungsfähig. Der junge Vater inszeniert sich wieder einmal auf seine eigene Weise. Zur Wahl schiebt er den Kinderwagen selbst, seine Welt wird eine Mischung aus Rhede und Düsseldorf und natürlich auch Berlin, wo der Ministerpräsident immer wieder das für ihn günstige Bild sucht.
Wüst ist nicht Laschet, nicht Merkel, nicht Scholz oder Merz. Ehrgeizig, heimatverbunden, was er aber zu jeder Zeit ins urbane verwandeln kann, ins konservativ. Der Mann ist auch berechnend, auf seinen Vorteil, eben das schönste Bild aus, oft nichtssagend, weil er das Risiko scheut, Vielleicht spielt da der steinige Weg von Rhede nach Düsseldorf mit. Wüst will sein Leben und seine politische Karriere planen, Spontaneität ist nicht seine Art zu leben und Politik zu machen, ist zu unkontrolliert. Er passt alles dem Zeitgeist und der politischen Großwetterlage an. Ein Machtwandler eben.
Das Buch ist gut geschrieben, flott, die Autoren müssen über Monate recherchiert haben. Wie sie nur all die Informationen über Wüst zusammengetragen haben, über den Niederrhein, die CDU, seine Freunde, die Familie. Die Unterzeile des Buches lautet: „Karriere und Kalkül“. Das ist es auch. Berechnung, der Mann wollte schließlich nach oben, bis in die Staatskanzlei hat er es geschafft. Ob er weiter will? Ins Kanzleramt mit all der Verantwortung, mit einem mindestens 16-Stunden-Tag oder manchmal noch länger? Mit all den Reisen quer durch die Welt und den Belastungen für ihn selbst und seine Familie? Wer Wüst wirklich ist? Man erfährt viel über Hendrik Wüst, aber diese Antworten bleiben die Autoren schuldig. Weil Wüst dies nicht zulässt.