Im Jahre 1998 war Helmut Kohl als Kanzler abgewählt worden. Mit einer Amtszeit von 16 Jahren als Regierungschef hatte er einen bisher seit der Gründung unserer Republik nie erreichten Rekord aufgestellt. Seit dem Jahre 2002 war er nicht mehr Mitglied im Deutschen Bundestag. In seinem Berliner Büro Unter den Linden hielt er auch nach dem Ende seiner Kanzlerzeit immer noch Hof und schwelgte mit den letzten getreuen Kohlisten in Erinnerungen an die guten und erfolgreichen Zeiten. Nach dem er 1999 öffentlich zugegeben hatte, Spenden in Millionenhöhe von anonymen Personen angenommen zu haben, war Helmut Kohl „angeschlagen“: Er weigerte sich, die Namen der Spender zu nennen, weil er ihnen angeblich sein Ehrenwort gegeben hatte. Damit stellte sich Kohl über das Gesetz. Letztlich kam er jedoch mit der Zahlung eines Bußgeldes von rund 300.000 € glimpflich ohne strafrechtliche Verurteilung davon. Zudem machte er mit großen – auch eigenen – Anstrengungen den Schaden, den er seiner CDU durch die Spendenaffäre zugefügt hatte, wieder gut.
Kohls Abgang von der Bühne der großen Politik war alles andere als glänzend und würdig. Er hatte sich zum einen als Ehrenvorsitzender seiner Partei verabschieden müssen, und so den Aufstieg von Angela Merkel entscheidend geebnet, denn er versuchte, auch Wolfgang Schäuble mit in den Spendenstrudel zu reißen. Zum anderen hat Helmut Kohl sich selbst vom Denkmalsockel gestoßen, auf dem ihm gemessen an seinen politischen Leistungen und Erfolgen der Platz gehört hätte. Diese Art der Selbstzerstörung ging auch in seinem privaten Umfeld weiter: Kohls Frau Hannelore beging Selbstmord. Einige Jahre danach heiratete er wieder, nämlich die gut 3 Jahrzehnte jüngere Maike Richter, die ihn umsorgte und bis zu seinem Tod pflegte. Derweil gingen Kohls Bande zu seinen zwei Söhnen Walter und Peter vollends in die Brüche: Beide wurden geradezu verbannt und erhielten Hausverbot in Oggersheim. Niemand kann beurteilen, ob dieses unwürdige Spiel, das auch bis zum Tode Kohls ging, nur von seiner zweiten Frau Maike bestimmt wurde oder ob nicht die anderen Akteure der Familie immer wieder Öl ins Feuer gegossen haben. Kohls letzte Jahre waren außerordentlich tragisch; er war an den Rollstuhl gefesselt, konnte kaum noch sprechen und bedurfte ständiger Betreuung. Selbst über seinem Grab, das in Speyer ist, gibt es keine familiäre Versöhnung. Mehr Würde hätten sich alle, die den Kanzler und Menschen Kohl kannten, gewünscht.
Große politische Leistungen
Die politische Bilanz von Helmut Kohl ist mehr als beeindruckend. Die größten Aktiva sind zum einen die europäische Einigung, zum anderen die Wiedervereinigung Deutschlands. Als er 1982 Kanzler wurde, stand er vor großen Herausforderungen. Helmut Schmidt war an seiner SPD bei der Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses gescheitert; er konnte dafür keine Mehrheit erringen. Helmut Kohl schaffte es im engen Schulterschluss mit dem französischen Staatspräsidenten François Mitterand und dem Präsidenten der USA, Ronald Reagan, die notwendige Nachrüstung durchzusetzen, mit der Michail Gorbatschow als Führer der Sowjetunion wohl nicht gerechnet hatte. Erst danach zeigte sich der sowjetische Generalsekretär zu Abrüstungsverhandlungen bereit.
Ein Europäer mit viel Herzblut
Mit Mitterand, dem Sozialisten aus Frankreich, schaffte Helmut Kohl einen ganz engen Schulterschluss, um die Mitte der 80er Jahre vorhandene Euro-Sklerose zu beenden und die Europäische Gemeinschaft wieder zu beleben. Das wichtigste Ergebnis dieser Diplomatie zwischen Bonn und Paris war die Errichtung des europäischen Binnenmarktes, von dem gerade die deutsche Wirtschaft enorm profitierte. Kohl zeigte bei allen schwierigen Verhandlungen ein großes Geschick: Er hat stets die kleineren europäischen Staaten bevorzugt behandelt und sie für seinen dynamischen Kurs begeistert. Ein weiterer historischer Schritt war die Einführung des Europäischen Währungssystems mit dem Euro. Kohl hatte dabei nicht mit dem französischen Präsidenten geschachert, wie es immer wieder von wenig kundigen Zeitgenossen behauptet wird; der Euro-Beschluss lag ohnehin weit vor der deutschen Wiedervereinigung. Der Bundeskanzler hatte jedoch im Maastricht-Vertrag klare und harte Parameter festgezurrt: Maximal 3 % des Bruttoinlandsproduktes als Neuverschuldung, 60 % als Obergrenze für die gesamtstaatliche Verschuldung. Dass unter seinen Nachfolgern – von Gerhard Schröder mit seinem Finanzminister Eichel – diese Begrenzungen, etwa beim Eintritt Griechenlands in die Euro-Zone, nicht strikt gefordert und Zuwiderhandlungen sanktioniert wurden, lag daran, dass auch Deutschland sich in die „Liga der haushaltspolitischen Sünder“ eingereiht hatte. Zudem gab es weder von Gerhard Schröder noch von Angela Merkel große Anstrengungen, die Währungsunion durch eine echte politische Union zu ergänzen und zu krönen, wie Helmut Kohl es als Vision für die EU gern realisiert hätte. Seine bis zuletzt geäußerten Sorgen um Europa sind deshalb durchaus verständlich. Denn für ihn hatte die Irreversibilität der europäischen Gemeinschaft die höchste Priorität. So war es gewiss besonders bitter für ihn, die Brexit-Entscheidung in England noch zu erleben.
Kanzler der deutschen Einheit
Die größte historische Leistung Kohls ist die Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990. Sie ist ihm nicht einfach zugefallen. Richtig ist, dass Mauer und Stacheldraht von unseren Landsleuten aus der DDR eingerissen wurden. Sie wollten als „das Volk“ mehr Freiheit, Bürgerrechte und Menschenwürde, also die Fesseln des Sozialismus sprengen. Helmut Kohl wollte Zeit seines politischen Lebens die Einheit. Er musste deshalb schnell handeln, als das „Fenster der Geschichte“ dafür einen historischen Augenblick lang offen stand. Die frei gewählte Volkskammer und Regierung von Lothar de Maizière stellten sehr bald fest, dass die DDR Pleite war und nur die Wiedervereinigung die Chance für ein wirtschaftliches wie soziales Überleben bot. Da war es gut, dass Helmut Kohl schon lange vor dieser Chance für die Wiedervereinigung bei den entscheidenden Stakeholdern ein großes persönliches Vertrauenskapital geschaffen hatte – vor allem bei dem US-Präsidenten George Bush, aber eben auch bei dem Generalsekretär der Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Bush beharrte auf den Verbleib Deutschlands in der NATO, auf der Verankerung im westlichen Bündnis. Gorbatschow hoffte auf wirtschaftliche Vorteile durch die Kooperation mit Deutschland; von der DDR allein konnte er nichts mehr erwarten. So wurden wir Deutschen wieder „ein Volk“. Helmut Kohl brachte die Deutschen in West und Ost wieder zusammen. Dieses Jahrhundertwerk war ohne Zweifel die absolute Krönung seiner Kanzlerzeit. Es wird auch in Zukunft in den Geschichtsbüchern als eine historische Leistung stehen. Mit schier unglaublicher Hartnäckigkeit und gegen alle Widerstände – aus dem In- wie Ausland – hat er sich dabei durchgesetzt. Mit dem „Gemeinschaftswerk Aufbau Ost“ wurden auch die von Kohl in Aussicht gestellten „blühenden Landschaften“ in den neuen Bundesländern geschaffen. Über 2.000 Mrd. € wurden dorthin transferiert, damit zusammenwächst, was zusammengehört. Mit Recht blickte Helmut Kohl voller stolz auf diese Ergebnisse seiner erfolgreichen Deutschlandpolitik. Denn wichtig war für ihn stets „das, was am Ende hinten herauskommt“, wie er es immer wieder mit Blick auf seine politischen Projekte und Ziele selbst betonte.
Deutschland verneigt sich vor dem großen Kanzler der Einheit und der europäischen Einigung. Über seinen Tod hinaus werden Millionen Menschen ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Im Schatten des Domes von Speyer mag er in Frieden ruhen, auch wenn der Streit um die Vollstreckung seines politischen Testaments auf Erden noch weiterzugehen droht.