Heinrich Bölls Werk habe wesentlich dazu beigetragen, „dass man im Ausland wieder angefangen hat, Deutschland zu vertrauen, und im Inland darauf langsam wieder stolz werden konnte.“ Der ihn jetzt so würdigte anläßlich des 100. Geburtstages des Schriftstellers und Literatur-Nobelpreisträgers war Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, ein Sozialdemokrat. Steinmeier war 16 Jahre alt und ging noch zur Schule, als Heinrich Böll der Nobelpreis verliehen wurde. Das war 1972, ein Jahr zuvor hatte Willy Brandt den Friedensnobelpreis erhalten, der SPD-Kanzler der Bundesrepublik, der wie Böll von einer gewissen-oder soll ich sagen gewissenlosen Clique immer mal wieder verschmäht und verleumdet wurde. Es war die Zeit, als die SPD mit dem Plakat in den Wahlkampf zog: „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land.“ Eben auch auf einen wie Heinrich Böll.
Den Literatur-Nobelpreis haben bisher auch einige Deutsche erhalten, darunter neben Böll noch Thomas Mann und Günther Grass. Eine hohe Ehrung, die eigentlich die Kritiker hätte zum Schweigen bringen müssen. Nicht so der Springer-Verlag und dort die Bild-Zeitung. Es ist das Verdienst des Journalisten Norbert Bicher, früher Parlaments-Korrespondent der „Westfälischen Rundschau“ und Sprecher des ehemaligen und viel zu früh verstorbenen SPD-Fraktionschefs und Verteidigungsministers Peter Struck, auf diese Zeit und die Verleumdungen des Literaten Heinrich Böll jetzt noch einmal in aller Deutlichkeit hinzuweisen. Nein, das ist lange her, aber nicht vergessen, wie man zum Teil mit Böll umgesprungen ist, damals in den 70er Jahren. Wie konnte der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher(FDP) es zulassen, dass das Haus von Böll in einem kleinen Dorf in der Eifel an einem helllichten Sonntag einer Durchsuchung unterzogen wurde. Das ganz große Aufgebot an Polizei und Justiz in einem Dorf, jeder kriegte es mit, bestaunte und begaffte die widerliche Szenerie. Der Sohn des Schriftstellers, Rene Böll, hat vor kurzem von diese Hetzjagd auf seinen Vater erzählt, davon, wie er als Kind in der Schule beschimpft wurde, es gab anonyme Anrufe zu Hauf. Es gab dann auf Betreiben von SPD-Fraktionschef Herbert Wehner ein Gespräch zwischen Böll und Genscher, an dem Wehner teilnahm. Für den FDP-Politiker ein wichtiges Treffen, wie er später betonte.
Hoffnungsträger für die Jugend
Dabei war Heinrich Böll, der Schriftsteller, auch ein Hoffnungsträger für die junge Generation, damals nach dem 2. Weltkrieg, den der Soldat Böll vom ersten bis zum letzten Tag hatte mitmachen müssen. Er, der kein Nazi war, legte sehr früh den Finger in die Wunde, indem er hartnäckig die Aufmerksamkeit auf die Geschichte nach 1945 als Geschichte einer unentrichteten Auseinandersetzung mit der Zeit ab 1933 lenkte: „Wir denken immer in Daten, wir denken: 8. Mai 1945, Krieg zu Ende, Nazis weg, Stunde Null- eine große Täuschung. Und diese Täuschung habe ich nicht vollzogen. Ich habe mich immer gefragt: Waren hier überhaupt jemals irgendwo Nazis? Es waren ja 90 Prozent, wir wollen uns doch nichts vormachen. Und plötzlich keine mehr? … bis zum 8. Mai waren sie alle Nazis, wirklich, und plötzlich war das weg.“(Heinrich-Böll-Stiftung)
Diese Heuchelei und dieser Opportunismus charakterisierten die Zeit. Man legte die Braunhemden ab und zog den dunklen Anzug an. Kaum einer wollte dabei gewesen sein, kaum einer etwas vom Verschwinden der Juden aus den Häusern mitbekommen, von Auschwitz oder Dachau etwas gewusst zu haben. Vielleicht war es das, was Teile der Bundesdeutschen später Böll vorhielt. Weil er ihnen den Spiegel vorgehalten hatte. Dieser Wahrheit tat weh. Zu Recht. Schon 1954 hat Böll in einem Aufsatz für die Kölnische Rundschau von dem Skandal gesprochen, dass Auschwitz kein Thema in den Schulen sei.
Heinrich Böll hatte, wie sein Sohn Rene es mal beschrieb, ein bewegtes Leben. Geboren nach dem Kaiserreich, erlebte er die Weimarer Republik als junger Mensch, das Dritte Reich und den Krieg sowie den anschließenden Kalten Krieg, die Fehlentwicklungen der neuen Bundesrepublik, die Adenauer-Zeit, später das Aufmucken der APO, den Vietnam-Krieg und die Proteste der jüngeren Generation dagegen. Der Sohn schildert den Vater als tolerant, selbstkritisch, großzügig, als Einzelgänger, eigensinnig. (Heinrich-Böll-Stiftung)
Mahner und Erinnerer
Mahner,Erinnerer, Aufrütteler, so kann man es bei Olaf Zimmermann nachlesen. Ja, es stimmt, das alles verkörperte dieser Mann, kein Riese an Gestalt, sondern eher einer, der verletzlich wirkte. Seine Sprache war leicht und, wenn es sein musste, ironisch. Aber er konnte auch schärfer werden. So sah sich Heinrich Böll 1972 veranlasst, den um die Wiederwahl kämpfenden SPD-Kanzler Brandt gegen den „Urmakel“ der unehelichen Geburt, jene „idiotische Urerbsünde der bürgerlichen Welt“, bei bürgerlich-katholischen Wählern zu verteidigen. Böll sprach in diesem Zusammenhang von geradezu „wütender, haßerfüllter Abneigung“, die Brandt entgegenschlage. (Peter Merseburger: Willy Brandt)
Seine großen Themen waren die Nachkriegszeit, Erzählungen und Kurzgeschichten über Not und Elend, die Trümmerlandschaft Deutschland, ein Bild der Zerstörung, das die heutige Generation nur noch aus Filmen und Büchern kennt, wenn sie denn diese Bilder je zu Gesicht bekommt. Man sollte sie anschauen, um mehr zu verstehen, was in einem wie Böll- und nicht nur in ihm- damals vorging. Zwölf Jahre Faschismus hatte viele mürbe und müde gemacht. Aus dem Land der Dichter und Denker war ein Land der Richter und Henker geworden. Aber Böll verharrte nicht nur in den Nachkriegs- und Kriegsgeschichten. Er nahm politisch Stellung durch das, was er und wie er es schrieb. Seine Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ erschien 1974. Darin hatte der Vater auch die Erlebnisse seines Sohnes Raimund Böll verarbeitet, der in das Netz der Terrorfahndung nach Mitgliedern der RAF geraten war und der deswegen wie der Vater durch bestimmte Medien übelst verleumdet wurde.
Hetzklima in Deutschland
Er hat wohl darüber nachgedacht, angesichts dieser Anfeindungen aufzugeben und das Land zu verlasen. „Ich kann in diesem Land“, so Böll in einem Monitor-Interview 1972 wegen eines Spiegel-Artikels zum Umgang mit der RAF, „in diesem gegenwärtigen Hetzklima nicht arbeiten. Und in einem Land, in dem ich nicht arbeiten kann, kann ich auch nicht leben. Das macht mich wahnsinnig, ewig, ewig mich gehetzt zu fühlen, denunziert zu fühlen und ewig gezwungen zu sein, zu dementieren…“
Böll war Kölner, Katholik, vor allem das Letztere hat ihn immer beschäftigt, ein Deutscher, dessen Deutschheit „zerrissen“ war, wie es Jens Bisky in der SZ beschrieb, als er über den Abend über Heinrich Böll mit dem Bundespräsidenten im Berliner Schloß Bellevue berichtete Der politische Mensch Böll war kein Parteipolitiker, er stand Willy Brandt nahe, schätzte ihn. Er setzte sich für verfolgte Autoren ein und nahm Alexander Solschenizyn in sein Haus auf. Anfang der 80er Jahre gehörte er zur größten Friedens-Demo, die je in Bonn stattgefunden hat. Der damals gesundheitlich schon angeschlagene Böll rief dabei die jungen Demonstranten zur Besonnenheit auf und bat sie, wenn sie Steine in den Händen hätten, diese fallen zu lassen. Die Demo richtete sich gegen die geplante nukleare Nachrüstung von Mittelstreckenraketen, kurz hieß diese Politik: Nato-Doppelbeschluss. Böll zählte auch zu den Blockierern von Mutlangen.
Moralische Instanz
Er war eine „moralische Instanz“, eine Ehre, die man ihm zuwies abseits aller Anfeindungen. Dazu passt, dass dieser Mann, der Ämter nie anstrebte und überhaupt von eher Bescheidenheit geprägt war, Präsident des nationalen wie des internationalen PEN wurde und sich um die Interessen der Schriftsteller kümmerte, wozu auch die gerechte Bezahlung von Autoren und Übersetzen zählte.
Böll war ein gesamtdeutscher Autor, dessen Werke auch früh ins russische übersetzt und in der alten Sowjetunion vielfach gelesen wurden, er ist so gesehen vielleicht ein literarischer Vorbereiter der späteren Politik der Entspannung und Aussöhnung mit dem Osten, wie sie Brandt und Bahr gemacht haben. Heute wirkt seine Haltung, seine Einmischung in gesellschaftliche und politische Debatten, aktueller denn je, gerade auch durch seine rheinische Mischung aus Rebellion, Anpassung und Gesellschaftskritik. Für Jüngere mag Heinrich Böll teils Geschichte geworden sein, seine Werke überdauern. Wer nach Irland fährt und Böll nicht schon gelesen hat, sollte seine Irischen Tagebücher lesen, ein Genuß. Und von dort findet sich leicht ein Weg zu den vielen anderen Schriften dieses großen Deutschen, darunter „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“, „Nicht nur zu Weihnachtszeit“, „Und sagte kein einziges Wort“, das Brot der frühen Jahre“, „Billard um Halbzehn“, „Ansichten eines Clowns“.
Peter Merseburger: Willy Brandt. dva Stuttgart-München, 2002. 928 Seiten.
Süddeutsche Zeitung, 19. Dezember.
Heinrich-Böll-Stiftung.
Bildquelle: Wikipedia, Marcel Antonisse / Anefo – Nationaal Archief, CC BY-SA 3.0