Der Rechtsstaat scheint in der Krise. G20-Ausschreitungen in Hamburg, willkürliche Verhaftungen deutscher Bürger in der Türkei und jetzt auch in Spanien, Hooligans führen die Polizei in den Stadien vor, Dieselbetrug an Millionen Verbrauchern, islamistische Gefährder, die sich bei uns frei bewegen können, und die Hasskommentare im Internet sind trotz des neuen „Facebookgesetzes“ nicht weniger geworden. Kaum eines dieser Verbrechen und Vergehen wird geahndet. Warum geschieht das alles ganz überwiegend folgenlos? Ist der Rechtsstaat zahnlos geworden?
Heiko Maas: Das sind in der Tat eine Menge Fragen und Themen, die sehr unterschiedlich zu bewerten sind. Zunächst einmal, der Rechtsstaat ist nicht in der Krise. Ganz im Gegenteil zeigt die Bewältigung der einzelnen Ereignisse und Probleme, dass er sehr effizient und zuverlässig wirkt. Aber, wie in jedem System, gibt es auch mit Blick auf die von Ihnen angesprochenen Themen Dieselskandal oder Hasskriminalität im Internet noch Lücken, die es zu schließen gilt. Beim Klagerecht für viele betroffene Verbraucher haben wir einen Vorschlag gemacht: mit der Musterfeststellungsklage soll es jedem ermöglicht werden, kostengünstig und einfach sein Recht einzuklagen. Das könnte aber auch im Fall des Abgasskandals ein wirksames Mittel sein. Leider hat die CDU/ CSU hier von Anfang massiv blockiert. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist wichtig, um Hasskriminalität wirksamer zu bekämpfen. Es sorgt dafür, das auch riesige Unternehmen, sich an unser Recht halten müssen. Wir müssen alles tun, um unseren Rechtsstaat durchzusetzen.
Der Haftbefehl für den deutschen Schriftsteller Dogan Akhanli empört Berlin, so der Aufmacher der Süddeutschen Zeitung. Wie kommt einer wie Erdogan dazu, einen deutschen Staatsbürger in Spanien festnehmen zu lassen? Wieso lässt die EU Haftbefehle eines undemokratischen Regimes über internationale Polizeibehörden vollstrecken?
Heiko Mass: Klar ist: Das rechtsstaatliche Europa darf nicht zulassen, dass jeder Kritiker des türkischen Regimes der willkürlichen Verfolgung ausgesetzt ist. Herr Erdogan hat in diesem Fall das für grenzüberschreitende Ermittlungen im Einzelfall durchaus notwendige Mittel der Rotecken-Fahndung schlicht missbraucht. Wenn es ein solches internationales Fahndungsersuchen gibt, kann aber jeder Staat noch für sich entscheiden, ob er das Ersuchen national umsetzt. Das ist kein Automatismus. Im Gegenteil: Die Interpol-Regeln verbieten sogar jede politische Aktivität. Deutschland hat insofern schon vor langer Zeit entschieden, das entsprechende Fahndungsersuchen nicht umzusetzen.
In einem Leitartikel der Frankfurter Rundschau wurde die Türkei Erdogans als Unrechtsstaat bezeichnet. Geht das zu weit? Wie sieht die Bundesregierung die weiteren Perspektiven zur Zusammenarbeit mit der Türkei, u.a. auch als NATO-Partner?
Heiko Maas: Es ist Fakt, dass das, was Herr Erdogan tut, allen rechtsstaatlichen Prinzipien widerspricht. Er füllt die Gefängnisse mit Kritikern und benutzt sie offensichtlich als Geiseln seiner Politik. Darunter sind viele Journalisten, Rechtsanwälte und Richter. Damit schadet er am Ende seinem eigenen Land, in dem er es politisch isoliert und auch wirtschaftlich schädigt. Die Bundesregierung wird sich auch weiterhin mit ganzer Kraft für die zu Unrecht Inhaftierten einsetzen.
Was sagt der Justizminister zu den Attentaten in Barcelona und anderswo? Auch in Deutschland hat es Anschläge gegeben, in London, Paris, Nizza, auch gerade in Finnland, vorher in Stockholm. Kann man dem Problem mit dem Gesetz beikommen, also härtere Gesetze schaffen, mehr Überwachung, Kontrollen, Zäune, Mauern? Wenn die Anschläge nicht zu verhindern sind, weil das Auto zum Mordwerkzeug wird, das jeder Zeitgenosse fährt, was ist dann noch zu tun? Wie könnten wir langfristig und erfolgreich die Ursachen des Terrorismus zu bekämpfen?
Heiko Maas: Absolute Sicherheit kann in einer freien Demokratie leider niemand versprechen. Aber: Unsere Sicherheitsbehörden werden alles tun, was in ihrer Macht steht, um Anschläge zu verhindern. Unsere Antwort auf die terroristische Bedrohung ist der wehrhafte Rechtsstaat. Wo es nötig war, haben wir unsere Gesetze verschärft. Täter müssen sehr konsequent verfolgt und zur Rechenschaft gezogen werden. Und: Gegen Hass und daraus resultierende Gewalt müssen wir auch präventiv vorgehen. Das wirksamste Heilmittel, damit es erst gar nicht zu Gewalt kommt, ist und bleibt Bildung. Wir müssen frühzeitig verhindern, dass insbesondere junge Menschen in die extremistische Szene abdriften.
Eine Frage zum Sport, im weiter gehenden Sinn: Jede Woche werden Ausschreitungen bei Fußballspielen gemeldet, werden Bengalos gezündet, Feuerwerks-Raketen in die Reihen der Gegner geschossen. Brauchen wir in den Stadien, vor den Eingangstoren mehr Kontrollen, Zugang nur mit Personalausweis? Kaum eine Woche vergeht, in der so genannte Fans nicht die Einrichtung von Zügen der Deutschen Bahn verwüsten. Gerade wieder passiert, als Kölner Fans ihrer Enttäuschung der Niederlage in Gladbach Luft machten und auf der Rückfahrt die Posten des Zuges zerschnitten. Wen kann man hier zur Verantwortung ziehen, wer zahlt den Schaden? Sollte der Verein nicht diese Züge mieten können oder der Fanklub?
Heiko Maas: Ich muss Sie um Verständnis bitten, dass ich mich zu Haftungsfragen in Einzelfällen als Justizminster nicht äußern darf. Es stimmt, dass sich im Fußball mit zunehmender Verrohung ein gesellschaftliches Problem offenbart, das wir leider auch andernorts beobachten. Insofern ist der Fußball ein Spiegelbild der Gesellschaft. Gerade im Internet ist ein hoher Aggressivitätsgrad festzustellen. Klar ist: Gewalttäter müssen mit aller Konsequenz zur Rechenschaft gezogen werden. Das Thema Gewalt ist sicherlich nicht durch die Vereine allein zu lösen, da sind wir alle gefragt – die Justiz, die Polizei, die Vereine. Es gibt bereits eine Menge Projekte, Fanprojekte, wissenschaftliche Untersuchungen, das Nationale Konzept Sport und Sicherheit. Wichtig ist: wir müssen auch den Ursachen auf den Grund gehen, warum es Gewalt im Zusammenhang mit Fußball gibt – da sind sowohl die Politik als auch die Gesellschaft am Zug.
Herr Maas, in wenigen Wochen wird gewählt. Die SPD scheint abgeschlagen, Ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz kämpft und kämpft, aber er kommt nicht voran. Sollte die SPD sich langsam auf die Zeit der Opposition vorbereiten?
Heiko Maas: Nein. Vergangene Wahlen haben gezeigt: Die Wählerinnen und Wähler entscheiden sich immer später. Der Wahlkampf wird erst auf den letzten Metern entschieden. Martin Schulz packt genau die richtigen Themen an. Er setzt auf soziale Gerechtigkeit: Gleichen Lohn für gleiche Arbeit für Frauen und Männer. Eine gute Rente für alle, die sich ein Leben lang krumm gemacht haben. Eine bezahlbare Miete, auch in den größeren Städten. Dafür hat die SPD klare Konzepte. Ich bin mir sicher, die Menschen haben ein feines Gespür dafür, wer einer Debatte immer nur ausweicht und wer Ihre Probleme wirklich anpacken will.
Die einzige Chance der SPD, wenn es ganz gut laufen würde, wäre Rot-Rot-Grün. Würden Sie das empfehlen, eine Koalition mit der Linken, gesteuert von einem früheren Sozialdemokraten, Oskar Lafontaine? Sie kennen ihn schon aus ihrer gemeinsamen Zeit im Saarland: Was treibt ihn an, der Hass auf die SPD, auf Gerhard Schröder? Auch Sarah Wagenknecht hämmert ja nur gegen die SPD.
Heiko Maas: Ehrlich gesagt, Koalitionsaussagen vor Wahlergebnissen haben noch nie Sinn gemacht. Klar ist, die SPD wird immer nur mit einem verlässlichen Partner an ihrer Seite regieren.
Ein schwieriger Gegner für die SPD ist auch die AfD. Im NRW-Wahlkampf zeigte sich, dass die AfD vor allem in Problemregionen mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Ausländeranteil-Beispiele gibt es im Ruhrgebiet mit Essen und Gelsenkirchen- ziemliche Erfolge hatte- zu Lasten der SPD. Muss die SPD stärker die Themen besetzen, mit denen die AfD ihre Propaganda-Politik betreibt? Müssen Sie nicht mehr Politik erklären, zum Beispiel den Einheimischen klarmachen, dass die Integration der Ausländer eben auch viel Geld kostet? Dass das aber nicht dazu führen wird, dass die SPD die Einheimischen vernachlässigt. Ein Wir-Gefühl, das Johannes Rau einst gerade in NRW schuf, ist leider nicht zu spüren.
Heiko Maas: Keine andere Partei in diesem Land steht so sehr für den Gedanken der Solidarität und Gerechtigkeit wie die SPD. Das wissen die Menschen. Die AfD spielt mit den Sorgen und Ängsten der Menschen. Mit dem Verdrehen von Wahrheit und gezielten Provokationen wollen sie Unsicherheit und Missgunst schüren. Dagegen kommt man nicht mit Emotionen an, sondern nur mit Fakten und sachlichen Argumenten. Das ist mühsam und überzeugt sicherlich auch nicht mehr jene, die sich nur noch auf das Meckern verlegt haben, aber es ist unsere Aufgabe als Demokraten. Allein den Protest zu wählen, hat in unserem Land noch nie zu etwas Besserem geführt.
Das Internet und die Meinungsfreiheit. Selten ist so ein Gesetz in den letzten Jahren so kontrovers diskutiert worden wie Netzwerkdurchsetzungsgesetz oder wie es oft genannt wird das „Gesetz gegen Hasskommentare“. Bisher scheint das ein wirkungsloses Instrument zu sein, wenn man sich in den „Social Media“ mal umschaut. Hass und Gewaltaufrufe, die nahezu schrankenlose Verletzung unserer Werte sind immer noch Alltag. Die Konzerne wie Facebook & Co. sind immer noch unerreichbar für den Rechtsstaat und zahlen zudem kaum oder gar keine Steuern in Deutschland. Kann sich das der Rechtsstaat, können wir uns das als Gesellschaft weiterhin gefallen lassen?)
Heiko Maas: Ich bin sehr froh, dass das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in Kürze in Kraft tritt. Es löst zwar nicht alle Probleme, ist aber ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung von Hasskriminalität und strafbaren Fake News in sozialen Netzwerken. Die Meinungsfreiheit endet da, wo das Strafrecht beginnt. Auch US-Internet-Giganten müssen sich wie jeder andere an deutsches Recht halten – egal, ob es sich um Telemediengesetz oder das Steuerrecht handelt. Das Telemediengesetz verpflichtet sie schon lange, strafbare Kommentare zu entfernen. Dieser Pflicht sind Sie nicht nachgekommen. Und das, obwohl die Hasskriminalität in den vergangen Jahren dramatisch gestiegen ist. Facebook, Twitter und co. sollten kein Interesse daran haben, dass Ihre Plattformen zur Verbreitung von Volksverhetzung, Morddrohungen oder Beleidigungen missbraucht werden.“
Bildquelle: BMJV, photothek / Thomas Köhler
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