„Die Rückkehr des Politischen“ titelte die angesehene Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Und machte dafür den Hype um Martin Schulz verantwortlich, zählte spontane Demonstrationen in vielen Städten Deutschlands für das vereinte und friedliche Europa auf. „Die Jungen entdecken die Parteien wieder“, wollen die Redakteure des Wochenmagazins herausgefunden haben. In der Tat scheint das Interesse an Politik wieder geweckt worden zu sein, durch Trump, die Populisten in Europa wie Le Pen und den deutschen Ableger die AfD. Allein die SPD in NRW hat seit Jahresbeginn rund 3600 neue Eintritte, darunter viele Junge, Schüler, Studenten, Auszubildende. Die Sorge um die Demokratie und vor den Rechten scheint sie zu einen.
Proppenvoller Saal
Ob das alles nachhaltig ist, ob das anhält, steht dahin. Das Interesse ist da, der Zulauf enorm. Vor ein paar Tagen trat die SPD-Chefin und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft in einem Hotel in der Nähe des Bonner Hauptbahnhofs auf. Plakate an einigen Stellen der Stadt luden dazu ein, die Veranstaltung sei frei, also für Jedermann zugänglich. Sie werde zwei SPD-Bewerber aus Bonn für den nächsten Landtag vorstellen. Beginn 18 Uhr. Zunächst sah alles nach einem klassischen SPD-Treffen aus, es kamen ältere und noch ältere Zuschauer, also Rentner, einige am Stock, nur vereinzelt schien sich ein Jugendlicher verirrt zu haben. Dann, so zehn Minuten vor dem angekündigten Beginn strömten die Jungen, Schüler, Studenten, Auszubildende, zumeist in Gruppen. Und in wenigen Minuten war der Saal proppenvoll, es mussten zig Stühle herangeschafft werden. Es mögen 250 Menschen gekommen sein oder ein paar mehr. Und das an einem Abend bei bestem Frühlingswetter.
Gut, Hannelore Kraft ist nun mal die beliebteste Politikerin im Lande, sie rangiert auf Bundesebene sicher auch unter den Top Ten.
Die Leute sitzen in dem Saal und warten, dass es losgeht. Nichts passiert, keine Frau Kraft weit und breit. Aber man ist geduldig, kein Murren, sondern Warten, Irgendwann so gegen 18.20 Uhr erbarmt sich ein Sprecher der SPD und erklärt den Zuschauern die Gründe: der dichte Verkehr und dann sei noch ein Interview mit der heimischen Zeitung geführt worden. Die Leute nicken und warten. Als die Ministerpräsidentin schließlich von hinten den Saal gemeinsam mit ihren SPD-Kandidaten betritt, freundlicher Beifall. Nur meiner Nachbarin war das Warten zu viel, sie fuhr enttäuscht nach Hause.
Man merkt schnell die Popularität von Hannelore Kraft, auch in den Gesichtern der Jungen sieht man, wie neugierig sie auf die Frau auf dem Podium sind. Sie sind gekommen, um sich zu informieren. Sie hören zu, applaudieren. Es sind nicht nur SPD-Mitglieder da.
Aus 47 Teilen ein Grill
Frau Kraft stellt die Kollegen an ihrer Seite vor: Gabriel Kunze, ein künftiger Jurist, der sich so ganz nebenbei und freiwillig in einem Bonner Betrieb umgesehen hat, in dem für die ganze Welt Weck-Gläser hergestellt werden. Kuntze erzählt von seinen Erfahrungen am Arbeitsplatz, der für ihn fremd ist, vom Schichtbetrieb, der die Beschäftigten natürlich irgendwie belastet. Sein Nachbar Peter Kox hat sich in Behinderten-Werkstätten umgesehen, hat erlebt, wie die jungen Menschen aus 47 Einzelteilen einen Grill zusammenbauen, der auf dem freien Markt für nicht wenig Geld verkauft wird.
Hannelore Kraft moderiert die Gesprächsstunde, fragt und hakt nach, sachlich, freundlich, zielgerichtet, das Thema im Blick. Man weiß aus Düsseldorf, dass sie stringent ihre Regierung leitet. Auf dem Podium erklärt sie, die selber in den Jahren außerhalb der Wahlkämpfte Firmen besucht, um Erfahrungen vor Ort zu sammeln(Tatkraft nennt sie das Format, was von der Opposition kritisch begleitet wird) den Sinn der Einsätze ihrer Parteifreunde, was keine Einzelfälle sind: sie sollen auf dem Boden bleiben, den Alltag der Menschen in den Betrieben kennenlernen, damit sie wissen, was draußen passiert.
Den Zuhörern erklärt Hannelore Kraft zu Beginn, dass diese Veranstaltung im Hotel der Information diene, Informationen der Politiker an die potentiellen Wählerinnen und Wähler. Wahlkampf ist das im eigentlichen Sinne noch nicht, der beginnt erst im April. Und so erfährt der Zuhörer, dass Menschen mit Behinderung unbedingt arbeiten wollten, auch sie wollten gefordert sein, wollten qualifizierte Arbeit leisten. Wörtlich Peter Kox: „Die Menschen brauchen das für ihr Selbstverständnis“.
Politik neu entdeckt
Wahlkampf-Parolen bekommt man an diesem Abend nicht zu hören, es geht eher moderat und sachlich zu. Natürlich versäumt Hannelore Kraft nicht, den Zuhörern die vermeintlichen Erfolge ihrer Regierung mitzuteilen und die Pläne für die nächste Legislaturperiode zu erwähnen. So sagt sie klipp und klar zum Thema befristete Arbeitsverhältnisse: „Weg damit. Das passt nicht mehr in die Zeit. Wir brauchen gut ausgebildete Fachkräfte und die werden gesucht.“
Politik neu entdeckt. Das sagt sich leicht, angesichts der Nichtwählerzahlen bei früheren Wahlen und der Gleichgültigkeit, die einem bei manchen politischen Debatten von Zuhörern entgegenschlug. Aber plötzlich scheint Politik zu interessieren, hat der Brexit die Jungen aufgescheucht, sie nachdenklich gemacht. Schließlich ist das Europa ohne Grenzen ein Geschenk, in dem man reisen darf, wann und wohin man will. Und auf einmal scheinen sich die Menschen um dieses Europa zu sorgen, um das demokratische Deutschland, das es in besserer Form nie gab.
Der Ministerpräsidentin fehlt es nicht an Selbstvertrauen. Das weiß man, und wenn nicht, spürt man es auch an diesem Abend. Sie hat ja ihre eigenen Erfahrungen mit den Männern auch in SPD-geführten Regierungen gemacht, sie hat das Scheitern der SPD in NRW erlebt, ging den Weg in die Opposition an der Spitze der gebeutelten Partei, die dann 2010 den Wiedereinzug in die Staatskanzlei in Düsseldorf schaffte und die vorgezogene Neuwahl 2012 sogar mit Bravour gewann. Plötzlich war sie die Hoffnungsträgerin der SPD, die Traumergebnisse bei Bundesparteien erzielte-nein, nicht die 100 Prozent von Schulz-, man wollte sie zur Kanzlerkandidatin küren, doch sie wehrte ab und blieb im Lande, auch mit der Begründung, sie habe noch Wichtiges zu erledigen. Wie zum Beispiel ihren Kernsatz: „Kein Kind zurücklassen“ in reale Politik zu übertragen.
Keine Gebühren für Meisterprüfung
Die Studiengebühren hat ihre Regierung gegen den Protest von CDU und FDP abgeschafft. Hier im Bonner Hotel sagt sie dazu nur: „Und das bleibt so.“ Dann schiebt sie nach. Sie begegne hin und wieder dem Vorwurf, man kümmere sich nur noch um die Studierenden, die künftigen Akademiker. Dem widerspricht sie an diesem Abend mit der Erklärung: Die Gebühren für die Meisterprüfung werden abgeschafft. Punkt.
Stichwort Kita-Gebühren. Das letzte Kita-Jahr bleibt frei. Als später am Abend der Wunsch geäußert wird, man möge doch die Kita-Gebühren grundsätzlich freistellen, stellt sie klar: Das sei nicht möglich, dann müsste sie die Steuern erhöhen. Und das wolle sie nicht. So ganz nebenbei erwähnt sie, dass ihre rot-grüne Landesregierung auch die Auflage des schuldenfreien Haushalts erfülle. Gut, dabei hat ihr die brummende Wirtschaft geholfen, aber dass es brummt, wird man einer Regierung ja nicht vorwerfen wollen. Möglich, dass ihr Finanzminister Norbert Walter-Borjans mit seinem erfolgreichen Kampf gegen die Steuer-Hinterziehung seinen Beitrag dazu geleistet hat. Jedenfalls kamen dadurch auch Milliarden Euro in die Kasse. Und sie streut ziemlich ruhig und gelassen ein, dass die Mitbewerber- so nennt sie die politische Konkurrenz aus der CDU- sie früher mal als Schulden-Königin bezeichnet hatten. Richtig ist, dass man das seit einiger Zeit nicht mehr hört. Aber gut, der Wahlkampf kommt ja erst noch.
Aufbau West statt Ost
Der soziale Wohnungsbau ist ein Thema nicht nur in NRW, das Problem, dass sich vor allem junge Familien kaum noch Wohnungen in einer Stadt leisten könnten, die Kinderarmut ist auch in einer wirtschaftlich eigentlich starken Stadt wie Bonn ein Sorgenkind: Jedes fünfte Kind ist von Kinderarmut bedroht. Rot-Grün hat die Mittel für den sozialen Wohnungsbau um 1,1 Mrd Euro erhöht, viel Geld, das aber nicht reicht. Auch hier gilt der Satz, der mehr ein Wunsch ist: Kein Kind zurücklassen. Denn das Problem ist ja nicht gelöst. Es wird dauern. Es wird auch dauern, bis die Schulen saniert sind, bis die Infrastruktur im bevölkerungsreichsten Land so ist, dass der Stau nicht mehr zu den Spitzen-Nachrichten des Landes gehört. 14 Milliarden Euro werden bis 2030 in Autobahnen und Brücken investiert. Der lange zugunsten des Aufbaus im Osten vernachlässigte Westen ist nunmehr an der Reihe.
Den Kritikern ihrer Energiepolitik weicht die Ministerpräsidentin nicht aus und sie geht auch nicht vor ihnen in die Knie. Heißt: Trotz aller Kritik und Umweltbelastung bleiben die Kohlekraftwerke am Netz, brauchen wir noch auf Jahre die Braunkohle. Weil, so Kraft, man sichere und bezahlbare Energie brauche. Was aber nicht heißen dürfe, dass man beim Flächenverbrauch einfach so weitermachen dürfe wie bisher. Vielmehr müssten u.a. Industriebrachen saniert werden, damit auf dem Gelände wieder Industrie angesiedelt werden könne.
Problem innere Sicherheit
Zum Schluss kommt sie auf ein wichtiges Thema, die innere Sicherheit zu sprechen, wissend, dass dies die Menschen im Lande bewegt, dass die Menschen in Sorge sind über die steigenden Einbrüche und dass die Vorgänge damals in Köln, als viele Frauen belästigt und teils vergewaltigt worden waren, viele Menschen verärgert und verunsichert hat. Den Namen ihres umstrittenen Innenministers Jäger erwähnt sie nicht, auch nicht den Untersuchungsausschuss des Landtags dazu. Die Zahl der Einbrüche sei zurückgegangen, betont sie, überhaupt sei die Entwicklung in der Bekämpfung der Kriminalität positiv.
Dass da in der Vergangenheit aber einiges schief gelaufen sei, dafür macht sie auch und vor allem die Vorgänger-Regierung aus CDU und FDP verantwortlich, die die Zahl der Polizeistellen erheblich reduziert habe. Rot-Grün habe dann zunächst mal die Ausbildungsstellen nach oben gesetzt, weil man ja Polizisten nicht aus dem Hut zaubern könne, sondern diese erst ausgebildet werden müssten. Auch in der Justiz würden neue Stellen geschaffen, weil sie der Meinung sei, die Strafe müsse auf dem Fuße folgen. Hannelore Kraft verspricht, diese Politik fortzusetzen. Garantien könne sie keine geben, aber es werde alles getan, um den Menschen ein Gefühl der Sicherheit zu geben.
Kritik der Opposition
Die Opposition hat der Regierung Kraft mehrfach vorgehalten, NRW werde schlecht regiert, das Land habe die schlechtesten Daten, es sei der kranke Mann in Deutschland. Die Daten sind besser geworden, nicht berauschend, aber es geht aufwärts, das belegen u.a. die Wachstumszahlen. Und in manchen Bereichen ist das Land wieder Spitze. In NRW studierten zurzeit 760000 Studentinnen und Studenten, 230000 mehr als 2010, als sie die Regierung übernahm. Hannelore Kraft erwähnt das nicht ohne Stolz und betont: „Jeder vierte Student studiert hier im Lande“.
Fazit für die Ministerpräsidentin, das die Opposition nicht teilen wird: „Wir sind gut unterwegs.“ Im Saal widersprach ihr niemand.