Der Weg nach Jamaika ist jäh gescheitert. Unionschristen, Liberale und Grüne sondierten und sondierten viele Tage und Nächte hindurch. Doch dabei fanden die politischen Spürnasen mehr und mehr heraus, was sie mehr trennt, denn was sie verbindet. Es konnte einfach nicht zusammenwachsen, was auch nicht zusammenpasst. In über 200 Detailpunkten herrschte der Dissens vor. Das hätte sich auch in den späteren Koalitionsverhandlungen nicht glätten und schon gar nicht überwinden lassen. Krachende Auseinandersetzungen wären die Folge gewesen. Die beteiligten Parteien hätten bei vielen wichtigen Gesetzesvorhaben kaum Mehrheiten im Parlament dafür gefunden.
Ende der Jamaika-Tour
Zum einen sind die Grünen keine homogene Partei: Die Vorstellungen der Fundis sind doch sehr weit von denen der Realos entfernt. Zwischen Özdemir und Trittin liegen Welten. CDU und CSU sind zwar nolens volens aufeinander zugegangen und haben nach der Bundestagswahl Kompromisse zusammengezimmert – wie etwa in der Flüchtlingspolitik. Doch auch in der Union sind in manchen Details der Politik recht unterschiedliche Strömungen zu registrieren. Jedenfalls atmen nicht wenige Christdemokraten und Christsoziale nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche auf, weil sie bereits eine Vergrünung fürchteten.
Schließlich konnte sich Christian Lindner, der die Liberalen erfolgreich wieder in den Bundestag führte, auf die vielen Kompromisse nicht einlassen, die für ein Gelingen von Jamaika erforderlich geworden wären. Sein Pochen auf Profil und Eigenständigkeit mag zwar zu dem für viele überraschenden Knall und Ende der Sondierungsmundwerker geführt haben. Doch der Mut, ein Ende mit Schrecken statt ein Schrecken ohne Ende zu wagen, findet den Beifall breiter Schichten des liberalen Politpublikums.
Gegen die Vergrünung der Union
Angela Merkel war zwar bis zuletzt bemüht, als Moderatorin die Wogen zu glätten und die Sondierungsparteien in eine Koalition zu führen. Was sie als Vorsitzende der CDU, immerhin mit 26 % noch die stärkste Truppe im Parlament, an politischen Schwerpunkten auf der Agenda hatte, das ist bis heute nur den wenigsten deutlich geworden. Ja, sie will Chefin der Bundesregierung bleiben. Das ist ihr strategisches Ziel schon vor der Bundestagswahl gewesen. Und das bleibt es auch fürderhin, da sie trotz des tiefen Einbruchs von CDU und CSU nicht erkennen kann, was sie hätte anders machen sollen.
Der Bundespräsident in Aktion
Nun gilt es umzusteuern. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das Heft des Handelns in die Hand genommen. Er mahnt alle Parteigranden zum Um- und Nachdenken, um doch noch eine Mehrheit im Bundestag und damit für eine Regierungsbildung zu organisieren, vor allem aber auch, um Neuwahlen zu verhindern. Die Bemühungen des Präsidenten kommen Angela Merkel sehr entgegen. Sie will ebenfalls die Wähler nicht erneut an die Urnen bitten, denn die Wahlergebnisse wären wahrlich unberechenbar – vor allem auch für die CDU und CSU. Sie mag sich aber auch nicht auf eine risikoreiche Minderheitenregierung einlassen. Das Erpressungspotenzial derer, die dann der Kanzlerin zur Mehrheit verhelfen müssten, wäre riesig und eben unkalkulierbar.
Erst das Land, dann die Partei!
Der Bundespräsident versucht nun, die Tür zu einer Neuauflage der Großen Koalition aufzustoßen. Für den nächsten Donnerstag hat er die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD zum Gespräch in seinen Amtssitz eingeladen. Frank-Walter Steinmeier dürfte mit Engelszungen auf die drei einreden, mit seinen großen Kenntnissen und seinen Erfahrungen auf die staatspolitische Verantwortung der Parteiprotagonisten hinweisen. Das ist schon sehr viel, mehr kann er kaum im Dienste für das Land leisten. Niemand kann und darf sich aus parteipolitischem Kalkül verweigern und die mahnenden Hinweise des Bundespräsidenten in den Wind schlagen.
Neue Züge auf dem politischen Schachbrett
Wie auch immer es ausgehen wird, eine neue politische Hängepartie hat bereits begonnen. Schon jetzt werden die Themen auf dem Schachbrett hin- und hergeschoben. Aus der SPD sind bereits kräftige Forderungen – etwa nach der Solidarrente, der Bürgerversicherung usw. – als Bedingungen für eine Neuauflage des Bündnisses mit der Union zu vernehmen. Ebenso trommeln nicht wenige Sozialdemokraten nach wie vor lautstark gegen eine weitere GroKo. Der Parteivorsitzende Martin Schulz ist gefordert, seine Partei wieder auf einen gemeinsamen Kurs zu bringen. Er selbst hatte fünf Minuten nach Schließung der Wahllokale am Abend des 24. Septembers die Scheidung der Politehe mit der Union verkündet und geradezu leidenschaftlich den Weg in die Opposition gepriesen. Nach dem Scheitern des Sondierungsprozesses für Jamaika bekräftigte Martin Schulz sein Votum und erhielt Beifall von nicht wenigen seiner Parteigenossen.
Umdenken bei der SPD?
Bei einigen Sozialdemokraten hat ein Umdenken indessen längst begonnen. Sie erinnern sich an die Feststellung ihres einstigen Matadors Franz Müntefering, dass „Opposition Mist“ sei. Denn in unserer Demokratie sind stets Mehrheiten erforderlich, um etwas zu ändern und zu gestalten. Nur wer an der Macht beteiligt ist, kann etwas machen; sonst ist man ohnmächtig und wirkungslos.
Angesichts der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen unseres Landes können CDU, CSU und SPD gewiss viele politische Aufgaben entdecken, die in dieser Legislaturperiode dringend gelöst werden müssen. Vollbeschäftigung, Wohnungsbau, Integration, Pflege, Rente, innere Sicherheit, Energie und Klimaschutz, Bildung, Digitalisierung, Steuern und Sozialabgaben, Europa und Afrika sowie vieles andere müssen auf der Agenda stehen, damit Deutschland weiterhin zukunftsfähig bleibt. Der Vorrat an politischen Gemeinsamkeiten ist durchaus groß. Um die Details der Problemlösungen muss gewiss gerungen werden, um zu guten und tragfähigen Kompromissen zu gelangen.
Souverän ist das Volk
Mit soliden Ergebnissen würde unsere Demokratie gefestigt, wäre eine Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft endlich zu realisieren, würde Deutschlands Rolle in der EU und in der Welt gestärkt, würden radikale Kräfte zurückgedrängt. So mag es sich lohnen, den Wegweisungen des mutigen und ermutigenden Bundespräsidenten zu folgen, damit Deutschland ab 2018 wieder von einer stabilen Mehrheit regiert und nicht weiterhin nur von einer geschäftsführenden Bundesregierung verwaltet wird. Ein Selbstläufer wird die GroKo gewiss nicht, denn beide Seiten – die Union und die SPD – müssen sich erneut aufeinander zu bewegen. Das ist nach den Monaten des Wahlkampfes und den Dispositionen in der Zeit danach besonders schwierig, jedoch nicht unmöglich.
Der Souverän in unserer Demokratie ist das Volk. Wenn die Menschen von den Volksparteien letztendlich enttäuscht werden, könnten sie sich in Scharen von der Union und den Sozialdemokraten abwenden. Das Schadensrisiko für unsere Demokratie ist jedenfalls sehr hoch.
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Bildquelle: pixnio, Autor: photo_teria
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