„Sozialist, Kanzler, Patriot“, so der Untertitel zu der Biographie über Willy Brandt, die der langjährige Zeit-Journalist Gunter Hofmann Anfang 2023 veröffentlicht hat. Drei Prädikate, die in der alten Bonner Republik nicht unbedingt gängige Begriffsreihung waren. Sie deuten die Spannbreite an, mit denen Hofmann dem Leben dieses Ausnahmepolitikers nachspürt.
Den einen Willy Brandt für alle gibt es für Hofmann nicht. Nahezu warnend erinnert er im Vorwort daran, der Künstler Andy Warhol habe den SPD-Vorsitzenden 1976 mit 26 Kunstsiebdrucken zur Pop-Ikone erhoben. Immer das gleiche Motiv, Brandt mit Zigarette im Mund, und doch jeder Druck – und damit auch Brandt – immer in anderem Licht. Nicht den Willy Brandt für alle will der Autor zeichnen, sondern „meinen Brandt“.
Hofmann, der als junger Journalist 1969 zu Beginn der Kanzlerschaft Brandts nach Bonn kam, macht aus seiner Sympathie für die zurückhaltende, dialogische Politik des Sozialdemokraten keinen Hehl. Neben persönlichen Begegnungen sind vor allem Brandts eigene Veröffentlichungen Grundlage seiner Annäherungen an den Friedensnobelpreisträger von 1971. Sie sollen nicht mit dem „Mammutwerk“, der von Peter Merseburger 2001 geschriebenen Biographie „Visionär und Realist“ konkurrieren, sondern suchen nach einer Erklärung, warum Brandt immer als der „andere Deutsche“ wahrgenommen wurde. Von den einen verehrt, von anderen aber als „Verräter“ und „Schurke“ beurteilt wurde.
Einen Schwerpunkt widmet Hofmann der Entwicklung Brandts vom „kalten Krieger“ als Berlins Regierender Bürgermeister der 50er Jahre zum Architekten der neuen Ostpolitik, die von CDU und CSU erbittert bekämpft, international aber anerkannt und mit dem Nobelpreis gewürdigt wurde. Gerade in diesen Zeiten, in denen manche Brandts Politik des „Wandel durch Annäherung“ in die Ursünde allzu großen Russland-Verstehens umdichten möchten, ist es verdienstvoll, dass Hofmann den Prozess noch einmal nachzeichnet: kenntnisreich und mit nahezu intimen Details.
Breiten Raum nimmt in der glänzend geschriebenen Biographie das sozialdemokratische Drama, das Zerwürfnis zwischen Willy Brandt und seinem stellvertretenden Parteivorsitzenden Herbert Wehner ein. Obwohl unverkennbar ist, dass Hofmanns Sympathie in dieser Auseinandersetzung Brandt gilt, sucht er nach Erklärungen, warum Wehner sich mit der Führungsrolle Brandts in Partei und Regierung nicht arrangieren konnte. Zwei „andere“ Deutsche, der eine Sozialist, aber der „Mutterkirche SPD“ immer nah, der andere in jungen Jahren Kommunist. Ein Etikett, von dem er sich nie endgültig befreien konnte. Für das er den hohen Preis bezahlen musste, für höchste Ämter außen vor zu bleiben. Andererseits wusste Brandt, dass er als Regierungschef auf die Unterstützung Wehners als Fraktionsvorsitzender angewiesen war. Als dieser sie offen ließ, den Daumen zwar nicht senkte, aber ihn auch nicht hob in der Guillaume-Affäre 1974, zog Brandt die Konsequenz und trat als Kanzler zurück.
Nicht erst in dieser Brandt-Biographie hat sich Hofmann intensiv mit dem Verhältnis des SPD-Vorsitzenden mit dem dritten Mann der sagenumwobenen Troika, Helmut Schmidt, auseinandergesetzt. Schon 2012 hat er diese Beziehung ausführlich als „Geschichte einer schwierigen Freundschaft“ (C.H.Beck-Verlag) beschrieben: Schmidt mit hohem Respekt, Brandt mit Sympathie. Interessant auch, dass er vor der jetzt erschienenen Brandt-Biographie 2015 eine über Helmut Schmidt geschrieben hat, ebenfalls Beck-Verlag. So, als habe er Anlauf genommen und sich eingestimmt auf eine Annäherung an „meinen Brandt“.
Hofmanns Brandt, das ist vor allem der „ewige Dissident“. Der Mann, der geprägt wurde, durch seinen Einsatz gegen Hitler-Deutschland von Norwegen aus. Dort wurde aus dem geborenen Herbert Frahm Willy Brandt, über den eine Mitstreiterin im Widerstand als „Zierde meiner Generation“ schwärmte. In der öffentlichen Debatte der jungen Bundesrepublik reagierte Brandt nach außen hin erstaunlich gelassen auf die Anwürfe – nicht nur von Konservativen, sondern auch aus der eigenen Partei – wegen seiner Vergangenheit als Widerstandskämpfer. Doch Hofmann zeichnet nach, dass der gelernte Journalist in vielen seiner Veröffentlichungen bis ins hohe Alter – vielleicht als Selbstvergewisserung – immer wieder erklärt und begründet hat, warum es für ihn um Deutschlands willen keinen anderen Weg geben konnte. Dissident nicht als Makel, sondern Dissident aus Patriotismus.
Gunter Hofmanns Biographie ist ein großer Gewinn. Ein Gewinn vor allem auch deshalb, weil sie noch einmal ins Gedächtnis ruft, wie sehr die fünfjährige Kanzlerschaft Brandts das Land geprägt und verändert hat.
Gunter Hofmann, Willy Brandt, Sozialist, Kanzler, Patriot, C.H.Beck-Verlag, 517 Seiten, 35 Euro
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