Eine großkoalitionäre Minimallösung gegen Altersarmut
Keine wirksame Armutsbekämpfung durch die Grundrente
Nach einer zum Teil ermüdenden Diskussion darüber hat die Bundesregierung am vergangenen Mittwoch, dem 19. Februar 2020, ihren Gesetzentwurf zur Grundrente beschlossen. Unterschiedlich zusammengesetzte Regierungskoalitionen hatten zehn Jahre lang darüber gestritten, wie man Geringverdienerinnen und Geringverdiener, die fast ihr ganzes Leben lang gearbeitet, damit aber zu geringe Rentenanwartschaften erworben haben, um eine Altersrente oberhalb der Grundsicherung im Alter zu erhalten, wieder vor dem Gang zum Sozialamt bewahren kann.
Vorgeschichte und Hintergrund der Grundrente
CDU, CSU und FDP hatten nämlich am 9. November 1989, dem Tag der Maueröffnung, in dem mit Zustimmung der SPD beschlossenen Rentenreformgesetz die Rente nach Mindestentgeltpunkten zum 1. Januar 1992 auslaufen lassen. Seinerzeit waren Zeiten eines niedrigen Lohns in der Rente aufgewertet worden, ohne dass eine Bedürftigkeitsprüfung existiert hätte, die der Gesetzlichen Rentenversicherung wesensfremd ist. Es gab auch keine Einkommensprüfung, denn mit der Rente nach Mindestentgeltpunkten sollte die Lebensleistung von Geringverdienerinnen und Geringverdienern anerkannt werden.
Keines der zunächst erörterten Modelle („Zuschussrente“, „Lebensleistungsrente“, „Solidarrente“ und „solidarische Lebensleistungsrente“) hat sich durchgesetzt. Immer gab es bei CDU/CSU oder FDP wirtschaftsnahe Kräfte, die eine Kompromisslösung blockiert haben. Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil hat es jetzt geschafft, sein Konzept einer „Respektrente“ – wenn auch stark verwässert – durch das Bundeskabinett zu bringen.
Hiermit erkennt die Bundesregierung an, dass sich Arbeit auch für diejenigen Ruheständlerinnen und Ruheständler lohnen muss, deren Lohn für eine armutsfeste Rente selbst nach 35 Jahren der Beitragszahlung, der Kindererziehung und/oder der Pflege von Angehörigen nicht ausreicht. 1,3 Millionen Kleinstrentnerinnen und -rentner sollen vom 1. Januar 2021 an im Durchschnitt ca. 85 Euro im Monat zusätzlich erhalten. Trotzdem werden sie in aller Regel weiter einkommensarm sein, wenn man die Armutsrisikoschwelle der Europäischen Union (1.035 Euro pro Monat für Alleinstehende) zugrunde legt. Es wird eine Gleitzone geben, die bei 33 Jahren Beitragszahlung beginnt und eine Abbruchkante bei 34 Jahren und elf Monaten vermeidet. Freibeträge in der Grundsicherung und beim Wohngeld sollen sicherstellen, dass auch Menschen die Grundrente erhalten, die in Städten mit hohen Mieten leben.
Einkommenprüfung als Anspruchshürde
Statt einer Bedürftigkeitsprüfung, die der Wirtschaftsflügel von CDU und CSU verlangt hatte, steht eine „umfassende Einkommensprüfung“ auf der Grundlage von Finanzamtsdaten an. Somit bleibt den Betroffenen zwar eine meist als demütigend erlebte Offenlegung der gesamten Lebensumstände erspart, wie sie Sozialleistungsbezieher über sich ergehen lassen müssen. Die vorgesehenen Freibeträge betragen 1.250 Euro für Alleinstehende und 1.950 Euro für (Ehe-)Paare. Ganz von der Grundrente ausgeschlossen bleiben die hauptsächlich betroffenen einkommensarmen Frauen, wenn ihr Einkommen oberhalb von 1.600 Euro bzw. das eines Ehepaares über 2.300 Euro liegt.
Wenn der Staat fragt, was der Mann verdient, liegt dem ein überholtes Familienmodell zugrunde. Dabei soll die Grundrente ja kein staatliches Almosen sein, sondern ein Lohn für Lebensleistung, also für harte Arbeit, Pflege und/oder Kindererziehung. Parteien, die sonst einen „schlanken Staat“ favorisieren und Bürokratie abbauen wollen, können plötzlich gar nicht genug bürokratische Hürden errichten, wenn es um die Schaffung von mehr sozialer Gerechtigkeit geht. Bei der Mütterrente, welche die CSU durchgesetzt hat, findet jedoch bezeichnenderweise keine Einkommensprüfung statt.
Was vom ursprünglichem Plan übrig blieb
Vergleicht man den Gesetzentwurf der Bundesregierung mit dem ursprünglichen Konzept von Hubertus Heil, so fällt auf, dass sich die Zahl der Anspruchsberechtigten, die in den Genuss der Grundrente gelangen werden, ebenso mehr als halbiert hat wie die für das Projekt veranschlagten Finanzmittel. Ursprünglich sollte eine Friseurin, die 40 Jahre auf Mindestlohn-Niveau gearbeitet hat und trotzdem nur eine Rente von 512,48 Euro erhält, mit der Grundrente monatlich auf 960,90 Euro kommen. Was jetzt herausgekommen ist, ist im Vergleich dazu nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Damit bekämpft man Altersarmut nicht wirksam, und das wissen auch die Koalitionspolitiker. Es handelt sich um Symbolpolitik, ähnlich wie beim Klimapaket der Bundesregierung.
Heils ursprünglicher Plan hätte ca. 3,8 Milliarden Euro pro Jahr beansprucht; zugestanden hat ihm die Union jetzt gerade einmal 1,4 Milliarden Euro. Wenn es um Maßnahmen zur Bekämpfung der wachsenden Altersarmut geht, die mehr Respekt für arbeitende Menschen bedeuten und ihnen nach einem langen Erwerbsleben ein Alter in Würde ermöglichen sollen, weisen konservative Politiker und wirtschaftsliberale Publizisten fast zwanghaft auf die knappen Finanzmittel des Staates hin. Als der Rüstungshaushalt in den vergangenen zwei Jahren um 7 Milliarden Euro erhöht wurde, hat niemand gefragt, woher das Geld dafür kommen soll. Als etwas für alte Menschen getan werden sollte, die wenig zum Leben haben, wurde monatelang um die Finanzierung gestritten. Dies zeigt, wie kleinherzig die Union ist, wenn es um Maßnahmen zur Armutsbekämpfung geht.
Ein kritisches Fazit
CDU/CSU und SPD haben das Problem, welches gelöst werden soll, zusammen mit FDP und Bündnis 90/Die Grünen selbst herbeigeführt. Der Niedriglohnsektor ist nicht vom Himmel gefallen – die Regierungsparteien haben ihn geschaffen. Heute ist er das Haupteinfallstor für Altersarmut. Dass dieser Bereich bei uns stärker gewachsen ist als in sämtlichen anderen Ländern Westeuropas, hat zwei Ursachen: Durch die „Agenda“-Reformen und die Hartz-Gesetze ist der Arbeitsmarkt in bis dahin nicht gekanntem Umfang dereguliert worden. Man hat den Kündigungsschutz gelockert, die Leiharbeit liberalisiert sowie Mini- und Midi-Jobs eingeführt sowie Werk- und Honorarverträge erleichtert. Außerdem wurde die gesetzliche Rentenversicherung schrittweise demontiert, zuletzt durch Erhöhung der Regelaltersgrenze.
Ähnlich problematisch sind die Nebenabreden der Koalition, denen die SPD zustimmen musste, um der Union eine „abgespeckte“ Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung abzuringen: Vorübergehend wird der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von 2,5 auf 2,4 Prozent gesenkt, was vor allem die Unternehmen entlastet. Arbeitnehmer, in deren Portemonnaie sich die Beitragssatzsenkung kaum bemerkbar macht, hätten eher ein Interesse an einer finanzstarken Bundesagentur für Arbeit, die im drohenden Konjunkturabschwung durch länger gezahlte Zuschüsse beim Kurzarbeitergeld und im Zuge der Digitalisierung durch eine Weiterbildungsoffensive für eine Stabilisierung der Beschäftigungslage sorgen muss. Außerdem wird die Höhe des staatlichen Förderbetrages verdoppelt, den Unternehmen erhalten, wenn sie Geringverdiener/innen eine Betriebsrente aufbauen lassen. Schließlich legt der Bund bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) einen Investitionsfonds für Zukunftstechnologien auf, dessen Volumen bis zu 10 Milliarden Euro umfasst.
Von einem „sozialpolitischen Meilenstein“ im Kampf gegen die Altersarmut (Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz) oder einem „riesigen Sieg“ der SPD (Bundesfinanzminister Olaf Scholz) kann überhaupt keine Rede sein. Es handelt sich eher um eine Minimallösung für ein Problem, das diese Partei durch Deregulierung des Arbeitsmarktes (Hartz-Gesetze), Teilprivatisierung der Altersvorsorge (Riester-Reform) und Absenkung des Rentenniveaus (von 53 Prozent um die Jahrtausendwende auf 48 Prozent heute) selbst herbeigeführt hat.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ veröffentlicht.
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