Es ist wohl eine Generationenfrage angesichts des Rauschzustands, in dem die Grünen sich befinden, nüchtern zu bleiben. Ja, man reibt sich als älterer Zeitgenosse, der die Gründung der Grünen 1980 in Karlsruhe erlebt hat, die Augen, weil man nicht so recht glauben kann, was sich da abspielt. Aus der Bewegung, die aus einem Protest gegen das Establishment entstand, die im Grunde alles ablehnte und darunter natürlich die alten Parteien, ist eine konservative Partei geworden, diszipliniert, gut gekleidet, bestens ausgebildet und vernetzt, die erstmals in ihrer auch turbulenten Geschichte eine Kanzlerkandidatin stellt. Und ja, Annalena Baerbock kann nicht nur Kanzlerin, wie es neudeutsch heißt, sie kann sogar dazu durch den Bundestag gewählt werden. Und ich füge hinzu, diese Republik würde es aushalten. Diese Inszenierung war perfekt, wie Robert Habeck der Annalena die Bühne freigab, als wäre es selbstverständlich. Gewollt, friedlich, harmonisch, freundlich, erst Tage später erfahren wir durch ein Zeit-Interview, wie schwer es ihm gefallen sei, zurückzutreten, dass es sein größter Wunsch gewesen(?) sei, Deutschland als Kanzler zu dienen. Höher geht es nicht, oder? Die Medien liefern es so, als wären sie mit den Grünen auf Wolke Sieben.
Vor ein paar Jahren hätten vor allem die Unions-Leute noch den Untergang mindestens von Deutschland an die Wand gemalt, wenn nicht von Europa. aber eine solche Kampagne werden sie sich dieses Mal nicht trauen, weil sie am Ende froh sein müssen, wenn diese Grünen sie mitnehmen in ihr gemeinsames Regierungsboot, um Deutschland zu neuen Ufern zu steuern. Und einige Medien klatschen begeistert in die Hände, der Grünen-Höhenflug reißt sie mit, entzieht ihnen den Boden unter den Füßen. Die Grünen, das ist das Neue, Moderne, Spannende, die SPD vor allem, das ist, wie ich heute in der „Süddeutschen Zeitung“ lesen konnte, um es an Olaf Scholz festzumachen, „Ödnis seit dem Rückzug von Andrea Nahles, „die Generation 60 plus“. Die Traditionspartei SPD, wie das ehedem linksliberale Blatt urteilt, „kann bestenfalls mit Mitleid rechnen.“ Scholz neben Merkel, Seehofer und Altmeier, „Namen inzwischen wie aus dem Paläoarchaikum“. Ein Zeitalter, Millionen Jahre her. Erklärt das Lexikon.
Die Kanzlerin, ich meine die amtierende namens Angela Merkel, wird in der SZ weiterhin in Watte gepackt, und das nicht nur, weil sie auf dem Absprung in die Alterszeit in der Uckermark ist. So wenig Kritik an einem Regierungschef in einer überregionalen Zeitung war selten. Man nehme als jüngstes Beispiel ihren Auftritt im Untersuchungsausschuss zum Riesen-Skandal Wirecard. Da wird gütlich berichtet, sie habe knapp geantwortet, zuweilen sogar heiter. „Eine Kanzlerin dreht keine Verlegenheitsrunden, bis die Fotografin fertig sind, wie es am Tag zuvor der Kanzlerkandidat der SPD getan hatte.“ Womit wir bei Scholz wären, der von der gleichen Autorin am Tag zuvor runtergeschrieben worden war. Zwar konnte sie ihm nichts nachweisen, weil der U-Ausschuss ihm nichts nachweisen konnte, aber damit gab sie sich nicht zufrieden. Sie packte alle ihre Vorurteile gegen Scholz in den Bericht, was dann zwar nichts mehr mit Scholz Auftritt im Wirecard-Ausschuss zu tun hatte, aber eben mit Scholz. „Bei Scholz brennt die Hütte“, zitiert die SZ-Autorin dern CDU-Abgeordneten Matthias Hauer. Wohl weil man der Meinung ist, dass dem Bundesfinanzminister und Kanzlerkandidaten der SPD Versagen der Finanzaufsicht über den kriminellen Dax-Konzern nachzuweisen wäre. Es könne ja nicht sein, hatte am Vortag der Linken-Abgeordnete Fabio de Masi gesagt, dass sich mehr als 20 Milliarden Euro „einfach in Konfetti auflösen“, es müsse „auch jemand eine politische Verantwortung haben“.
Man will Schuld bei Scholz verorten
Jedenfalls gelingt es der Runde nicht, diese Schuld bei Scholz festzumachen. Und ich muss vermuten, dass die Autorin deshalb sich den Kanzlerkandidaten vorknöpft. Und der ist Scholz, was man fast vergessen habe. Und das Dilemma sei nun, „dass er als Zeuge im U-Ausschuss wieder in Erinnerung tritt als jemand, der keine Aufbruchstimmung verbreiten kann, sondern seine Vergangenheit verteidigen muss“. Die SZ-Redakteurin fragt nun weiter, wieviel politische Verantwortung Scholz persönlich trage und wieviel seine Mitarbeiter dafür, „dass der einstige DAX-Konzern Wirecard jahrelang mutmaßlich bandenmäßig betrügen konnte.“ Die Frage beantwortet Scholz im Ausschuß mit: „Nein.“ Und er stellt sich auch vor seine Leute, „das sind sehr gute Leute“, betont der Minister. Dann geht es um E-Mail-Adressen, die Trennung von dienstlichen und privaten Accounts. Die SZ-Kollegin fühlt sich an Hillary Clinton erinnert, „die ebenfalls wegen eines lockeren Umgangs mit Accounts nicht reüssieren konnte.“
Im Leitartikel erfährt der Leser dann, wie die Autorin Scholz beurteilt. „Wie man ihn kennt“ heißt der Titel, in dem auch sympathische Teile des Olaf Scholz angetippt werden, zugewandt und faktensicher, klar in der Argumentation. Dann sein Versprechen, die Aufsicht so umzubauen, dass so ein Milliarden-Euro-Schaden wie bei Wirecard nicht wieder passieren kann. Das wars dann mit der positiven Seite. Denn man kenne ja den Scholz „und weiß deshalb, dass seine Versprechen gelegentlich eine Nummer zu groß für ihn sind.“ Sie erwähnt den G-20-Gipfel, den er zum besseren Hafenfest habe machen wollen mit dem Ergebnis, „dass dann doch geknüppelt wurde.“ Und weil Olaf Scholz lange die Agenda 2010 verteidigt habe, „nehmen ihm manche heute seinen Einsatz für Arme nicht ab.“ Und dass er als Hamburgs Erster Bürgermeister „nichts vom Cum-Ex-Steuerbetrug gewusst haben will, ist umso schwerer zu glauben, weil man eben weiß, wie penibel der Minisier Scholz sein Haus kontrolliert.“
Im Grunde, so das Fazit, „gräbt sich Scholz die Grube selbst, in die er später fällt.“ Weil er sein Gegenüber schon mal unterschätze. Wer so lange im politischen Geschäft sei wie Scholz, „kann keine komplett reine Weste mehr haben“. Und es zeige sich, was diesem Scholz fehle, Eloquenz zum Beispiel. Scholz spreche stoisch und gleichbleibend freundlich, aber so, dass er jedem Himmel die Farbe nimmt. Er ist der pragmatische Vizekanzler, der ein passabler Kanzler sein könnte, würde er einfach nachrücken dürfen, sobald Angela Merkel das Kanzleramt verlässt. Nur, da ist eben ein Wahlkampf dazwischen, in dem er Wähler erobern muss. Und so ist die größte Erkenntnis des Ausschusses: Scholz braucht jemanden, der ihm vormacht, wie man Herzen erobern kann.“ Ich füge für mich hinzu, Scholz braucht zudem Medien, die fair mit ihm umgehen, ihn nicht fertigmachen wollen.
Einseitiger geht es nicht
Einseitiger kann Berichterstattung kaum sein. Aber da ist die SZ nicht allein. Wer Anfang der Woche den Interview-Marathon in den Fernsehsendern mit Annalena Baerbock verfolgt hat, war zunächst über die Reihenfolge erstaunt. Der Privat-Sender Pro 7, nicht unbedingt der Stern am intellektuellen Medien-Himmel, durfte der Grünen-Kanzlerkandidatin als erster Fragen stellen, oder soll man sagen, er durfte sie präsentieren.Schön wars, brav, aber ein Interview? Am Ende erhielt die Kandidatin den Beifall der Pro-7-Befrager, die an keiner Stelle des Gesprächs Distanz zeigten. Aber auch Claus Kleber, der Beste vor der Kamera, hielt sich gegenüber Annalena Baerbock an dem Abend ziemlich zurück. Bescheinigte der Kandidatin „wie ein alter Profi zu agieren“. Aber ansonsten kam rüber: Jung, Frau, zwei Kinder, das wusste man vorher. Caren Miosga war hartnäckiger, fiel aber der Grünen immer wieder ins Wort.Man muss sie ja nicht attackieren, aber ein wenig mehr Inhalt hätte man schon erwarten dürfen. Das mit dem Trampolinspringen waren schöne Bilder, aber sonst? Wenn das der Stil wird, wie die Journalisten mit einer möglichen Grünen-Kanzlerin umgehen, gute Nacht.
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