Wir veröffentlichen nachstehend mit Erlaubnis des Verfasser die Erklärung zu seinem Austritt bei den Grünen. Ein ungemein treffender und trefflich formulierter analytischer Text. Treffender kann man die aktuelle Abkehr der Grünen von den Wurzeln in der Friedensbewegung und die Wende hin zu einer gefährlichen „olivgrünen“ Verirrung nicht feststellen.
Prof. Dr. Ulfried Geuter:
„Ich habe mir viele Gedanken gemacht und würde gerne dazu beitragen, dem Irrsinn in der gegenwärtigen deutschen Politik entgegenzusteuern, und sei es mit dem winzigen Beitrag meiner Austrittsbegründung.“
Austrittsschreiben:
Ich war einmal froh und stolz, ein Grüner zu sein. Als sich die rot-grüne Bundesregierung gegen den vereinten Druck der konservativen Presse dafür entschied, nicht beim Angriffskrieg US-amerikanischer und britischer Truppen auf den Irak mitzumachen. Als sich der grüne deutsche Außenminister Joschka Fischer 2003 auf der Münchner Sicherheitskonferenz dem US-amerikanischen Verteidigungsminister Rumsfeld entgegenstellte und so die Konfrontation mit der Hegemonialpolitik des Nato-Partners USA wagte, während Angela Merkel als Oppositionsführerin in einem einmaligen Akt der Unterminierung deutscher Außenpolitik in die USA reiste, um George Bush zu versichern, dass eine CDU-FDP-Regierung bei diesem Angriff mitgemacht hätte. Da konnte ich froh und stolz sein, ein Grüner zu sein.
Heute, wo Anton Hofreiter und Annalena Baerbock das Wort in der grünen Außen- und Sicherheitspolitik führen, kann ich es nicht mehr.
Heute, wo eine grüne Außenministerin nicht den Mut hat, einen Botschafter einzubestellen, der den Bundespräsidenten und den Bundeskanzler, unflätig beleidigt und der einen Politiker verehrt, dessen Organisation sich im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Wehrmacht an Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung in der Ukraine beteiligte.
Heute, wo es nicht mehr oberstes Ziel grüner Außenpolitik ist, Kriege zu beenden und Leid zu vermeiden, sondern wo sie nur eine Richtung kennt: immer mehr und schlagkräftigere Waffen zu liefern, um dann eventuell “mit dem Colt auf dem Tisch” verhandeln zu können. Wo grüne Außenpolitik Frieden durch Sieg im Krieg erreichen will, wenn Annalena Baerbock als Ziel ausgibt, dass die Ukraine den Krieg “gewinnen” müsse. Grüne Außenpolitik wird von diesem Ziel getrieben – und unterscheidet sich damit nicht von der Außenpolitik des einstmals glühenden George-Bush-Verehrers Friedrich Merz und der Rüstungslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Wer nur das Ziel ausgibt zu siegen, hat sich bereits der Logik des Krieges überlassen, ist geistig im Krieg und hat keine Handlungsmacht mehr, sich gegen den Krieg selbst zu stellen und politisch dessen Beendigung als oberstes Ziel zu verfolgen. Die US amerikanische Historikerin Barbara Tuchman hat am Beispiel des Ersten Weltkriegs gezeigt, dass eigentlich keiner diesen Krieg wollte, aber Europa in Stücke ging, weil alle sich auf den Krieg als politisches Mittel einließen.
Ich bin am 5. Oktober 1978 beim Gründungstreffen der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz, die 1980 in die neu gegründeten Grünen überging, Mitglied geworden. Länger als ich kann man also nicht Mitglied der Grünen sein. Über 45 Jahre. Die gehen zu Ende. Wie Antje Vollmer in ihrem letzten Essay schrieb, haben die Grünen ihre friedens- und umweltpolitischen Ideale geopfert “für das bloße Ziel, mitzuspielen beim großen geopolitischen Machtpoker.” Daher trete ich aus.
Den letzten Ausschlag gegeben hat die Attacke von Anton Hofreiter gegen die vernünftige Politik von Olaf Scholz, keine Taurus-Raketen liefern zu wollen, eine Attacke in Koalition mit Merz und Strack-Zimmermann. Hofreiter bezeichnet die Weigerung von Scholz als “unverantwortlich”. Joe Biden hingegen erklärt, keine langstreckenfähigen ATACMS liefern zu wollen, um einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden. Nach Einschätzung von Militärs wie Ex-Brigadegeneral Erich Vad, ehemaliger militärpolitischer Berater von Angela Merkel, würde die Lieferung von Taurus das Kriegsgeschehen eskalieren. Übernimmt Hofreiter dafür die Verantwortung? Und dafür, dass durch die Lieferung jeder weiteren schweren Waffe die Grenze verschwimmt, jenseits derer die Nato Kriegspartei wird, wie der Ex-Brigadegeneral Helmut Ganser sagt?
Was soll eigentlich das Ziel der Lieferung zuerst von Leopard-Panzern und jetzt von Taurus-Marschflugkörpern sein? Sie können nichts daran ändern, dass Russland über das größere Potential zur Eskalation des Krieges verfügt als die Ukraine. Sollen dann noch mehr Waffen geliefert werden, wenn Russland weiter eskaliert? “Sehen die Befürworter [von Waffenlieferungen] das Risiko der Eskalation bis zum Atomkrieg nicht?”, hat Christian Ströbele im April 2022 gefragt. Sie scheinen heute damit zu spielen, um sich moralisch auf der richtigen Seite fühlen zu können.
Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit einem ukrainischen Politiker, in dem dieser äußerte, er habe keine Angst vor einem atomaren Krieg, weil die technologisch überlegene USA bei einem atomaren Schlagabtausch schneller wäre als Russland. Wie verblendet muss man sein, aus Gründen der Gerechtigkeit mit der Verwüstung der Nordhalbkugel zu spekulieren? Auch Annalena Baerbock und Anton Hofreiter scheinen geblendet zu sein von der vermeintlichen Überlegenheit westlicher Waffen und die militärische Konfrontation mit der stärksten Atommacht der Welt nicht zu scheuen. Erich Vad hat realistisch darauf hingewiesen, dass Russland eher zu Nuklearwaffen greifen würde als sich strategisch aus der Schwarzmeerregion herauszuziehen. John F. Kennedy sagte einmal 1962, Atommächte müssten Konfrontationen vermeiden, “die einem Gegner nur die Wahl eines demütigenden Rückzugs oder eines Atomkriegs lassen.”
Mark Milley, bis September 2023 US-amerikanischer Generalstabschef, sagte, dass es keine militärische Lösung geben kann. Ex-Nato-General Harald Kujat bezeichnet es als Fanatismus, wenn Politiker davon reden, die Ukraine werde siegen, weil sie siegen müsse. Russland hat bereits taktische Atomwaffen nach Belarus verlagert und besitzt zehnmal mehr taktische Atomwaffen als die Nato in Europa hat. Deren Einsatz ist ein reales Risiko. Brigadegeneral a.D. Helmut Ganser, ehemals deutscher Vertreter bei der Nato, kritisiert, dass das leichtfertig übersehen wird. Und er schreibt, dass die berechtigte Entrüstung über Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht das “Beschreiten von Wegen” blockieren dürfe, “die weit Schlimmeres verhindern”.
Davon ist in der grünen Außenpolitik nichts zu sehen. Keine einzige Initiative der Außenministerin, wenigstens zu einem Waffenstillstand zu kommen. Stattdessen erklärt sie vor dem Europarat: “Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland”, und zeigt so, wie sie denkt. Grüne Außenpolitik hat heute das Hauptziel, Russland zu demütigen, obwohl die russische Führung zigfach zu verstehen gegeben hat, eher zu Atomwaffen zu greifen als sich demütigen zu lassen. Medwedew erklärte im Februar letzten Jahres, wenn die USA eine Niederlage Russlands wollten, habe man das Recht, zu Atomwaffen zu greifen. Taurus liefern um zu siegen, heißt nichts anderes, als eine Politik zu verfolgen, die Russlands Niederlage militärisch erzwingen will.
Wer bei Solidarität in erster Linie an Waffenlieferungen denkt, der begreift Solidarität kriegerisch als Waffenbrüderschaft. Wer die Parole “Weiter bis zum Sieg” ausgibt, denkt nicht an die zahlreichen weiteren Toten, Verstümmelten und Traumatisierten, die diese Politik kostet. Wieso ist eigentlich der Schutz von Grenzen für die grünen Außenpolitiker wertvoller als der Schutz von Leben?
In der Schule habe ich einmal die alte römische Weisheit gelernt, dass man bei allem was man tut, an das Ende denken soll. Wo soll die Politik des Siegen-Wollens hinführen? Die bedingungslose Kapitulation Russlands, die Selenskyj verlangt, kann nur in einem epischen Krieg, einem Dritten Weltkrieg erreicht werden, der Europa oder sogar die Nordhalbkugel verwüsten könnte.
Und wenn Russland ohne einen Atomkrieg besiegt werden könnte, wäre es dann ein weniger gefährliches Russland? Deutschland führte den Zweiten Weltkrieg, weil es besiegt, durch Reparationen gedemütigt und ökonomisch enorm geschwächt war. Es kurbelte die Wirtschaft durch eine Kriegswirtschaft an, die ab Ende der 1930er Jahre nur noch als Raubökonomie weiter existieren konnte. Würde nicht ein geschwächtes Russland ein weit gefährlicheres Russland sein?
So weit vermag Baerbock nicht zu denken. Im Februar 2022 verkündete sie, man wolle Russland durch Sanktionen “ruinieren”. Nichts davon ist eingetreten. Als Folge der Sanktionen wurde Russlands Band zu den größten Ländern der Erde, China und Indien, und zum afrikanischen Kontinent gestärkt. Die Blockbildung der BRICS-Staaten verfestigte sich bis hin zu den ersten gemeinsamen Seemanövern von Russland, China und Südafrika.
Wer ein Wort wie “ruinieren” verwendet, will demütigen, ohne daran zu denken, dass Deutschland Krieg führte, um das bolschewistische Russland zu vernichten. Aber Lehren aus der Geschichte werden in der grünen Außen- und Sicherheitspolitik ohnehin nicht mehr gezogen. Sie ist geschichtsblind geworden. Und getrieben davon, westliche Hegemonie zu bewahren.
Am 3. Oktober 2023 dankte Annalena Baerbock nur den Westallierten für die Wiedervereinigung, obwohl sich die russische Führung sehr darum verdient gemacht hat, während England sie zu verhindern suchte. Entweder weiß Baerbock das nicht oder sie verdreht die Tatsachen. Beides disqualifiziert sie für ihr Amt. Respektlos blieb sie der Beerdigung Gorbatschows fern.
Bei den Grünen haben diejenigen außenpolitisch das Sagen bekommen, die nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass der Westen, Europa und Nordamerika, die Rolle als Hegemon verloren hat. Baerbock versucht die verlorene militärische und ökonomische Dominanz durch eine moralische zu ersetzen. Daher reist sie als Lehrmeisterin durch die Welt und verkündet überall was geschehen „soll“ oder „muss“. Das nennt sich wertegeleitete Außenpolitik und heißt, Chinas Staatschef bei einem offiziellen Besuch als Diktator zu bezeichnen oder auf dem G-20-Gipfel Lawrow mit erhobener Faust zuzurufen “Hören Sie auf mit dem Krieg”. Mit solchen Gesten kann sie sich als Gerechte fühlen und bei denjenigen punkten, die in Deutschland Empörung mit Vernunft verwechseln und sich wohl damit fühlen möchten, dass unsere Außenministerin ihnen zeigt, zu den Guten zu gehören und den Bösen entgegenzutreten. Für Assange setzt sie sich nicht ein, und Elon Musk wird nicht kritisiert, wenn er sein Satellitennetzwerk Starlink rund um die Krim abschalten lässt, um das Versenken der russischen Schwarzmeerflotte mit satellitengestützten Unterwasserdrohnen zu verhindern. Er ist ja US-Amerikaner. Wenn Ricarda Lang in einem Interview mit der Berliner Zeitung sagt, Russlands Angriff richte sich “gegen die Demokratie als solche”, wird Analyse durch pures Geschwafel ersetzt.
Die wertegeleitete Außenpolitik von Baerbock setzt Empörung an die Stelle der Vernunft und erliegt so dem populistischen Sog, die Gefühle einer sich nach Gerechtigkeit sehnenden Anhängerschaft zu befrieden. Erreicht hat Baerbock damit bisher nichts. Sie inszeniert sich selbst als Gute, statt mit den Mitteln der Diplomatie zu versuchen, irgendetwas und sei es auch nur ein klein wenig besser zu machen. Eine politisch zielführende Strategie hat diese Außenpolitik nicht. Denn strategisch handeln heißt nicht, zu sagen was man sich wünscht, sondern dafür zu arbeiten, was für das Wohl der Menschen und die eigenen Interessen möglich ist. Der kluge Egon Bahr sagte einmal, dass es in der internationalen Politik um die Interessen von Staaten gehe. Baerbocks Politik folgt nicht Interessen, sondern moralischen Imperativen. Der ehemalige Leiter des Grundsatzreferates im Auswärtigen Amt Hellmut Hoffmann charakterisierte diese Haltung treffend so: “Es walte Gerechtigkeit, auch wenn die Welt zu Grunde geht.”
Vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine galt es als Teil der Menschenrechtspolitik der Grünen, gegen korrupte Regime zu sein. Nach dem Korruptionsindex von Transparency International lag die Ukraine am Beginn des Krieges auf Platz 122. Kein Land in Europa galt als korrupter als die Ukraine. Der Komiker Selenskyj wurde von dem Oligarchen Ihor Kolomojskij durch die Macht des Fernsehens ins Amt gehievt.
Wer in der Ukraine gegen die Interessen der Oligarchen antrat, hatte keine Chance. Heute sitzt Kolomojskij selbst im Gefängnis, während Selenskyj durch das Kriegsrecht seine Autokratie ausbaut. Das wird alles vergessen.
Lawrow sagte letztes Jahr in Peking, Friedensgespräche seien möglich, wenn eine neue Weltordnung ohne Hegemonie der USA entstehe. Trauen können wir dem nicht. Aber wie Barbara Tuchman festgestellt hat, muss man die Perspektive des Gegners sehen können, um nicht in den Krieg hineinzurutschen. Grüne Außenpolitik jedoch beharrt darauf, die westliche Hegemonie zu verteidigen. Wenn der Westen nicht bereit ist anzuerkennen, dass die Welt multipolar geworden ist und er seine Vormacht über die Welt verloren hat, und stattdessen mit moralischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln weiterhin um diese Vormacht kämpft, muss er damit rechnen, dass die Weltordnung in einem großen Dritten Weltkrieg verändert wird, so wie die Dominanz Europas und Japans durch den Zweiten Weltkrieg gebrochen wurde. Wer glaubt, dass Russland die Atomwaffen, die es hat, niemals einsetzen wird, ist naiv. Putin weist ständig auf deren Einsatzbereitschaft hin, und er zeigt schon im konventionellen Krieg, dass er vor Eskalation nicht zurückschreckt. Das mögliche Handeln Russlands ist nur aus den Kräften der Geschichte und der Eigenlogik von Kriegen zu verstehen. Wer denkt, Russland würde niemals Atomwaffen einsetzen, hält sich im Grunde für den eigentlichen „Putin-Versteher“, weil er glaubt, dessen mögliches Handeln rational kalkulieren zu können.
Die Grünen aus der Gründergeneration wussten noch, dass es in Europa keinen Sieger geben wird, wenn hier ein Krieg ausbricht. Die Grünen von heute tönen im Chor mit anderen, bis zum Sieg kämpfen zu wollen, angeführt von Hofreiter und Baerbock, die die kluge Grüne Antje Vollmer als “schrillste Trompete der neuen antagonistischen Nato-Strategie” bezeichnet hat. Mit dieser Politik, die der Logik des Krieges folgt und die Sicherheit Europas und der Welt aufs Spiel setzt, um sich als die Gerechtesten der Gerechten fühlen zu wollen, habe ich nichts gemein. Daher trete ich aus den Grünen aus.
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Dieser Brief spricht mir aus der Seele, es ist schrecklich, wie sich die Grünen von einer „Schwerter zu Pflugscharen“ zu einer kriegsbegeisterten Partei gewandelt haben. Da wähle ich doch lieber die SPD. Und wie sagte doch deren Mitglied Egon Bahr: „Wenn ein Politiker anfängt, über Werte zu schwadronieren, anstatt seine Interessen zu benennen, wird es höchste Zeit, den Raum zu verlassen“.
Empfehlenswert zu diesem Thema: „Moral über Alles?“ von Michael Lüders.
Immer noch bedenkenswert, was die Philosophin Simone Weil in “ Anmerkungen zur generellen Abschaffung der politischen Parteien “ schreibt. Z.B.:
„Eine politische Partei ist eine Maschine zur Fabrikation kollektiver Leidenschaft.
Eine politische Partei ist eine Organisation, die so konstruiert ist, dass sie kollektiven Druck auf das Denken jedes Menschen ausübt. Der ihr angehört.
Der erste und genau genommen einzige Zweck jeder politischer Partei ist ihr eigenes Wachstum, und dies ohne jede Grenze.“
Ergo: „Dass Parteien existieren, ist kein Grund sie zu bewahren“
Ich bewundere Geuters Entscheidung insoweit als, er sich und seine Meinung, verbunden mit einem Schritt zum Ausdruck bringt, der ihm sicherlich nicht leichtgefallen ist. 40 Jahre sind ein halbes Leben. 40 Jahre lang überzeugt Mitglied von „Die Grünen“ zu sein, sogar deren Gründungsmitglied, ist überzeugender Beleg genug. Und jetzt, die Trennung.
Und das zudem noch in derart extrem angespannten Zeiten.
Geuter wendet sich nicht nur gegen die Politik der Grünen, tritt nicht nur aus der Partei aus, die ihm bisher politische Heimat gewesen war, sondern wendet sich auch mahnend an die Öffentlichkeit.
Er positioniert sich dadurch klar durch seine Meinung und konkretes Handeln in aller Öffentlichkeit. Er tut dies offensichtlich wohl überlegt, abgewogen, emotional aufgewühlt, mit großem Sachverstand und Mut zur Selbstoffenbarung.
Mich selbst bestürzt dies einerseits, da Geuter mir den eigenen Spiegel vorhält. Wie verhalte ich mich selbst? Wie stehe ich zu meiner eigenen politischen Überzeugung? Was tue ich und trage zum „Weiter so“ bei oder eben nicht.
Andererseits bewundere ich Geuters klare Sprache und den aufrüttelnden Duktus. Ohne im Detail auf Geuters Argumente einzugehen, die nachdenklich stimmend aber auch aufwühlend sind, werfe ich schon seit Beginn der Ampelregierung einen sorgenvollen Blick auf die Grünen, insbesondere auf Habeck und Baerbock. Spiegeln sie doch weite Teile der Meinungsbildung bei den Grünen. Der Umgang mit „Krieg und Frieden“ ist wie Geuter deutlich nachgezeichnet hat, ein Kern- oder gar Herzensthema der Grünen. Seit der Regierungsbeteiligung ist es auch ein (politisches) Geschäft, verbunden mit einer besonderen Verantwortung. In der Wirtschaft fragt man sich dann, woran kann ein Außenstehender die Übernahme von Verantwortung konkret sehen oder spüren.
Hierzu ergänzend erlaube ich mir daher einen Aspekt anzusprechen, der den Auftritt der Grünen, vertreten durch die Außenministerin, meint. Dieser zeigt deutlich, dass es und zwar wie nachdrücklich die Grünen sich in einem sehr bedenklichen Wandel befinden.
Es geht um die Werte orientierte Politik der Außenministerin. Spiegelt sie doch eine unmissverständliche Sprache. Man könnte meinen, es sei in der Politik besonders gut, auf die eigenen Werte hinzuweisen und eine Politik zu machen, die auf diesen Werten beruht. Zu was führt es jedoch, wenn Frau Baerbock derart unmissverständlich z.B. in China auftritt, und ihre eigene Werte orientierte Politik zum alleinigen Credo erhebt.
Seine eigene Position derart betont zu vertreten, beinhaltet dann die versteckte Botschaft „ich bin, wenn du nicht bist“.
Seine eigenen Werte derart laut zu wiederholen, spricht implizit und explizit dem Andern ab, selbst Werte zu haben, die ihn in seiner eignen Politik tragen, weil sie ihm und dem eigenen Land wichtig sind.
So geht nicht Politik.
So aufzutreten, könnte man als Elefantenverhalten im Porzellanladen bezeichnen. Als Verhalten der höchsten und wichtigsten Vertreterin Deutschlands im Ausland, in diesem Fall in China, ruft es nur Widerstand beim Gegenüber hervor. Hat der damalige chinesische Außenminister sie doch als Oberlehrerin bezeichnet, die in China nicht willkommen sei.
Als oberste Diplomatin Deutschlands so aufzutreten, trägt Züge eines postkolonialen Verhaltensmusters. Das hatten wir aber schon einmal und brauchen es nicht noch einmal. Baerbock betreibt Diplomatie indem sie belehrend und missionierend durch die Welt reist.
Vielleicht sollte Baerbock sich den ehemaligen Grünen-Außenminister Joschka Fischer zum Vorbild nehmen, der die klassische Überzeugung im Außenamt pflegte: „Trust is the coin of realm“
Als Aktivistin und Gesinnungsethikerin beschert Baerbock der Bundesrepublik 4 Jahre aussenpolitischen Totalausfall! Sog. Feministische Außenpolitik, sog. Sicherheitsstrategie, Chinastrategie, etc., etc. sind ihr Papier nicht wert! Außer Spesen nichts gewesen – besonders für Photographen und Stylistin!
Vielen Dank an Herrn Professor Geuter, sich so öffentlich zu seinem Austritt bei den Grünen zu bekennen. Ich habe einen Artikel in der Berliner Zeitung darüber gefunden, dann nochmal im Blog-der-Republik in voller Länge nachgelesen.
Alles, was mich seit Beginn dieses Krieges umtreibt, bringt dieses Austrittsschreiben auf den Punkt. Ich habe selber jahrzehntelang die Grünen gewählt, bin zuletzt vor der letzten Bundestagswahl bei ihnen eingetreten. Nachdem im Verlauf dieses Krieges immer deutlicher wurde, dass nicht nur einzelne dieser Partei die ursprünglichen Werte und Ziele der Partei verraten, bin ich wieder ausgetreten. Rat- und fassungslos ob dieser in meinen Augen bestenfalls naiv zu deutenden Einstellungen und Handlungen der verantwortlichen Grünen im Hinblick auf den Ukrainekrieg frage ich mich fortlaufend, was kann ich tun. Wenn sogar moralische Autoritäten wie der Papst (wobei man zu der katholischen Kirche natürlich stehen kann, wie man will), wenn sie für den Frieden werben, von VertreterInnen der Grünen massiv kritisiert werden (und auch falsch wiedergegeben werden), dann spätestens frage ich mich tatsächlich, was an dem Wort und Wert Frieden und Bemühungen darum bei der jetzigen Generation der Grünen nicht angekommen ist.
Die Veröffentlichung des Austrittsschreibens von Herrn Professor Geuter ist ein richtiger Schritt. Ich hoffe, dass auch andere öffentliche Medien sich dessen Worte zumindest mal zu Gemüte führen und dann größere Teile unserer Bevölkerung daran teilhaben lassen, um dann angesichts hunderttausender toter, schwer verletzter und traumatisierter meist junger Männer endlich mal zur Vernunft zu kommen. Letzteres schreibe ich auch als Mutter dreier Söhne. Und jeden Tag, den dieser Krieg währt, trauere ich mit den Angehörigen der toten Soldaten (beider Seiten). Und hoffe aus tiefster Seele, dass dieses bellizistische Verhalten (anders kann es inzwischen nicht mehr genannt werden) nicht zu einem Weltkrieg führt.
Wie Herr Geuter frage ich mich fortlaufend, was die Motivation der verantwortlichen Grünen für deren Haltung und Reden und Taten ist. Ob es allein um den Machterhalt geht, kann ich nicht beurteilen. Es mag ein Grund sein. Ich denke jedoch, dass diese Generation die Auswirkungen des letzten Krieges nicht mehr direkt (als Kriegskinder und auch nicht mehr indirekt als Kriegsenkel) vor Augen haben, sich nicht mehr vorstellen können.
Als ärztliche Psychotherapeutin kenne ich aus meiner Arbeit die Folgen der transgenerational weitergereichten Kriegstraumata. Sie sind seit 30 Jahren in meiner Arbeit ständig präsent. So wie es jetzt läuft mit dem fortgesetzten Töten, Verstümmeln, den seelischen Verletzungen, wird es einfach weitergereicht in die nächsten Generationen. Möglich, dass dieser Krieg auch unbewusste Ängste auslöst und bei den Grünen genau das Gegenteil dessen bewirkt, was eigentlich besonnenes und auf Frieden und Diplomatie ausgerichtetes Handeln wäre.
Aus meinem Umfeld weiß ich, dass viele so denken wie Herr Geuter. Leider sind die anderen noch lauter (den wiederkehrenden Umfragen nach zu urteilen nicht mehr). Die Veröffentlichung des Austrittsschreibens hat vielleicht (hoffentlich) einen vervielfältigenden Effekt. Wünschen würde ich uns das.
Da ist der frühere Außenminister der Grünen, Joschka Fischer, zu Recht ganz anderer Meinung
Danke für Ihren konsequenten Schritt und diesen Brief. Die Kriegsgeilheit der deutschen Grünen ist mir absolut unverständlich und als jahrzehntelanger Grünwähler auch peinlich. Mit den ursprünglichen Zielen der Partei hat das derzeitige Handeln nichts mehr gemein!
Ich habe meinen Mitgliedsausweis vom 30.10.1982 vor zwei Wochen, also nach mehr als 41 Jahren an die Partei zurückgeschickt. Für mich war der Bundestagsbeschluss vom 22. Februar, deutsche Waffensysteme gegen Russland „weit im rückwärtigen Bereich“ richten zu können der letzte Anlass in Verbindung mit dem Beschluss der „BAG Frieden“ zwei Tage später, den Taurus Marschflugkörper zügig bereitzustellen. Alles einstimmig in der Grünen-Fraktion ohne Enthaltungen und in martialischer Rhetorik.
Es sind eben nicht nur die Außenministerin und Scharfmacher, sondern die gesamte Partei einschließlich der älteren Generation und früher Friedensbewegten, die Russland zum dritten Mal innerhalb von 110 Jahren zwar nicht selbst besiegen, aber besiegen lassen wollen. Es fällt schwer und hat gedauert, das zu realisieren.
Die wenigen, die die Partei verlassen, fallen leider nicht ins Gewicht in Anbetracht des Zulaufs aus der jungen Generation. Eine neue politische Heimat sehe ich derzeit nicht.
Vielen Dank für diesen mutigen, erhellenden, kritischen sowie (jedenfalls mich) bewegenden Beitrag und manche ähnlichen Kommentare, etwa von Dr. med. Nicole Thielemeyer und Ulrich Sollmann.
Mir fehlt aber jegliches Eingehen auf die Frage:
Was stand und steht nach dem in seiner Eindeutigkeit doch seit dem II. Weltkrieg vermutlich einmaligen Angriffskrieg von Truppen der Russischen Föderation an? Laufen lassen? Vergewaltigungen, Folter, Entführungen, mutmaßliche Kriegsverbrechen in großem Ausmaß, Verstößen gegen grundlegendste Bestimmungen der U.N.-Charta (z. B. Artikel 2 Nr.n 3 und 4), gegen humanitäres Völkerrecht, gegen Völkerstrafrecht, gegen elementarste Menschenrechte, die auch im Notstand nicht beschränkt werden dürfen (vgl. nur Art. 4 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte) nichts entgegenhalten? Gleichsam die Politik Englands nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen oder jene Frankreichs vor dem Einmarsch der Wehrmacht dort wiederholen? Gewiss: Werte und Normen sind in der realen internationalen Politik nie allein maßgeblich; sie können nur helfen, eine stets auf der Verfolgung partikularer Interessen basierende Politik in einen Horizont ihrer Universalisierbarkeit einzuordnen und vorsichtig zu bewerten. Aber immerhin dies!
Ernsthaft kritisches Denken, das rar geworden ist und sich hier in beeindruckender Weise Ausdruck verliehen hat (danke!), muss sich auch hierzu positionieren.
Übrigens gehört das alles auch in eine sich ernst nehmende Friedensperspektive. Darauf gingen in theologisch geprägter Sichtweise, die aber ganz eigentlich jene des Umgangs mit Verletzung, Verletzlichkeit sowie Fragen der Verbindung von (Un-) Gerechtigkeit und der Möglichkeit von Heilung im Blick hat, in sehr lesenswerter Weise ein:
Gabriele und Peter Scherle,
Um zu richten.
Der liebe Gott ist tot. Ein friedenspolitischer Einspruch gegen die harmlose Lesart des Evangeliums,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. April 2022, S. 11.
Eine der Lage gerecht werdende Analyse und Praxis muss die ernsthafte Gefahr von Eskalation und die Risiken einer Wiederaufrüstung und Militarisierung der Gesellschaft ebenso im Blick behalten wie die offensichtlich vor Februar 2022 unterschätzten Gefahren, die von der gnaden- und rücksichtslosen Gewalt russischer Truppen seit 2014 sichtbar, seit 2022 nicht mehr übersehbar ausgehen.
Erst wer das alles und alle damit verbundenen Spannungen in den Blick nimmt, kann eine brauchbare Analyse liefern, wie wir sie einer verantwortbaren Praxis zu Grunde legen müssen.
Auch ich bin seit bestehen der Grünen ein verlässlicher Wähler dieser Partei gewesen und genauso enttäuscht über die peinliche Kriegstreiberei. Vor allem über die Begründungen dafür. Es wird mur noch über Russlands Angriffskrieg gesprochen, ohne die Frage nach dem WARUM auch nur zu erwähnen.
Jede Maßnahme zur Unterstützung der Ukraine, wird mit dem Recht auf Selbstverteidigung gerechtfertigt. Putins Absichten werden vom Westen bestimmt und er damit zum Feind gemacht, der vor hat, Europa zu unterjochen. Das empfinde ich als eine ungeheuerliche Panikmache. Als Atheist frage ich mich auch, warum unsere christliche Gesellschaft so wenig Gottvertrauen hat? Ist er nicht mehr da?
Welche Freiheit mir wichtig ist und ob ich bereit bin, für sie zu sterben, möchte ich selbst bestimmen. Auch wer mein Freund oder Feind ist. Wer mit diese Entscheidungsfreiheit nimmt, ist mein Feind.
Der Austritt des Gründungsmitglieds der GRÜNEN Ulfried Geuter ist eine gute, lobenswerte Entscheidung. Die GRÜNEN sind zu einer Kriegspartei verkommen, die mit ihrer aggressiven Anti-Russland-Propaganda und „Agenda der Waffenlieferungen“ den Russland-Ukraine-Krieg forcieren und mit ihrer Gefolgsamkeit gegenüber USA und NATO jene Kräfte unterstützen, welche sogar bereit sind einen Krieg des Westens mit Russland zu riskieren. Welche destruktive Folgen das für die Menschen in den betroffenen Ländern, also auch in Deutschland haben kann, kann man sich denken. Man fragt sich, was in den Köpfen dieser Kriegstreiber los ist? Der Irrsinn dieser Kriegspolitik muss schnellstens ein Ende gesetzt werden! Sie schadet unseren Bürgern, den Europäern, genauso Ukrainern wie Russen. Arbeiten wir also auf eine Herstellung friedlicher Verhältnisse hin! Mit den GRÜNEN geht das nicht mehr, also sollte man sich Herrn Geuter zum Vorbild nehmen und ihm folgen. WEG VON DEN GRÜNEN!
Sehr geehrter Herr Manfred Karl Böhm,
was meinen Sie zu
Gabriele und Peter Scherle,
Um zu richten.
Der liebe Gott ist tot. Ein friedenspolitischer Einspruch gegen die harmlose Lesart des Evangeliums,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. April 2022, S. 11?
Ist das alles nur Kriegstreiberei?
Ist das, was Karl Barth, mir nicht als Kriegstreiber bekannt, 1940 zu Krieg und Frieden schrieb
Karl Barth,
Des Christen Wehr und Waffen,
Eine Schweizer Stimme: 1938-1945,
Zollikon-Zürich: EVZ 1945, 123-146, nachzulesen bei:
https://jochenteuffel.com/2022/03/12/karl-barth-des-christen-wehr-und-waffen-1940-auch-der-aufrichtigste-friedensfreund-steht-heute-vor-einer-letztlich-sehr-einfachen-frage-bist-du-des-ausdrucklich-und-unzweideutig-vorliegenden-pr/
so falsch? Ist die Lage, angesichts derer er sich äußerte, so völlig anders als das, was wir derzeit in der Ukraine sehen und gar nicht damit zu vergleichen?
Fördert es den Frieden, die Ukrainerinnen und Ukrainer dem Aggressor, seinen Entführungen, Demütigungen, Folter, Vergewaltigungen, ihrer Frustration, Verzweiflung, Verbitterung schutzlos zu überlassen? Übten die Aliierten und die verzweifelten Angehgörigen des Widerstands, unter ihnen Dietrich Bonhoeffer, damit Unrecht, dass sie gegen Mussolinis und Hitlers Regime kämpften?
Mir scheint hier eine Eindeutigkeit suggeriert zu werden, die es so nicht gibt.
Klar ist: Es gibt große und akute Risiken der Eskalation, längerfrisig soche der Aufrüstung, der Remilitarisierung der Gesellschaft, einer zu schwachen demokratischen Kontrolle über professionalisierte Militärs.
Aber heißt die Konsequenz:
Die überfallene Ukraine im Stich lassen?
Wenn nein: Was genau ist die Konsequenz?
Sehr geehrter Herr Rainer Keil,
Ihr Bezug auf Hitler-Deutschland und der NAZI-Kriegstreiberei hinkt sehr. Die Lage ist heute anders! Der Ukrainekrieg geht nicht bloß auf völkerrechtswidrige Invasiospolitik Putins zurück. Zum Krieg gehören mindestens zwei Seiten. Anders gesagt, der Westen hat mit verbaler Propaganda, Geheimdienstoperationen, Ignorieren der Situation bzw. Diskriminierung der russischsprachigen Menschen in der Ostukraine, militärischer Hife etc. bereits seit vielen Jahren die Ukraine gegen Russland unterstützt und so eine psychologisch (!) verständliche Reaktion Russlands ausgelöst. „Kontextualisierung“ ist heute verpönt (Siehe GAZA-Krieg), eine Gesinnung, welche Teil verlogener Immunisierungsstrategie ist. Zudem, ohne Bereitschaft den „Feind“ verstehen wollen, gibt es keinen wirklichen Frieden, am Ende siegt der Tod auf beiden Seiten der Front, ja vielleicht demnächst 1900 km oder 3800 km hinter der Front.
Also, den Bezug auf den Widerstand gegen Hitler und Musolini halte ich für sehr fragwürdig.
Übrigens möchte ich Sie darauf hinweisen, dass die USA Dutzende völkerrechtswidrige Kriege mit verheeredeb Folgen für die Zivilbevölkerung geführt hat. Kaum jemand spricht davon heute, stattdessen folgt die politische Elite in Europa der Kriegsmacht USA: Ja, die USA, der Westen sind unschuldige Lämmer. Der Russe ist immer böse.
„Eine Krise drängt uns auf die Fragen zurück und verlangt von uns neue oder alte Antworten, auf jeden Fall aber unmittelbare Urteile. Eine Krise wird zu einem Unheil erst, wenn wir auf sie mit schon Geurteiltem, also mit Vor-Urteilen [egal welcher Art] antworten. Ein solches Verhalten verschärft nicht nur die Krise, sondern bringt uns um die Erfahrung des Wirklichen und um die Chance der Besinnung, die gerade durch sie gegeben ist.“
Hannah Arendt (1906-1975), jüdisch-deutsche Politologin
Sehr geehrter Herr Böhm,
haben Sie vor allem anderen s e h r h e r z l i c h e n D a n k für Ihre ausführliche Rückmeldung!
Sie äußern, mein Vergleich mit dem II. Weltkrieg hinke. Nun ja, historische Vergleiche hinken immer etwas. Putins Russische Föderation scheint nicht systematisch und industriell eine Gruppe von Menschen in Gaskammern, Massenerschießungen usw. zu vernichten; wohl aber scheint er sich um internationales Recht, um Frieden, um Menschenrechte nun nicht im geringsten zu kümmern.
Sie weisen auf Fehler des Westens hin.
Mir geht es nicht um die Unschuld der Vereinigten Staaten von Amerika oder um unsere Unschuld am Konflikt.
Ich weiß um Aktivitäten der Vereinigten Staaten von Amerika auf Anraten des jüngst verstorbenen Henry Kissinger, um Lon-Nol-Putsch, Napalm auf den Ho-Tschi-Minh-Pfand, Putsch in Chile im Monat meiner Einschulung, Verminung von Häfen in Nikaragua, offensichtlich völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak unter Präsident George W. Bush jr., krasse Grundrechtsverstöße im Abu-Ghuraib-Folterskandal und in Guantanamo auf Kuba u. v. a. Sie sind teils gründlich, teils erst sehr fragmentarisch aufgearbeitet. Dazu zu schweigen wäre falsch. Das muss aufgearbeitet werden.
Aber was bedeutet das alles für den Umgang mit dem jetzt stattfindenden und im Land des Aggressors – so anders als in den U. S. A. – nicht offen diskutierbaren offensichtlichen Angriffskrieg, mit den höchstwahrscheinlich massenhaft und systematisch verübten Kriegsverbrechen Angehöriger der Streitkräfte der Russischen Föderation in der Ukraine – denen gewiss auch einige auf ukrainischer Seite gegenüberstehen, wo man das aber allem Anschein nach nicht systematisch fördert?
Hände in den Schoß legen?
Zu „„Kontextualisierung“ ist heute verpönt (Siehe GAZA-Krieg)“.
Dieser Punkt ist interessant. Kontextualisierung kann helfen und erhellen, sie kann aber auch blind machen. Wenn Eva Illous in der „Süddeutschen Zeitung“ und im „Haaretz“, auch für mich überraschend, vor Letzterem gewarnt hat – was prima facie aussieht wie eine Strategie der „Immunisierung“, die Sie zu Recht ablehnen -, dann ging es ihr darum, dass nicht vor lauter kausaler Herleitung oder spiegelbildlicher Geschichten das jeweils spezifische Leid zum Beispiel der Massakrierten, Vergewaltigten, Entführten in Israel, aber ausdrücklich auch umgekehrt der – lange vor der aktuellen, durch nichts zu rechtfertigenden humanitären Katastrophe in Gaza – gegängelten oder von ihrem Land vertriebenen Palästinenserinnen und Palästinenser übersehen und so relativiert wird, sondern dass es erst einmal an sich und in den jeweiligen eigenen Erzählungen wahrgenommen wird (https://www.sueddeutsche.de/kultur/eva-illouz-linke-hamas-1.6295055 ). Klar kann man dabei nicht stehen bleiben. Und klar kann es Frieden ohne Verstehen der anderen Seite nicht geben; gerade deshalb muss der erste vor dem zweiten Schritt gegangen werden. Und klar, auch da bin ich bei Ihnen: Es wird das derzeit derart zur Seite gedrängt, dass es gesagt gehört.
Allein: Bedeutet das jetzt, dass wir die Ukrainerinnen und Ukrainer im Stich lassen dürfen, wenn sie überfallen, beraubt, vergewaltigt, entführt, gedemütigt, getötet werden?
Mir geht es nicht darum, ob die Sprachenpolitik der Ukraine vor dem Krieg überzeugend war (das war sie vermutlich angesichts der vielen, die russisch als ihre Muttersprache sprachen nicht) und nicht darum, ob westliche Akteurinnen und Akteure stets klug agiert haben. Das Hin- und Her um die Aufnahme der Ukraine in die NATO mag – psychologisch! realpolitisch! – vom machthaber im Kreml als Provokation und geradezu als Aufforderung zum Einmarsch empfunden worden sein, wenngleich es völkerrechtlich oder moralisch nichts von dem rechtfertigte, was seit 2014 / 2022 folgte (was Sie auch nicht behauptet haben).
Aber was bedeutet das für uns hier und jetzt seit Februar 2022?
Wenn die Ukraine unter der Last des Überfalls kollabiert, werden vermutlich weitere viele Millionen an Menschen fliehen, andere geschunden, verzweifelt, verbittert, hoffnungslos, deprimiert oder depressiv zurückbleiben, die Macht der brachialen Gewalt des Stärkeren sich ungehemmt durchsetzen. Sühne, Versöhnung, Aufarbeitung, Wahrheitskommission: Das alles wäre undenkbar. Wie nötig dies alles wäre! Wie nötig all dies gerade wäre, um echten, nachhaltigen Frieden erst zu ermöglichen! Wie Recht hat
Clivia von Dewitz,
Eine Friedenskommission für den Ukraine-Konflikt nach dem Modell der südafrikanischen Wahrheitskommission,
NZZ vom 3.10.2023,
URL.: https://www.nzz.ch/meinung/eine-friedenskommission-fuer-den-ukraine-konflikt-nach-dem-modell-der-suedafrikanischen-wahrheitskommission-ld.1754822
jetzt auch im Buch
Clivia von Dewitz,
Gerechtigkeit durch Wiedergutmachung?
Neu-Isenburg: Westend, 2024
https://westendverlag.de/Gerechtigkeit-durch-Wiedergutmachung/2079 !
Sie fordert eine umfassende und faire Aufarbeitung aller Verletzungen aller Seiten in einem klug eingerichteten institutionellen Gefüge und tut dies auf der Basis von Erfahrungen, die sie in Südafrika, Lateinamerika, in Kommissionen bei Indigenen andernorts und als Strafrichterin (Täter-Opfer-Ausgleich) im Norden Deutschlands gesammelt hat.
Waffen schaffen keinen Frieden; sie können aber vielleicht einen ungebremsten Überfall stoppen und eine Lage begünstigen, in der erst die eigentliche Friedensarbeit wieder möglich wird.
Nicht ohne Schuld.
Aber Schuld hat auch, wer Überfallenen nicht hilft, obwohl sie oder er es könnte.
Wer das alles einsieht, steht vor der Frage:
Ob wir das können, ohne uns zu übernehmen, ohne eine nicht eingrenzbare Eskalation heraufzubeschwören oder mit den eingesetzten Mitteln Voraussetzungen eines künftigen Friedens nachhaltig zu beschädigen?
Und wenn ja, wie genau können wir helfen?
Da wird es praktisch und konkret. Ich maße mir nicht an, hier klar zu sehen, was ansteht.
Sehr geeher Herr Keil,
vielen Dank für Ihre ausführliche Rückmeldung auf meinen Kommentar zu Ihrem Kommentar. Ich stimme Ihren Ausführungen weitgehend zu, insbesondere auch Ihrer „Antwortlosigkeit“ auf gewisse Fragen.
So eine entscheidenden Frage lautet: „Bedeutet das jetzt, dass wir die Ukrainerinnen und Ukrainer im Stich lassen dürfen…?“ Zugegeben, eine schwere Frage. Was mir zu sagen sehr leicht fällt, ja, was selbstverständlich sein sollte, ist humanitäre und Flüchtlingshilfe. Aber militärische Hilfe? Ich vertrete keine pazifistische Position nach der Devise “Frieden um des lieben Friedens willen“. So eine Position scheint mit sehr abstrakt und naiv zu sein. Aber wie sollte militärische Hilfe aussehen? Taurus? Da sage ich NEIN. Szenario: TAURUS legt Kreml oder die KRIM-Brücke in Trümmer. Das wäre ein Fanal. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Putin Deutschland daraufhin in ein Ruinenfeld verwandeln würde. Wie schaut´s mit anderen Waffen aus? Viele Leopard sind inzwischen Schrott! Ukraine kann den Krieg mit ausländischen Waffen nicht gewinnen. Also NATO-Einsatz? Nun, dann haben wir den III. Weltkrieg. Dieser wird nicht so harmlos verlaufen wie der I. oder II. WK. Man möge bedenken, seit Ende des II. Weltkriegs hat sich die Kriegstechnologie wesentlich verändert. Wir haben es mit Nuklearwaffen zu tun, welche Menschen und Umwelt riesiger Regionen auslöschen können. Solange der Ukrainekrieg ein „lokaler Bürgerkrieg“ war, haben Soldaten gegen Soldaten gekämpft (daneben auch Drohnen und Raketen). Eine Ausweitung des Kriegs über die Ukraine hinaus bedeutet aber nicht, dass „russisches Fuß- oder Panzervolk“ (so wie es manche Politiker oder Medien sehen wollen) Richtung Westen, bis zum Rhein oder bis nach Paris marschiert. Dieses Szenario ist Propaganda auf primitivster Stufe: Man will damit militärische Intervention gegen Russland legitimieren.
Die wirkliche Bedrohung, welche durch Einsatz von westlichen (schweren) Waffen innerhalb des russischen Territoriums geschaffen wird, ist die aktive Verteidigung Russlands durch (nukleare) Mittel- oder Langstreckenraketen. Also was tun? M. E. muss der Krieg mittels Diplomatie und Verhandlung beendet bzw. auf einen gerechten Frieden (und nicht auf einen gerechten Krieg) hingearbeitet werden. So ein gerechter Friede käme allen Betroffenen zugute, ausgenommen natürlich der Rüstungsindustrie.
Herr Prof. spricht mir aus der Seele. Die bisherigen Kommentare kann ich auch unterschreiben.
Nur: es wird sich leider nichts ändern, denn es geht nicht gegen „Grün“ auf die Straße …
Und Putin nicht ernst zu nehmen, ist ein kapitaler Fehler. Die USA unter Trump wird uns in Europa nicht beistehen. Aber sie zündeln immer weiter.
Sie regieren jedoch bis zum Schluss und dann schauen wir mal wie Deutschland aussieht bzw. in der Welt dasteht. Ich befürchte Schlimmes. Aber die Verursacher haben ja bis dahin ausgesorgt.
Sehr geehrter Herr Böhm,
Ihre Antwort war so ganz zur Sache, sie nahm so präzise auf, was ich geschrieben hatte, und antwortete so adäquat, dass ich bis zuletzt, dankbar, schweigen und es dabei belassen wollte.
Inzwischen bin ich auf Nachrichten
über Versuche gestoßen, die weder auf Kapitulation noch auf blinde Kriegstreiberei oder militärische Eskalation hinauslaufen,
Versuche, über deren Erfolgsaussichten gegen einen brutalen Krieger wie den gegenwärtigen Präsidenten der Russischen Föderation man sich zwar keine Illusionen machen sollte und die ich kaum einschätzen kann,
Versuche, die ich aber als so schön und ehrenhaft wahrnehme, dass ich ihnen doch wenigstens die andernorts kaum irgendwo erwiesene Ehre hier erweisen möchte:
Bestrebungen innerhalb der Ukraine, sich mittels allem Anschein nach beharrlichen, gewaltlosen, zivilen Ungehorsams und anderer gewaltloser Widerstandsmethoden der vielen Übergriffigkeiten zu erwehren.
Davon berichteten jedenfalls zunächst bereits im Jahr 2022
Moriarty, Danny,
Pockets of Sunflower Seeds: Civil Resistance in Ukraine,
Modern War Institute at West Point, 2022,
URL.: https://mwi.westpoint.edu/pockets-of-sunflower-seeds-civil-resistance-in-ukraine/ (Abruf: 20.07.2024)
und viel ausführlicher
Daza Sierra, Felip,
Ukrainian Nonviolent Civil Resistance in the face of war: Analysis of trends, impacts
and challenges of nonviolent action in Ukraine between February and June 2022,
Barcelona: ICIP & Novact, 2022,
abrufbar über den URL.: https://www.icip.cat/en/publication/ukrainian-nonviolent-civil-resistance-in-the-face-of-war/ auf https://www.icip.cat/wp-content/uploads/2022/10/ENG_VF.pdf (Abruf: 20.07.2024);
ferner im Jahr 2024
Krohley, Nicholas,
Ukrainian Civilians Are Pioneering the Art of Resistance. Nonviolent tools are undercutting the Russian occupation,
Foreign Policy Magazine online, 28.02.2024,
URL.: https://foreignpolicy.com/2024/02/28/ukrainian-civilian-resistance-movements-women-war-mavkas/ (Abruf: 20.07.2024).