A-religiös, wie ich bin, pflege ich ein wissenschaftlich distanziertes Verhältnis zur katholischen Kirche. Das hat mich nicht gehindert, Kardinal Karl Lehmann als klugen und warmherzigen Zeitgenossen zu mögen. Es hindert mich ebenso wenig, dem Menschenkundler Joseph Ratzinger in einem besonderen Fall Respekt zu zollen.
Joseph Ratzingers Wort von der „gottlosen Frömmigkeit“ der Studenten, die ihm 1968 in Tübingen auf die Pelle rückten, zeugte von scharfer Beobachtung. Denn fromm waren die Tübinger Studentenmaoisten vom „Roten Pfeil“, und gottlos traten sie in ihrer unerbittlichen Entschiedenheit auf. Sie wollten eine Welt nach ihrem Gusto, sie wollten sie unbedingt und unverkürzt, ihr letzter Hohepriester hieß Pol Pot.
Für die linke studentische Konkurrenz, zu der ich zählte, war die vermutliche Gottlosigkeit dieser Truppe kein Problem, wohl aber ihre Frömmigkeit. Wer sie kritisierte, den setzten sie auf die Liste für den Dies Irae, und wenn man ihren Führern in die Augen schaute, konnte man den Eindruck gewinnen, sie meinten es todernst.
Die gottlose Frömmigkeit der Studentenmaoisten nicht nur in Tübingen, sondern überall in der Bundesrepublik äußerte sich in einem kompromisslosen Siegeswillen im anti-imperialistischen Kampf, in dem sie sich gegen USA und Sowjetunion wähnten. „Sieg im Volkskrieg!“ lautete die Parole. Wer sie tausendmal gehört hat, wird sie nicht vergessen. Wer Rufer und Ruferinnen kannte, erinnert sich, dass sie qua Geschlecht oder Verweigerung dem Dienst an der Waffe aus dem Weg gegangen waren und später gerne bei den Grünen landeten.
Warum fällt mir das im Februar 2023 zum Jahrestag des Überfalls der Russischen Föderation auf die Ukraine ein?
*
Welche politischen Beweggründe die Clique um W. Putin zu ihrer ruchlosen Kriegseröffnung veranlasst haben, kann ich mir zusammenreimen. Woher aber bei den maßgeblichen Akteuren in Moskau die intrinsische Energie stammt, mit der sie das Blutvergießen in Gang halten, ist mir kein offenes Buch, „gottlose Frömmigkeit“ darum nicht ausgeschlossen.
Nun wird der Krieg nicht nur von einer Seite in Gang gehalten, sondern von zweien. Die zweite Seite beschäftigt mich, weil es meine ist.
Die politischen Beweggründe der Anti-Putin-Koalition werfen mir ebenfalls kaum Rätsel auf. Die Weltmachtinteressen der USA kenne ich als Neuzeithistoriker, die Integrations- und Kohäsionsinteressen der EU-Institutionen sind mir aus langjähriger Zugehörigkeit zum Brüsseler Kosmos geläufig, und die Erwägungen einer realistischen Außen- und Sicherheitspolitik gingen mir während der Zusammenarbeit mit Willy Brandt in Fleisch und Blut über.
Aber was bewegt intrinsisch die Führungsgarde der deutschen Grünen und ihre Gefolgschaft in CDU/CSU, FDP; SPD und der Partei Die Linke, wenn sie den gerechten Krieg beschwören und ihn im Sieg der ukrainischen Waffen glücklich vollendet sehen wollen? Was bewegt die Quasi-Totalität der deutschen Funk- und Printmedien, diese Erhebung zu feiern und ihre Kritiker als Beleidiger der demokratischen Selbstverteidigung und Selbstvergewisserung abzuputzen?
Ich weiß, Frau Baerbock kommt vom Völkerrecht, das erklärt hier aber nichts. Zu erklären wären die Kälte und die Gefühllosigkeit, mit der die Protagonisten des gerechten Kriegs bis zum Sieg um keinen Preis von der Vollendung dieses Ziels lassen wollen.
Nicht, dass diese Leute sich dem Entsetzen des Krieges nicht auslieferten, sie fahren nicht nur nach Aachen zum Karneval, sondern auch in die Nähe der Front. Aber das Entsetzen bedeutet ihnen nichts. Es erfasst sie nicht das Bluten, das Schluchzen und das Trauern, es berührt sie nicht der täglich wachsende Verlust von Leben, Gesundheit und zivilisatorischen Einrichtungen in der Ukraine. Sie ermessen nicht, wie der serielle Lobgesang auf Hochrüstung und Kriegsvorbereitung, der den Feind der Demokratie einschüchtern soll, das Denken weltweit lähmt und vergiftet und die unerlässliche internationale Anstrengung gegen die Erdüberhitzung torpediert.
Die Protagonisten des gerechten Kriegs bedenken ihre Taten nicht, sie fühlen sich bedingungslos im Recht. Sie sind fromme Demokraten und hundert Prozent divers. Ja und gottlos sind sie jedenfalls insoweit, als die christlichen Kirchen nach langen, blutigen Jahrhunderten dem gerechten Krieg abgeschworen haben.
Als die Kirchen sich vom gerechten Krieg gedanklich und programmatisch verabschiedeten, war das ein Abgesang auf gelebten Fanatismus in Mission und Inquisition.
Eine solche Beschränkung ist unübertrefflich. Sie ist ein Gipfel der Humanität.
Ansonsten: Ja, es gibt keinen glücklichen Waffenstillstand. Aber ein Waffenstillstand lässt sich auch in diesem Fall aushandeln, und dann endet das Sterben der Unglücklichen, die nicht davonlaufen können. Am Ende werden Menschen mit Verstand und Gemüt wieder offen sagen: Friede ist nicht alles, aber ohne Friede ist alles nichts (Willy Brandt). Dass es so ist, haben sie die ganze Zeit gewusst.