Die Umgangsformen im Netz sind ein Thema, das mittlerweile breit diskutiert wird. Im Sommer 2016 hat die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft relativ unpräzise einen „Netzkodex NRW“ angeregt, ohne sagen zu können, was das genau sein bzw. was das Etikett „NRW“ bedeuten soll. An diesem Netzkodex wird seitdem hinter den Kulissen gearbeitet, man darf gespannt sein, was am Ende dabei an Texten oder Aktionen herauskommt. Des Schweißes der Edlen ist es auf jeden Fall wert. Allerdings ist dies nur die eine Seite der Medaille, und gefordert ist dabei weniger die Politik als vielmehr die Medienbranche selbst, die ihren Umgang mit diesem Phänomen noch besser klären muss. Die andere Seite ist die Anwendung schon vorhandener Instrumente, auch und zuerst des geltenden Rechts.
Ein zum damaligen Zeitpunkt noch zu wenig beachteter, klarer und prägnanter Beitrag von Bundestagspräsident Norbert Lammert für die FAZ hat im Spätsommer letzten Jahres genau zu diesem Punkt vor einer Erosion der Autorität des Rechtsstaats gewarnt und eine viel konsequentere Durchsetzung von Recht und Gesetz gegenüber denjenigen gefordert, die im Netz beleidigen, bedrohen, offen zu Gewalt aufrufen. Die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte kommen in diesem Feld zu Entscheidungen, die nicht dazu beitragen, abschreckend auf all die zu wirken, die anonym oder sogar offen in den sozialen Medien Hass verbreiten, diskriminieren, pöbeln, hetzen. Solange dies so ist, sind alle Versuche, zu Mäßigung im Ton, zu Toleranz, zu Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit aufzurufen, müßig, so Lammert sinngemäß.
Es ist anscheinend nötig, immer wieder an die Spielregeln in unserer Demokratie zu erinnern, wie es Lammert getan hat, oder an den gesunden Menschenverstand zu appellieren, eine Ethik im Netz einzufordern, den kategorischen Imperativ eines Immanuel Kant ins Bewusstsein zu rufen. Deshalb sind auch all die Kodizes und Netzetikette-Regelwerke nur zu begrüßen, angefangen auf der medienpädagogischen Ebene bis hin zu Texten von EU und Europarat, die es ja bereits gibt. Viel wichtiger ist aus meiner Sicht aber die Um- und Durchsetzung dieser Regeln. Hier ist vor allem die Schule gefordert, aber auch das Elternhaus, denn wir reden von Bildung. Und auch die Medien und die Anbieter der sozialen Medien müssen ihren Teil dazu beitragen. Auf allen diesen Ebenen geschieht bisher zu wenig. Solange allerdings Verstöße gegen die geschriebenen Gesetze nicht zu schmerzhaften Konsequenzen führen, ist die Durchsetzung ungeschriebener Gesetze unendlich schwer und erreicht vor allem diejenigen nicht, die als Verursacher von Hass und Diskriminierung auffallen und auffallen wollen. Diejenigen, die derartiges mitbekommen und sich nicht sicher über ihre eigenen Beurteilungen und Grenzen sind, haben dann zu wenig Orientierung für ihr eigenes Verhalten. Leider. Denn es ist zu wenig, an das Gute zu appellieren, wenn das Schlechte oder Böse ungestraft bleibt. Es wäre wichtig für unsere Demokratie, wenn sich unsere Kommunikationskultur auch im Netz an der Würde des Menschen orientieren und von staatlicher Seite durch entschlossenes Handeln geschützt würde.
Und was die Netikette oder den Netz-Kodex angeht: Da will ich gerne an die „Goldene Regel“ erinnern – für diejenigen, die beim kategorischen Imperativ oder bei Kant zurückzucken: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ Oder, um es mit dem vielleicht bekannteren Sprichwort auszudrücken: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Mehr als mit jedem detailliert ausformulierten Appell oder Kodex wäre schon viel gewonnen, wenn dieser Satz nicht nur kleinen Kindern, sondern immer wieder Allen bewusst gemacht wird. Die „Goldene Regel“ ist im Netz nicht weniger wichtig als in der realen Welt. Sie wird aber nur beherzigt, wenn das, was Norbert Lammert angemahnt hat, ebenfalls angegangen wird.
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