Giorgia Meloni wird von angelsächsischen Medien zum Polit-Star des Jahres gemacht, wird von Trump gepriesen, von Freunden Musk und Milot geliebkost. In NATO und EU macht sie keinen Ärger. Sie kungelt mit Ursula von der Leyen, ohne zu deren Koalition zu gehören, und setzt ihren Kandidaten als deren Vize durch. Im Kontrast zur geschwächten Führung in Frankreich und Deutschland strahlt ihr Stern als Chefin einer stabilen Regierung in einem der großen EU-Ländern noch heller.
Daheim kompaktiert sie unumschränkt die Mehrheitskoalition, die gegen die parlamentarische Minderheit problemlos Gesetze erlassen kann, wenn auch nicht geräuschlos, auch gegen heftigen aber letztlich machtlosen Widerstand von Gewerkschaften und anderer außerparlamentarischer Opposition. Einige ihrer großen Projekte kommen jedoch gar nicht voran und sie drohen gar zu scheitern, da Verfassungsrecht eine größere Zustimmung verlangt oder EU-Recht nicht übergangen werden kann.
Seit Monaten ist Melonis Flaggschiff-Projekt in ihrer Flüchtlingspolitik ins Stocken geraten. Das Vorgehen, Flüchtende vom Meer direkt in eine Einrichtung außerhalb der EU-Grenzen aufzunehmen, und nach negativem Asyl-Bescheid direkt abzuschieben, musste einstweilen abgebrochen werden. In Albanien steht dafür seit Monaten eine eigens errichtete Containersiedlung direkt an einem Hafen leer, gut bewacht, funktionsfähig und personell besetzt. Zweimal wurden etwa ein Dutzend Flüchtende eingeliefert, zweimal mussten diese nach Gerichtsentscheiden aufs italienische Festland gebracht werden. Streitpunkt ist die Einschätzung des Herkunftsstaates der Flüchtenden als „sicher“. Die italienische Regierung besteht darauf, dies selbst festlegen zu können, und zählt unter anderem Ägypten und Bangladesch dazu. Gerichte berufen sich auf Asyl- und EU-Recht. Das Kassationsgericht hat kürzlich festgehalten, dass die Regierung eine relevante Liste sicherer Herkunftsländer aufstellen kann, hat aber nicht ausgeschlossen, dass ein Gericht in einem Einzelfall entscheiden kann, dass diese Sicherheit nicht gegeben ist. Die Regierung triumphiert, wagt aber nicht einen dritten möglicherweise blamablen Versuch und wartet eine neue Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum Thema noch im Januar ab. Die Opposition interpretiert die Entscheidung als negativ für die Regierung und kritisiert die hohen Kosten der „Geisterstadt“ in Albanien. Die Angelegenheit wird von der EU-Kommission und jenen EU-Ländern mit großem Interesse verfolgt, die eine solche extra-territoriale Abfertigung als eine Art Experiment und Vorbild betrachten.
Auch eines der beiden großen Verfassungs-Reformprojekte der Koalition, die „differenzierte Autonomie“, haben Verfassungsrichter erst einmal ins Ungewisse geschoben. Der Kassationshof als letzte Instanz hat entgegen der Ansicht der Regierungskoalition entschieden, dass gegen das bereits beschlossene Gesetz ein abschaffendes Referendum zulässig ist. Die Legislative hatte das von den Ex-Separatisten der Lega-Partei, namentlich Minister Roberto Calderoli, betriebene Projekt bereits mit absoluter Mehrheit angenommen, also auch mit Stimmen von dafür wenig begeisterten Koalitionären aus den anderen Mehrheitspartein. Ein negatives Referendum müsste gegebenenfalls mit 2/3 Mehrheit überstimmt werden. Die Gerichtsentscheidung hat die norditalienischen Betreiber verunsichert. Sie suchen nach einer neuen Strategie zur Durchsetzung, wie z.B. den Aufruf an Parteigänger nicht am Referendum teilzunehmen, damit das nötige Quorum verfehlt wird.
Von dem anderen großen verfassungsändernden Vorhaben, dem „Premierato“, der Direktwahl des Ministerpräsidenten, hört und liest man zurzeit wenig. Ein erster Artikel des Gesetzes, gerade der zur Direktwahl, wurde schon 2024 im Senat verabschiedet, ist aber noch ohne Spezifikation und weitere Details. Die zuständige Ministerin Maria Elisabetta Alberti Casellati hat angekündigt, es im neuen Jahr weiter vorantreiben zu wollen. Auf besonders hartnäckigen Widerstand dürfte der Plan stoßen, nach einer Parlamentswahl automatisch eine absolute Mehrheit für den direkt gewählten Premier herzustellen. Wenn diese Pläne mit Mehrheit durch das Parlament gedrückt werden, dürfte es auch hier zu einem Referendum kommen.
Überdies ist ein Gesetzesentwurf zur inneren Sicherheit, ein Omnibusgesetz mit diversen repressiven Verschärfungen, heftig umstritten. Die außerparlamentarische Opposition, angeführt von den sozialen Nichtregierungsorganisationen, hat eine Großdemonstration in Rom dagegen organisiert, der sich die drei Oppositionsführer aus dem linken Spektrum angeschlossen haben. Jetzt kritisiert auch noch der Europarat Teile des Vorhabens als Verstoß gegen die Menschenrechte.
Diverse Justizreformen werden gegen den (verbalen) Widerstand von Richtern und Staatsanwälten vorangetrieben. Minister Carlo Nordio scheint auf einem Kreuzzug gegen seine früheren, nach seiner Meinung politisierten Kollegen in der Justiz zu sein. Die Staatsanwaltschafts- und Richter-Karrieren sollen strikt getrennt werden. (In den deutschen Bundesländern besteht diese Trennung nicht, in Bayern wird der Austausch sogar ausdrücklich gefördert.) Ermittlungsinstrumente wurden schon eingeschränkt und es wurde u.a. verordnet, die Betreffenden über Untersuchungen gegen sie schon vor der Vernehmung zu informieren. Die entsetzten Mafia-Sonderstaatsanwälte halten den Minister mit seiner Staatsanwalt-Erfahrung in dem vergleichsweise beschaulichen Venedig für naiv. Die Linie Nordios, der sich schon in den „Mani Puliti“ Verfahren der neunziger Jahre gegen den nach seiner Ansicht politisierten mailändischen Pool stellte, gefällt jedoch vielen Politikern, auch manchen in der Opposition, die sich wie weiland Berlusconi von der Justiz verfolgt fühlen.
Erneut kurz vor Jahresschluss hat die Koalition den Staatshaushalt für das kommende Jahr beschlossen. Das „Legge di Bilancio 2025“ wurde wieder erst in der letzten Dezemberwoche verabschiedet, und am 30.12. 2024 veröffentlicht. Wie zu erwarten, hat die Regierungskoalition den Entwurf des Finanzministers mit einigen Änderungen zugunsten von Koalitionären durchgedrückt und die vielen Änderungswünsche der Opposition zumeist ignoriert. Vom Generalstreik der Gewerkschaften wegen der sozialpolitischen Schieflage des Entwurfs und von den Alarmrufen aus dem Gesundheitswesen hat sie sich unbeeindruckt gezeigt.
Aufschlussreich waren im Verlauf die Scharmützel zwischen den Juniorpartnern der Koalition, über Vorschläge der Lega einerseits und Gegnerschaft der Forza Italia (FI) andererseits, so z.B. bei dem Vorschlag, den Rundfunkbeitrag von 90 auf 70 Euro zu senken. Das missfiel dem Juniorpartner FI und deren Finanzier, der Berlusconi-Familie, die eine wachsende Konkurrenz der RAI am Werbemarkt befürchtete, und wurde nicht angenommen. Salvinis Lega brachte außerdem mehrere Änderungswünsche ein, die säumige Zahler von Steuern, Gebühren oder Strafen ganz oder teilweise entlasten sollten. Dieses Erlasswesen missfällt außer der Opposition auch Vertretern von Regierungsparteien, besonders auch Amtsträgern in Finanz-, Renten-, Justiz- und anderen Behörden, die darauf verweisen, dass sich korrekte Zahler als die Dummen vorkommen müssen. So einigte man sich wieder auf Stundungen.
Der zur Lega gehörende Finanzminister Giancarlo Giorgetti kämpft für eine niedrigere Neuverschuldung und hält sich aus diesen Scharmützeln heraus. Auch Meloni spielt Differenzen in der Koalition herunter. Wenn es ihr zu strittig wird, weist sie allerdings kaum verhohlen darauf hin, dass sie vielleicht mal keine Lust mehr aufs Regieren hat. Schon das wirkt disziplinierend, da die Abgeordneten der Lega und Forza Italia in einer Art goldenem Käfig sitzen. Viele von ihnen würden vor Neuwahlen nicht wieder eine zwischen den Mitte-Rechts-Parteien abgestimmte Einheitskandidatur erhalten, da Melonis für ihre weit stärkere FdI mehr davon verlangen wird als voriges Mal
Meloni hat die Haushaltsdebatte zu einem laustarken Angriff auf Kritiker genutzt, gezielt auf ihre Vorgänger Romano Prodi und Mario Monti, die ihre Nähe zu Milei und Musk gebrandmarkt hatten. Wie schon gegenüber Berlusconi zu Beginn der Amtszeit, wehrt sie sich vehement gegen den Verdacht, unter den Einfluss Mächtiger zu stehen. Die soeben (am 07.01.2025) publik gewordenen vertraulichen Verhandlungen zwischen Italien und Musk über SpaceX könnten allerdings erklären, warum Meloni so wütend auf die Vorhaltungen reagiert hat.
In der praktischen italienischen Politik herrscht Meloni unumschränkt. Außer auf Giorgetti kann sie sich auf Verteidigungsminister Guido Crossetto und Innenminister Matteo Piantedosi verlassen, die in ihrem Sinne meist geräuschlos handeln. Dem Justizminister Carlo Nordio lässt sie weitgehend freie Hand in dessen schon beschriebenen Kreuzzug.
Auch ihre beiden Vize-Premiers lässt sie agieren und spielt deren öfter konfligierende Meinungen und Vorschläge herunter. Den gemäßigten Außenminister Antonio Tajani übergeht sie allerdings immer mal wieder, gerade wenn sie die ganz Mächtigen z.B. in China oder USA trifft. Auch dem radikalen Dauerdrängler Matteo Salvini erfüllt sie trotz einer zur Schau getragen Vertrautheit nicht alle seine Wünsche. Sein Begehren, wieder Innenminister zu werden, lässt sie von Sprechern als „zurzeit nicht auf der Tagesordnung stehend“ abblitzen.
Auch wenn es in ihrem Kabinett nach wie vor einige leistungsschwache Personen gibt, vollzieht Meloni zur anstehenden Halbzeit der Legislaturperiode kein großes Revirement. Abgänge, z.B. wenn ein Minister nicht mehr haltbar ist oder sie ihn für einen internationalen EU-Posten durchgesetzt hat, ersetzt sie zügig eins zu eins. Die Frequenz der Fehltritte und unfreiwilliger öffentlicher Komik von Ministerialen ist seit dem letzten Sommer deutlich gesunken.
Die einzige mindestens ebenbürtige Kompetenz im politischen Italien stellt Staatspräsident Matarella dar. Ihm gelingt es, in fast täglichen Ansprachen zu Ehrungen und Besuchen in seiner nüchternen Sprechweise ohne Pathos, die Werte der italienischen Verfassung konkret am jeweiligen Anlass hervorzuheben – und auch dezent bei Gesetzesvorhaben anzumahnen. Das hebt die Selbstachtung der Italiener, unter denen viele die Kabbeleien und Verunglimpfungen, das Mobbing und unfundierte Behauptungen von Politikern, Journalisten und Intellektuellen leid sind, auch in den vielen Talkshows. Neben Matarella ist medial in Italien auch Papst Franziskus dauerpräsent, als moralische Instanz und mit seinen nahezu täglichen Friedensaufrufen.
Bildquelle: Screenshot X, 5.1.2025