Unsicherheit herrscht nach wie vor bei der Diagnose: Während die Ärzte im fernen Sibirien bei dem eingelieferten Patienten Alexej Nawalny keine Vergiftung feststellen konnten oder wollten, stellte der Oberarzt des Münchener Bundeswehrinstituts für Pharmakologie und Toxikologie Spuren des Gifts aus der Nowitschok-Gruppe von Nervenkampfstoffen im Blut, Urin und auf der Haut fest, nachdem der ins Koma versetzte Patient in die Berliner Charité verlegt worden war.
Kontroverse Diagnosen
Dass seitens der russischen Regierung die deutsche Diagnose nicht anerkannt und nachdrücklich als Fehlurteil gewertet wurde, überraschte gewiss nicht, obwohl bereits früher unliebsame Kreml-Kritiker wie Sergej Wiktorowitsch Skripal und seine Tochter sowie andere mit russischem Gift aus dem Weg geräumt werden sollten – und zwar in Großbritannien und nicht in Russland. Ob der Giftanschlag auf Nawalny, der einer der profiliertesten Regimekritiker und Gegner der russischen Oligarchenriege ist, direkt aus dem Kreml befohlen, vom russischen Geheimdienst oder von einem Oligarchen durchgeführt wurde, das alles ist bislang nicht geklärt und wird wohl auch nicht eindeutig aufzuklären sein.
Inzwischen ist der Patient Nawalny in der Berliner Klinik aus dem Koma erwacht. Er reagiert wieder auf die Ansprache der Ärzte, die ihn dort behandeln. Ob er in einigen Tagen überhaupt etwas zur Aufklärung beitragen kann, ist völlig unsicher. Auch die deutschen Geheimdienste haben bisher kaum Erhellendes zu diesem Anschlag , zu der möglichen Verwicklung des Kreml oder des russischen Geheimdienstes GRU beitragen können.
Empörung statt Fakten
Sowohl in Deutschland als auch in der EU bewegen sich die Politiker auf dem sehr dünnen Eis von Wahrscheinlichkeiten und Vermutungen. An harten Beweisen fehlt es, nicht jedoch an harten verbalen Attacken seitens der Bundesregierung, deutscher Parlamentarier und des EU-Außenbeauftragten Joseph Borrell. Die Bundeskanzlerin forderte von der russischen Regierung Antworten und Erklärungen zu den schwerwiegenden Fragen dieses Giftfalls; das ist richtig und wichtig.
Doch bis heute gab es seitens der Kreml-Führung knallharte Dementis, Abwehraktionen und heiße Luft. Es wurde gar von Verteidigung auf Angriff geschaltet, nämlich zu der Behauptung, dass Nawalny wohl in Deutschland vergiftet worden sei. Die Regierung in Moskau gibt jedenfalls vor, nichts, aber auch gar nichts mit dem Fall Nawalny zu tun zu haben. Und sie übt sich in absoluter Ahnungslosigkeit darüber, wer sonst hinter dem Anschlag stecken könnte.
Laute Rufe nach Sanktionen
Derweil schlagen die Wellen der Erregung in Berlin und Brüssel sehr hoch. Der Ruf nach Sanktionen erschallt laut und lauter. Der Kreml-Herrscher Putin soll hart bestraft werden und für die Tat, der er verdächtigt wird, büßen.
Ins Blickfeld der Bestrafung wird dabei die Gaspipeline Nord Stream 2 gerückt. Seit Anfang der 70er Jahre bezogen Deutschland und andere europäische Staaten sowjetisches Gas. Mehr als 10 % unseres Gasverbrauchs sollte es damals nicht sein, inzwischen sind es fast 40 %. Selbst in der Eiszeit der West-Ost-Beziehungen erfolgten die Energielieferungen mit größter Zuverlässigkeit.
Nun wird auf noch höhere Lieferungen für die nächsten Jahre gesetzt, um mit Gas die Lücken zu schließen, die durch die übereilte deutsche Energiewende, mit dem gleichzeitigen Ausstieg aus der Kernenergie sowie aus der Stein- und Braunkohle entstehen wird. Diese neue zusätzliche Ostseepipeline Nord Stream 2 mit einer Länge von 1.234 Kilometer Länge ist bereits zu 94 % fertig gestellt. Sie ist ein Projekt der europäischen Konzerne Royal Dutch Shell, der französischen Engie, der österreichischen OMV, von Uniper und Wintershall Dea sowie der russischen Gazprom. Insgesamt werden sich die Investitionen auf 9,5 Mrd. € belaufen; die westlichen Partner sind mit jeweils 950 Mio. €, also mit je 10 %, dabei. Drohungen gegen diese Pipeline gab es wiederholt vom US-Präsidenten Trump, der dabei stets amerikanisches Flüssiggas den Europäern verkaufen wollte. Die Pipeline sollte bereits 2019 fertig sein. Jetzt fehlen gerade noch 160 Kilometer bei der Röhren-Verlegung, damit das Gas aus der russischen Narva-Bucht direkt nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern gepumpt werden kann.
Pipeline-Stopp: Eine Pleite für den Westen?
Ein Stopp dieser Pipeline durch die Bundesregierung würde in erster Linie die deutschen Firmen und andere europäische Partner hart treffen. Hohe Wertberichtigungen wären fällig. Die Konzerne würden deshalb gegen die Bundesregierung auf Schadensersatz klagen. Letztlich müssten deutsche Steuerzahler den riesigen Schaden begleichen. Auch wird es gewiss nicht sehr einfach werden, die Gasmengen, die aus Russland für Deutschland und andere europäische Staaten bereits einkalkuliert worden sind, zu ersetzen. Viele Energieexperten sehen das Flüssiggas aus den USA und anderen Staaten kaum als gleichwertige Alternative. Zudem fehlt es an Spezialtankschiffen und an Anlandeterminals dafür.
Russen mit hoher Leidensfähigkeit
Auch für Gazprom würde ein Stopp von Nord Stream 2 einen Ausfall von hohen Milliarden-Einnahmen bringen. Mit diesem Geld wird der staatliche Haushalt Russlands zu einem Teil finanziert. Die russische Regierung würde diese Sanktion indessen verschmerzen, notfalls durch Kürzungen von Finanzausgaben für große Teile der Bevölkerung. Ohnehin ist das russische Volk außerordentlich leidensfähig und steht zum Vaterland, wenn es nottut. Schon die Sanktionen nach der völkerrechtswidrigen Eroberung der Krim haben nahezu keine große Wirkungen gebracht. Die Produktion von zahlreichen Gütern wurde gesteigert; die Lieferungen deutscher Firmen wurden vielfach ohne Probleme kompensiert.
Bis zum Beweis: Unschuldsvermutung
Im Zweifel für den Angeklagten – dieses Prinzip wird im deutschen Rechtsstaat praktiziert. Zweifel bestehen bislang an der Verwicklung der Kremlherrscher an dem kriminellen Giftanschlag auf Nawalny. Bis sie nicht eindeutig ausgeräumt werden, bleibt die Unschuldsvermutung geboten – ganz gleich ob es uns gefällt oder nicht. Dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, der angesichts durchaus verständlicher Empörung hierzulande vor einer Eskalation warnt, ist jedenfalls bedenkenswert: „Auf die Vergiftung Nawalnys mit weiteren Wirtschaftssanktionen zu reagieren, die dann wieder an der Sache völlig unbeteiligte Unternehmen und die russische Bevölkerung treffen würden, halten wir für falsch.“ Gift statt Gas durch die Pipeline zu transportieren, das könnte zu einer Neuauflage des kalten Krieges zwischen dem Westen und Russland führen. Und das wäre wirklich katastrophal. Last but not least sollte die russische Regierung ihre Hände nicht weiterhin nur mit Verbalgirlanden in Unschuld waschen, sondern alles tun, um die Giftattacke auf Nawalny aufzuklären und die Hintermänner dieses grässlichen Verbrechens ausfindig zu machen. Das wäre der beste Beitrag, den Putin und seine Genossen zur Entgiftung der politischen Beziehungen und auch der Gaslieferungen leisten sollten.
Bildquelle: Wikipedia, Pjotr Mahhonin / CC BY-SA ()