Die EU steckt tief zerstritten in einer hartnäckigen Stagnation mit steigender Arbeitslosigkeit in ihren Krisenländern und einer drohenden Deflation. Europa ist dabei wirtschafts- und finanzpolitisch in zwei Lager gespalten und das früher Jahrzehnte funktionierende Führungsduo Frankreich- Deutschland ist zudem blockiert. Der ursprünglich zur Lösung kontroverser Personalfragen für die neue Amtsperiode der Kommission und die neue Legislaturperiode des Parlaments angesetzte Sondergipfel brachte personelle Konstellationen, die den zähen Richtungskampf in der Wirtschafts- und Finanzpolitik verschärfen werden. Denn das wochenlange Tauziehen um die nach Jean Claude Junckers EU-Kommissionspräsidentschaft zu besetzenden Schlüsselpositionen war ja nur vordergründig ein Personalstreit.
Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel
In Wahrheit entwickelt sich in der EU schon länger ein unausweichlicher „Showdown“ um den künftigen wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs in Europa. Dieser offene Machtkampf wurde auf dem jüngsten Gipfeltreffen nur dramaturgisch in den Medien durch den Konflikt der EU mit Russland notdürftig übertüncht. Die Methode, dass man die innere konzeptionelle Zerstrittenheit mit einem kurzfristig auf die Tagesordnung gesetzten „Putin-Bashing“ überdeckt, wurde ja schon beim Sondergipfel am 16. Juli praktiziert. Doch die Ankündigung neuer „Strafmaßnahmen“ gegen Russland wird wieder über einen absehbaren schmerzlichen realwirtschaftlichen und konjunkturpsychologischen Rückstoß die europäische Wirtschafts- und Finanzkrise weiter beschleunigen und damit den fundamentalen europäischen Richtungskampf forcieren. Zum diesmal aufgeschobenen Höhepunkt des Richtungskampfs bedarf es daher eines neuen EU- Gipfels. Insofern frei nach Sepp Herberger: Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel.
Misserfolg der Stabilisierungsstrategie
Angesichts einer immer stärker in Richtung Null sinkenden Inflationsrate droht der jahrelang stagnierenden EU-Wirtschaft jetzt sogar massiv eine Deflation in Kombination mit einem brachialen Comeback der Krise der Eurozone. Marcel Fratscher, Präsident des Deutschen Instituts der Wirtschaft (DIW) befürchtet, „vor Europa liegt eine längere Phase aus Stagnation, Deflation und Arbeitslosigkeit“. Guntram Wolff, Direktor der Brüsseler Denkfabrik Bruegel warnt, „die europäische Konjunktur ist unheimlich schwach“. Davon kann das verbal mühselig Interessenkonflikte kaschierende Auftreten in der Konfrontation mit Russland zwar kurzfristig notdürftig ablenken. Aber der Machtkampf um den wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs der EU wird aufgrund der ökonomisch verzweifelten und perspektivlosen Lage einzelner Krisenländer offen ausbrechen. Zu tief sitzt die Frustration über den unübersehbaren Misserfolg der zwar immer wieder gemeinsam beschlossenen, aber von Berlin konzipierten und durchgesetzten Stabilisierungsstrategie gegen die europäische Finanzkrise, speziell in der Eurozone. Auch die seit de Gaulle und Adenauer funktionierende Führungsachse Frankreich-Deutschland ist über diesen permanenten Richtungsstreit zerbrochen. Eine konstruktive Kurskorrektur ist unter diesen Bedingungen blockiert.
Letzten Endes hat sich die von Angela Merkel durchgesetzte Krisenstrategie vor allem für die wirtschaftlich stärksten, d.h. die wettbewerbsfähigsten Mitgliedsstaaten halbwegs gelohnt.
Ökonomische Spaltung der EU
Deutschland geht es im Rahmen einer immer stärkeren ökonomischen Spaltung der EU besser als dem Gros der gebeutelten Partner und das Land hat mit stolzem Blick auf die Nachbarn das Gefühl: „Uns geht‘s ja Gold“. Deutschland profitiert haushaltspolitisch als größter Partner am meisten von den extrem niedrigen Zinsen als notgedrungener geldpolitischer Folge des konjunkturdämpfenden Sparkurses. Deutschland glänzt mit international hoher Wettbewerbsfähigkeit sowie einem starken Arbeitsmarkt – auch und vor allem eine Folge der Schröderschen Reformpolitik. Ein konfliktträchtiger Kontrast zu dem größtenteils wirtschaftlich weit schwächeren Umfeld, insbesondere gegenüber den gebeutelten südlichen Krisenstaaten und dem notorisch schwächelnden Frankreich.
Der Widerspruch, dass ein in Berlin propagierter unnachgiebiger Sparkurs der „Schwäbischen Hausfrau“ individuell zwar immer in Form eines prallen Geldbeutels erfolgreich ist, dagegen aber als makroökonomische Heilslehre für angeschlagene Volkswirtschaften und die EU als gesamter Wirtschaftsraum krass versagt, hat zu einem jahrelangen konjunkturellen Kriechkurs Europas entlang der Nulllinie geführt. Selbst Deutschland als Modellstaat makroökonomischer Daten schwächelt neuerdings durch diesen einseitigen Austerity-Kurs, der ganz Europa einseitig mit nachfrageschrumpfenden Vorgaben traktiert und davon ausgeht, alleine Streichen und Kürzen führe zu einer boomenden Wirtschaft und speziell zur Gesundung der Eurozone.
High Noon zur Austerity-Politik
Die Folgen, steigende Arbeitslosigkeit, insbesondere die krasse Jugendarbeitslosigkeit in den wirtschaftlich schwächeren Mitgliedsländern hat die EU in einen jetzt nicht mehr länger aufschiebbaren Interessenkonflikt und in die offene Kraftprobe um eine Kurskorrektur getrieben. Dazu kommt jetzt noch, dass die Sanktionspolitik der EU gegen Russland im Kielwasser der USA natürlich konjunkturell total kontraproduktiv wirkt. Angesichts der ohnehin schwachen konjunkturellen Belebung im ersten Berichtsquartal 2014 führt dieser unglaubliche Anfall wirtschaftspolitischer Selbstverstümmelung inzwischen seit dem zweiten Quartal 2014 zu einem herben konjunkturellen Rückschlag in der gesamten EU. Viele Mitgliedsstaaten kritisieren und stemmen sich inzwischen offen gegen die Fortsetzung dieses einseitigen Austerity-Kurses. Ein High Noon zu diesem Richtungskampf scheint unausweichlich.
Ein angezählter Hollande wagt sich aus der Defensive
Selbst der politisch angezählte Francois Hollande hat sich aus blankem politischem Selbsterhaltungstrieb aus der Defensive gewagt und letzte Woche eine „neue Initiative für Wachstum auf europäischer Ebene“ gefordert. Diese solle vor allem „einen Rhythmus bei der Reduzierung der Haushaltsdefizite beschließen, der dem Risiko einer Deflation Rechnung trägt“. Dadurch müsse endlich die Perspektive der unendlichen Stagnation in Europa überwunden werden. Dabei beruft sich Frankreich ausdrücklich auf die Flexibilität der Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts.
Also hat sich auch der ständig zaudernde Hollande letzten Endes doch der Grundrichtung seines früheren Wirtschaftsministers Arnaud Montebourg angeschlossen, der kurz vorher auf Betreiben des französischen Ministerpräsidenten Manuel Valls aus dem Kabinett flog, weil er genau diesen Kurswechsel in einer unverbrämt kritischen und völlig undiplomatischen Attacke gegen den Kurs von Angela Merkel eigenmächtig vorpreschend öffentlich gefordert hat. Manuel Valls konnte offensichtlich seine Mannesehre nur noch durch eine Tatkraft signalisierende Regierungsumbildung retten.
Personalgerangel als Stellvertreterkonflikt
Die jetzt nach wochenlangem Gerangel beim Sondergipfel beschlossenen Personalentscheidungen und die absehbaren Folgen für andere Schlüsselpositionen werden den Kampf um den richtigen Wirtschafts- und Finanzkurs noch personell weiter verhärten. Insofern war der wochenlange vordergründige Personalstreit in Wahrheit ein Stellvertreterkonflikt zum europäischen Richtungskampf:
Mit Jean Claude Juncker als schon gewähltem neuem Präsidenten der EU-Kommission wäre zwar eine Kurskorrektur denkbar. Aber da ist ja noch der neue Sessel für den künftig hauptamtlichen Chef der Eurogruppe der Finanzminister: Eine Schlüsselposition, die nach Merkels Absprache mit dem spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy bei einer gemeinsamen Wanderung auf dem Jakobsweg der frühere spanische Wirtschaftsminister Luis de Guindos werden soll – ein treuer Unterstützer des Merkel-Kurses.
Dagegen hat die französische Regierung folgerichtig als Gegengewicht den früheren französischen Finanzminister Pierre Moscovici als Kandidaten für das Amt des Wirtschafts- und Währungskommissars vorgeschlagen. Zwar macht formal Jean Claude Juncker die Personalvorschläge für die Kommission auf der Basis der Wünsche der einzelnen Mitgliedsstaaten. Aber es handelt sich hier nach dem Parteienproporz um eine Position, deren Besetzung die sozialdemokratische Parteienfamilie erfolgreich beanspruchen kann, wenn sie im Gegenzug Luis de Guindos als Eurogruppenchef akzeptiert. Der mächtige Währungskommissar entscheidet im konkreten Fall darüber, ob die Defizitkriterien im Sinne einer konjunkturellen Belebung flexibler ausgelegt werden.
Dagegen wird die Entscheidung für Donald Tusk als neuen EU-Ratspräsidenten, ein loyaler Gefolgsmann von Angela Merkel, die Position der Bundeskanzlerin im Kampf um den künftigen Krisenkurs der EU stärken, weil der Ratspräsident die Vorlagen für den Europäischen Rat der Regierungsspitzen beeinflusst.
Die Entscheidung für die italienische Außenministerin Federica Mogherini als neue EU-Außenbeauftragte – ist trotz aller Kritik an angeblicher Unerfahrenheit und zu großer „Russlandfreundlichkeit“ – für den ökonomischen Richtungskampf in der EU zunächst nicht bedeutsam. Aber im Zweifel wird sie in Brüssel für Ministerpräsident Matteo Renzi, ihren Förderer sowie neuen italienischen Superstar, einstehen und dessen Position entspricht finanzpolitisch notgedrungen der französischen Haltung.
Konzeptionelle Spaltung der künftigen EU-Spitze
Damit wird die neue personelle Konstellation als wichtige Rahmenbedingung des künftigen Richtungskampfes in der EU-Spitze äußerst schwierig. Dieses Ringen wird auch über ein selbstbewussteres neues Europäisches Parlament mitgestaltet, an dessen Spitze ein äußerst machtbewusster Player der Brüsseler Politik, Martin Schulz, steht.
Dieser Überblick über das neue und absehbare Personaltableau als Folge des letzten Sondergipfels zeigt, dass die konzeptionelle Kontroverse über den künftigen wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs der EU nicht nur zu einer starken Konfrontation bei den Mitgliedsstaaten geführt hat: Die konzeptionelle Spaltung ist auch innerhalb der künftigen EU-Spitze so stark wie noch nie.
Gescheiterte Voodoo-Ökonomie und Große Koalition
Gespannt kann man angesichts dieser geradezu betonierten Spaltung der EU-Spitze auf das Verhalten der deutschen Sozialdemokratie als Partner der Großen Koalition sein. Sigmar Gabriel ist dabei als ressortpolitisch zuständiger Wirtschaftsminister, aber auch als SPD-Parteivorsitzender doppelt gefordert:
Die SPD hat jahrelang eine Korrektur des einseitigen Austerity-Kurses und wirksame Förderprogramme für die Krisenländer Europas gefordert. Aber auch nach ihrem Eintritt in die Große Koalition wird die deutsche Position in Brüssel immer noch von der Denkschule dominiert, dass wenn alle Länder Kosten und Aufwendungen durch Einsparungen bei Produktion, Sozialsektor und Staatausgaben senken und die damit verbundene Nachfrage schrumpft, als Gesamtresultat gleichzeitig alle reicher werden. Ein Eiertanz des Wirtschaftsministers und SPD-Parteivorsitzenden zu diesem Thema mit wortgewaltigen Auftritten auf sozialdemokratischen europäischen Spitzentreffen und sanfter Gefügigkeit am Kabinettstisch der Großen Koalition würde die Glaubwürdigkeit von Sigmar Gabriel und der deutschen Sozialdemokratie auf Dauer schwer beschädigen.
Denn Fakt ist: Auf Basis der zumindest gesamteuropäisch gescheiterten Voodoo-Ökonomie Angela Merkels kann das Jahrzehnte bewährte Zusammenspiel zwischen Berlin und Paris zur Führung der EU nicht mehr repariert werden und ist konzeptionell blockiert. Zwar wird diplomatisch noch die Form gewahrt, aber es sind so nur noch Formelkompromisse möglich. Angela Merkel muss erkennen, dass ohne Kurskorrektur Europa ökonomisch immer weiter auseinander driftet.
Europa trudelt aktuell damit ohne sein traditionelles und früher bewährtes Führungsduo Frankreich –Deutschland tief gespalten durch eine für das Modell EU existenzielle Wirtschafts-und Finanzkrise, weil sich die Autorität des von Berlin aus durchgesetzten Krisenmanagements in vielen Mitgliedsstaaten längst abgenützt hat. Ein länger anhaltender Richtungskampf, der jetzt durch den Sondergipfel personalpolitisch geradezu noch institutionalisiert wurde, könnte zum Abstieg oder gar Zerfall der EU führen.
Die Bundeskanzlerin ist tagespolitisch schlau und machtpolitisch flexibel: Warum sollte sie nicht den Start der neuen Kommission und des neuen Parlaments nützen, um durch eine pragmatische Kurskorrektur doch noch vom Gaul einer gescheiterten Strategie zu kommen.