Dem Antiquar in der Innenstadt Wilhelmshavens kann man nur dankbar sein, dass er in seinem großen Bestand von an die 20.000 Büchern ausgerechnet den Roman von Wolfgang Hildesheimer: Paradies der falschen Vögel hatte, den der Suhrkamp-Verlag Mitte der 1970er Jahre einst verlegte. Und der Name des heute längst vergessenen Autors muss einem auch etwas sagen; so etwa, dass Hildesheimer über seine großartige Mozart-Biografie hinaus auch höchst interessante Romane verfasst hat. Aus unserer kleinen Sammlung der Werke dieses Autors schrieb ich einst für den Blog der Republik (26.06.2020) eine Besprechung des Romans Tynset, in der ich bereits auf die ungewöhnliche Schreibkunst des Autors hinwies.
Mit dem Roman über Kunstfälschungen Vögel ist Hildesheimer nun wahrlich ein Geniestreich gelungen. Es geht um ein heikles Thema, wie wir spätestens seit dem ‚Skandal‘ um Beltracchi wissen. Wenn man, wie wir, für diesen Fälscher und ineins selbst Künstler ein Faible hat, auch weil es ihm gelungen war, die Mechanismen des Kunstmarktes aufzudecken und diesen damit bloßzustellen, dann kann man den Hildesheimer-Roman als kongeniale Ergänzung lesen und verstehen. Während der Maler Beltracchi sich auf das Nachahmen berühmter und gefeierter Künstler konzentrierte, indem er höchsten Wert darauf legte, ihre Handschrift herauszufinden und zu beherrschen, erzählt der Schriftsteller Hildesheimer zudem von völlig frei erfundenen Künstlern und ihren Werken. Der Roman fängt gleich mit einem solchen Fall an:
Der Maler Ayax Mazyrka, der ‚Procegovinische Rembrandt‘ genannt, eine der berühmtesten Erscheinungen der Kunstgeschichte, hat niemals existiert. Seine Werke sind gefälscht, und die Geschichte seines Lebens ist eine Fiktion.
Dass der Autor seine Geschichte hauptsächlich in einer kleinen, provinziellen Balkan-Region spielen lässt, worauf hier bereits die erwähnten Namen hinweisen, ist auf den ersten Blick unerheblich, auf den zweiten nicht ganz. Denn wenn es weiter heißt, dass die gefälschten Meisterwerke des fiktiven Malers in europäischen und amerikanischen Galerien hängen und dort teuer verkauft werden, ist es schon von Bedeutung, dass ihre Herkunft im hintersten Zipfel des europäischen Kontinents liegt, was die Absurdität des Falles auf die Spitze treibt. Selbstredend, so will es der Roman, sei dies kein Einzelfall; vielmehr seien die Galerien und Museen weltweit mit Fälschungen durchsetzt, (…) aber niemanden berührt das, denn es fällt nicht in das Gebiet des sogenannten täglichen Lebens. Berühren tut es nur die Akteure des Kunstmarktes, und diese bilden bekanntlich eine relativ kleine Klientel von sogenannten Experten, Ausstellern, Anbietern, Verkäufern und Käufern, verglichen mit der Bevölkerung insgesamt, die dieses Treiben nicht interessiert.
Nur mit dieser Verschiebung des Interesses ist es zu erklären, daß zum Beispiel auch mancher Meister des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, dessen Bilder zu dem schönsten Bestand vieler Museen gehören, sich in die Kunstgeschichte eingeschmuggelt hat, der zwar tatsächlich unbekannt war, dessen Existenz aber keineswegs im Mittelalter, sondern in der Gegenwart, und dazu in meinem unmittelbaren Verwandtenkreis zu suchen ist, und der sich zur Aufgabe gemacht hat, diesen Bestand zu bereichern, wenn auch nicht aus höheren, sondern (…) aus eigennützigen Motiven.
Die Rede ist von dem bereits erwähnten, frei erfundenen Maler Mazyrka, und der Ich-Erzähler lässt durchblicken, dass dessen Schöpfer ein enger Verwandter von ihm ist, nämlich sein Onkel Robert, der lange Zeit in der Balkanregion gelebt hat und im Bereich des Kunsthandwerks als Maler (und auch Händler) tätig gewesen ist.
Hildesheimer entfaltet anfangs sein Personaltableau, und es lohnt, die Haupt- und Nebenpersonen, die hier vorgestellt werden, sich zu merken, denn sie spielen am Ende dieses von unglaublichen Verwicklungen geprägten Romans noch eine gewichtige Rolle: Der junge Held und Ich-Erzähler Anton Velhagen (der sich später aufgrund eines ‚Grenzzwischenfalls‘ mit tödlichem Ausgang genötigt sieht, seinen Namen zu ändern) wächst bei seiner Tante Lydia auf, die ein Faible für Kunst hat, aber nicht gerade geschmackssicher ist (sie neigt auch zum Kitsch); sie ist wohlhabend, aber eher in ökonomischer als in kultureller Hinsicht, stellt für den Neffen den Hauslehrer Philipp Roskol ein, der auch ihr Liebhaber wird, bis er später das Weite sucht. Onkel Robert, der Bruder Lydias, kommt gelegentlich mit dem Orient-Express zu Besuch aus dem Balkan in die alte Heimat; hier entdeckt er auch die ersten Malversuche seines Neffen, findet sie bemerkenswert und nimmt sie an sich – um sie irgendwann als echte Millingtons (ein früh verstorbener amerikanischer Künstler des späten 19. Jahrhunderts) erfolgreich in den Kunsthandel einzuschleusen und damit sein Geld zu verdienen.
Er ist ein exzellenter Kunstfälscher und dabei durch und durch geschäftstüchtig, d.h. er versteht nicht nur sein Handwerk bis zur Perfektion auszuüben, sondern seine Werke anzupreisen und an den Mann zu bringen. Er hat auch so etwas wie ein Berufsethos als Fälscher:
Das Fälschen, so pflegte Onkel Robert zu sagen, sei nur durch ängstliche Sammler und ehrgeizige Museumsdirektoren in Verruf geraten. Diese hätten die öffentliche Meinung vergiftet und die Augen des Publikums unnötig weit geöffnet. Niemand wisse um den echten schöpferischen Vorgang, welcher mit der Ausübung dieser Tätigkeit verbunden sei, niemand ahne etwas von der ungeheuren Schwierigkeit, sich ganz in den Schöpfer des Vorbildes zu versetzen, welche Vorbedingung diesen Akt erst möglich mache.
Doch auch der größte Fälscher gerät einmal in die Klemme. Onkel Robert, der seinen Mazyrka-Zyklus für vorläufig abgeschlossen erklärt, muss einen Weg finden, diese Bilder möglichst hoch aufgehängt zu veräußern. Wie alles in diesem Roman ist auch diese seine Strategie voller Verwicklung, Cleverness und Raffinesse. Robert wagt sich an einen Rembrandt, an die Nachahmung eines ganz Großen, wenn nicht des Größten in der Kunstgeschichte. Rembrandts Kraft und Tiefe, die Intimität seiner Beobachtung, alles, was diesen Meister zum begnadeten Fürsten unter den Malern aller Zeiten prägt, hat sich dem Fälscher mitgeteilt.
Mit diesem ‚Meisterwerk‘ (und versehen mit einem falschen Namen) spricht er nun bei seiner Exzellenz, dem Kultusminister der Procegovina, vor, der das Bild mit dem Vergrößerungsglas prüft, es beklopft und – ganz so, als wäre er ein Experte – es für echt befindet:
‚Es besteht kein Zweifel‘, fuhr der Minister fort (…) Dieser Strich, diese Pinselführung! Es ist die Pinselführung von 1640. – Sagen Sie, Herr…‘
‚Guiscard, Exzellenz, Robert Guiscard.‘
‚Ein berühmter Name. Sind Sie…?‘
‚Der Normannenherzog war ein Vorfahr von mir, Exzellenz.‘
‚So! Sagen Sie, Herr Guiscard, wie kommt dieses Bild in Ihren Besitz?‘
‚Mein Vater hat es mir vererbt. Sein Vater hat es aus niederländischem Privatbesitz erworben. Das war im Jahr 1867. – Nach dem Erdbeben.‘
Dieser höchst amüsant zu lesende Dialog zwischen dem professionellen Fälscher Onkel Robert und dem Kultusminister des Fürstentums Procegovina, der sich als der einzige Kunstexperte hierzulande versteht, geht dann so weit, dass seine Exzellenz gesteht, bisher nur einen einzigen Niederländer in unserer Nationalgalerie zu haben, einen Rubens, und der sei auch noch gefälscht. Da käme der Rembrandt zwar wie gerufen, um diesen gegen jenen auszutauschen, doch die Staatskassen seien leer. So reich wir auch an Tradition und an alter Kultur sind, so arm sind wir an Barmitteln. Da macht sich Robert anheischig, dem Staat diesen Rembrandt als Geschenk darzubieten. Damit nicht genug, gibt er sich selbst zu erkennen: nicht als Spender dieses Bildes, sondern als sein Verfertiger. Also als Fälscher, der aber sofort, zur Beschwichtigung seiner Exzellenz, die Großartigkeit dieser Fälschung preist mit dem Argument, dass doch, wie er selbst mit seiner großen Sachkenntnis, kein Sterblicher in diesem Bild eine Nachahmung statt eines Originals erkennen könne.
Daraufhin der Minister: Aber das ist ja ein unerhörter Betrug! Doch Robert versteht es, diesen kardinalen Einwand mit geschickten Argumenten zu entkräften, indem er auf Aussichten verweist, wie man die Staatskasse des Fürstentums auffüllen könne: ich könnte Ihnen einen großen klassischen Maler, einen Nationalmaler geben. Und so bringt der Fälscher den Minister peu à peu auf seine Seite – und seinen Mazyrka an den Mann. Er spricht in dieser Sache sogar bei seiner Königlichen Hoheit vor, um auch diesem den neuen Nationalhelden und wiederentdeckten Nationalmaler Mazyrka mitsamt seiner (natürlich frei erfundenen) Biografie anzupreisen und die Aussichten auf Berühmtheit und lukrative Einnahmen zu eröffnen. Kurz und gut: der Deal gelingt, Onkel Robert hat erreicht, was er erreichen wollte; und ist darüber nicht nur selbst wohlhabend geworden, sondern wurde zum neuen Kulturminister des Fürstentums ernannt.
Anlässlich eines längeren Besuchs des Neffen in der Procegovina gesteht ihm der Onkel nicht nur die Aneignung und den Verkauf von dessen Jugendbildern unter falschem Namen, sondern weiht den jungen Mann auch umfänglich in sein Tun und Treiben ein. Die Künstler-Ehre gebietet es, den Erlös der Bilder des Neffen diesem zu erstatten.
Doch aus den Schilderungen des Erzählers wird ersichtlich, dass die Rechnung damit bei weitem nicht beglichen war. Dieser, nennen wir ihn bei seinem ursprünglichen Namen Velhagen oder abgekürzt A.V., entdeckt in einer Galerie zwei Bilder von sich ausgestellt. Er betritt den Laden und erkundigt sich beim Händler, ob das nicht ein Velhagen sei? ‚Ganz recht‘, sagte der Herr. Wir schätzen uns glücklich, zwei Werke des unglücklichen jungen Künstlers zu besitzen, welcher der Habgier der Völker zum Opfer gefallen ist.‘ Und auf die Frage, wie sie in den Besitz gekommen seien, erfährt A.V.: ‚Ein Onkel des Verstorbenen, der augenblickliche Kulturminister des procegoninischen Fürstentums, besitzt und verwaltet den gesamten Nachlaß.‘ Und zu seinem Erstaunen erfährt A.V. auch den enorm hohen Preis der Bilder. Nach welchen Gesichtspunkten man diese Preise wohl festgesetzt hatte? Wahrscheinlich entsprachen sie Roberts diabolischer Willkür.
Das Fachgespräch, das A.V. mit dem Händler über in seinem Besitz befindliche Handzeichnungen des jungen Künstlers führt, mündet darin, dass A.V. diese in seinem Hotelzimmer anzufertigen gedenkt, um sie vorbei zu bringen. Doch diese Originale hält der Händler nun für Fälschungen: Ich ließ sie einige Tage dort, und als ich wiederkam, um sie abzuholen, erklärt mir der Herr mit einem Lächeln genießerischen Bedauerns, daß es sich hier um äußerst geschickte Nachahmungen der Manier des unseligen Künstlers Anton Velhagen handele, jedoch keineswegs um Originale. Dann stellte er einige Vergleiche zwischen den Zeichnungen und Onkel Roberts Fälschungen an, welche – um dem Herrn gerecht zu werden – auch mich überzeugten.
Am Ende des Romans zieht der Erzähler noch ein bemerkenswertes Resümee, in welchem er eine Lanze für die Kunstfälschung bricht; in dem Tenor, dass es letztlich unerheblich sei, ob ein Ayax Mazyrka nun existiert habe oder nicht; entscheidend sei doch, dass sich Tausende an seinem Werk erfreut hätten, auch wenn sie hinters Licht geführt worden seien. Für diese sei die Existenz dieses Malers (nur als Beispiel) nicht auszulöschen, denn sie gehöre zum Bestand ihrer Erfahrungen und Erlebnisse. Fälschungen und Fälscher habe es immer gegeben, solange wie die Kunstgeschichte währt, auch die alten Meister hatten ihre Gehilfen oder es wirkten Unbeauftragte an Nachahmungen. Wer die Schöpfer sind, weiß heute niemand, und daher sind die Bilder echt, bis sich das Gegenteil herausstellt, was vielleicht niemals geschehen wird, denn die Entlarvung liegt in niemandes Interesse. Dieser an Absurdität kaum zu überbietenden Geschichte wohnt schlussendlich eine geheime Logik inne, die Hildesheimer so auf den Punkt bringt: Was ist ein echtes Bild? Ein echtes Bild ist ein Bild, welches von einem oder mehreren Experten als echt erklärt ist.