Die New York Times (NYT) vom 30.3.2025 berichtet über die US/NATO Kommandozentrale in Wiesbaden für die Koordination der ukrainischen Streitkräfte und vor allem für deren nachrichtendienstliche Unterstützung. Sie rückt die dort tätigen US-Generäle und ihre ukrainischen Kollegen sowie deren Interaktionen ins Blickfeld. Was die NYT da offenbart, muss dem russischen Militär, wenn nicht im Detail, so doch prinzipiell bekannt gewesen sein, auch schon vor Erscheinen der NYT-Recherche. Putin muss also seit geraumer Zeit wissen, dass er gegen die NATO kämpft. Die NYT zieht nicht ohne Grund den Vergleich zu Vietnam. Nun, da Präsident Trump die Unterstützung zurückfährt und auf ein Ende der Kampfhandlungen drängt, kann die NYT diese bereits historische Phase des Krieges öffentlich machen. Der Artikel erlaubt einige Einsichten, die über diesen speziellen Krieg hinausweisen und als Kommentar zur militärischen Aufrüstung Europas dienen können.
(1) Wie denken Generäle?
Tobias Kohl machte 2009 einen Vorschlag, das Militär als gesellschaftliches Subsystem im Sinne Niklas Luhmanns zu betrachten. Seine „zentrale These ist, dass sich das Militär über die Organisation von Gewaltpotential politikintern als eigenständiges funktionales Subsystem ausdifferenziert, wobei Gewalt als eigenes Kommunikationsmedium verstanden wird. Die Funktion des Militärs liegt in einem engen Bezug zu der Funktion der Politik und dient der Sicherung bzw. Ermöglichung von Machtkommunikation. Es wird gezeigt, wie das Militär die Funktion der Politik – das Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden – über die Konstruktion von Bedrohungen unter strategischen Gesichtspunkten ermöglicht und in Frage stellt. Basal ist dabei die Darstellung der Autopoiesis des Militärsystems über eine selbststrukturierte Selektivität der Verknüpfung und Reproduktion der konstituierenden Elemente, die als gewaltförmig gefasst werden. Die operationale Geschlossenheit wird ermöglicht über einen Code, der Gewalt unter strategischen Kalkülen reflexiviert: die Orientierung an organisierter Gegengewalt.“
Weniger systemtheoretisch gesprochen, Militär organisiert und legitimiert sich über Gewalt, indem es sich am Gewaltpotenzial der als „Gegner“ konzipierten organisierten Gewalt anderer politischer Einheiten („Staaten“) oder als der organisierten Gewalt fähigen nicht-staatlichen Organisationen („Terroristen“) orientiert. Es liefert der Machtkommunikation des politischen Systems Sicherung bzw. Ermöglichung von Machtkommunikation, indem es Bedrohungen unter strategischen Gesichtspunkten konstruiert.
Der „General“ ist ein Funktionsträger in diesem System (hier verlasse ich die Luhmannsche Systemtheorie, die ja nur Kommunikation als systemkonstitutiv erkennt), der General hat die Aufgabe, aus dem politischen System stammende Vorgaben in militärische Operationen zu übersetzen. Er hat ebenso die Aufgabe, das politische System über die materiellen Bedingungen in Kenntnis zu setzen, die mit der Erfüllung dieser Vorgaben einhergehen. Er ist an einer Systemgrenze angesiedelt, die Logiken reiben sich da oft ganz gehörig. Die NYT arbeitet das sehr schön heraus: Generäle der USA fahren aus Wiesbaden heim, um die Politik davon zu überzeugen, dass bestimmte, bis dato aus sehr guten politischen Gründen nicht gelieferte Waffensysteme unbedingt benötigt werden, um das politische Ziel, eine dauerhafte Schwächung Russlands bei Erhalt der territorialen Integrität der Ukraine, auch gewaltförmig umsetzen zu können. Das politische Ziel aber ist gar nicht ihr Thema, ihr Thema ist die Bereitstellung von adäquaten Ressourcen, zunächst, um einen ukrainischen Sieg zu ermöglichen, später, um immerhin zu verhindern, dass die Ukraine den Krieg verliert. Politik und Militär reden bis zu einem gewissen Grad aneinander vorbei.
(2) Wie fühlen Generäle?
Der NYT-Artikel erlaubt einen Einblick in die Kommandozentrale in Wiesbaden: Generäle respektieren kooperierende Generäle, selbst wenn diese in den militärischen Hochschulen des Gegners ausgebildet wurden. Generäle brauchen das Vertrauen von kooperierenden Generälen, sie arbeiten daran, dass Generäle befreundeter und unterstützter Mächte ihnen vertrauen können. Generäle machen einander Kriegstrophäen zum Geschenk. Generäle laden einander zu Segeltörns ein. Generäle sind gekränkt, wenn sie über die militärischen Operationen, die aus politischen Gründen, nicht aus militärischen Logiken heraus unternommen werden, nicht informiert sind. Generäle machen sich Sorgen um tote und verwundete Soldaten, wenn schon nicht aus Menschlichkeit, denn aus der militärischen Logik der dadurch eingeschränkten Möglichkeit der Bereitstellung von Gewalt heraus. Generäle sind Realisten, was ihre Operationen angeht. Sie müssen Realisten sein, denn das Schlachtfeld verzeiht kein „wishful thinking“.
Generäle sind mit anderen Generälen des eigenen Systems oft in Konkurrenz, in Konkurrenz um Zugang zu den politischen Führern und um Einfluss auf deren Entscheidungen, in Konkurrenz um Karrieren, in Konkurrenz um Ressourcen für den je eigenen Feldzug, sie sind im Stab oder auf dem Feld tätig, auch da gibt es Konkurrenz.
Generäle konkurrieren auch um Interpretationen, Strategien und Taktiken, sie kooperieren und konkurrieren also um Deutungshoheit über die Wirkung militärischer Mittel. Der NYT-Artikel macht dies an mehreren Stellen sehr deutlich.
(3) Wie blind sind Generäle?
Ein letzter aus der NYT-Lektüre gewonnener Gedanke. Generäle sind zuständig dafür, Gewalt als Durchsetzungsmittel politischer Ziele zur Verfügung zu stellen. Sie sind darin ausgebildet, Eskalationen einschätzen zu können, doch sie orientieren sich an organisierter Gegengewalt, nicht an der Gewaltlosigkeit, nicht an Diplomatie, sie sind daher nicht per se de-eskalierend tätig.
Wenn sie erfahren, dass ein Gegner mit dramatischer Eskalation droht, etwa mit dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen, vermuten sie zunächst eine leere Drohung, denn sie kennen die vielen Untersuchungen, dass ein nuklearer Krieg für niemanden zu gewinnen ist und sie wissen, dass die gegnerischen Generäle diese Untersuchungen genauso gut kennen. Generäle verlassen sich darauf, dass auch gegnerische Generäle denken wie sie, ob sie nun an den eigenen oder an gegnerischen militärischen Hochschulen ausgebildet wurden.
Wenn allerdings eine zivile politische Entscheidung für einen Einsatz nuklearer Waffen zu befürchten ist, dann sind sie nicht dazu imstande, auf die Notbremse zu treten. Die Generäle haben nun einmal die Aufgabe, Gewalt zu organisieren und nicht Gewaltlosigkeit. Sie können nicht aus der grundlegenden Logik ihres Subsystems aussteigen, selbst wenn sie wissen, dass die Folgen einer Eskalation eines nuklearen Kriegs so entsetzlich sind, dass Verlust in einem konventionellen Krieg dagegen überhaupt nicht gegengerechnet werden kann.
Dafür wären zivile Politikerinnen und Politiker zuständig. Die allerdings sind im Zweifel weit weniger rational als die in Rationalität geschulten Generäle. Blind dafür, dass „diese mörderische Form der Gewaltausübung menschenunwürdig ist“ sowie „Nichts weniger als die Überwindung der Institution des Krieges notwendig [ist]“ wie Jochen Luhmann im Blog der Republik Jürgen Habermas und Carl Friedrich von Weiszäcker zitiert[3], sind sie beide, die Politiker wie die Generäle.
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