Die Erleichterung über die Freilassung von Peter Steudtner ist groß und überaus verständlich. Nach hundert Tagen in türkischer Untersuchungshaft stand der Berliner Menschenrechtler zusammen mit Gleichgesinnten vor Gericht. Die Anklage war dermaßen fadenscheinig und haltlos, dass die Staatsanwaltschaft schließlich selbst die Freilassung beantragte. Für einige türkische Angeklagte ist sie mit Auflagen verbunden, doch Peter Steudtner und auch der Schwede Ali Ghavari sind frei, Istanbul umgehend zu verlassen. Der Prozess ist noch nicht beendet. Die Fortsetzung Ende November dürften beide aus sicherer Entfernung verfolgen.
Die Entscheidung ist kein Beleg für das Funktionieren des türkischen Rechtsstaats; vielmehr lässt sie sich als Nachweis für den direkten Einfluss von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf die Gerichtsbarkeit auslegen. Er instrumentalisiert die Justiz für politische Auseinandersetzungen und hat dabei, seit den umfangreichen „Säuberungen“ nach dem Putschversuch und unter den Bedingungen des Ausnahmezustands, leichtes Spiel.
Die Vermutung liegt nahe, dass neben dem Zureden von Altkanzler Gerhard Schröder wirtschaftlicher Druck Erdogan zu dieser Geste veranlasst hat. Seit langem sagen seine Kritiker, das sei die einzige Sprache, die der machtversessene Staatschef verstehe. In der Europäischen Union hat die deutsche Bundeskanzlerin soeben auf ein Ende der Vorbeitrittszahlungen an Ankara gedrängt. Die erforderliche Einstimmigkeit für einen vollständigen Abbruch der Beitrittsverhandlungen ist in Brüssel nicht in Sicht. Gottlob, möchte man sagen, denn damit wäre den demokratischen Reformkräften, der rechtsstaatlichen Entwicklung in der Türkei und letztlich auch dem Miteinander hierzulande nicht gedient.
Die EU begnügt sich folglich mit Drohungen und kleinen Schritten. An den Milliarden für den Flüchtlingsdeal mit Erdogan wird nicht gerüttelt, die westliche Wirtschaft rumort und soll nicht verprellt werden, die NATO hält sich angesichts der bedenklichen Vorgänge in ihrem Mitgliedsland ohnehin bedeckt. Doch noch ist nichts erreicht, was auf ein grundlegendes Einlenken Erdogans schließen ließe, noch ist weiterer Druck notwendig, um den autoritären Präsidenten in die Schranken zu weisen.
Der Prozess gegen die Übersetzerin und Journalistin Mesale Tolu, die weiter in Untersuchungshaft sitzt und mit 15 Jahren Haft bedroht wird, ist ebenso empörend wie die seit mehr als acht Monaten währende Inhaftierung des Journalisten Deniz Yücel, gegen den nicht einmal eine Anklageschrift vorliegt, geschweige denn ein Prozess anberaumt wäre. Neben den politischen Häftlingen, denen Verschwörung und die Unterstützung von vermeintlichen Putschisten der Gülen-Bewegung und Terroristen der kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen werden, sind auch die willkürlichen Festnahmen von Touristen und die Bespitzelung türkischstämmiger Personen in Deutschland ein absolutes Unding. Erdogan spielt ein schäbiges Spiel. Er provoziert Deutschland und Europa, um nach innen den starken, unbeugsamen Führer zu geben, der die Nation zu neuer Blüte führt. Und er verbreitet ein Klima der Angst, das seine Gegner einschüchtern und seine Kritiker mundtot machen soll. Beides darf man ihm nicht durchgehen lassen.