2014 ist das Jahr der Gedenken, weil der 1. Weltkrieg Anfang August 1914, also vor 100 Jahren, begann, der am Ende über 17 Millionen Tote forderte, weil am 1. September 1939, vor 75 Jahren, der 2. Weltkrieg mit der Beschießung der Westerplatte in Danzig und dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen seinen schrecklichen Anfang nahm. Zwischen 60 und 70 Millionen Menschen kamen dabei um, allein 25 Millionen Russen fanden den Tod. Gelegentlich werden beide Kriege und die Zeit dazwischen zum 30jährigen Krieg zusammengezogen, ein Vergleich, der hinkt, aber auch ein wenig stimmt. Gerade in diesen Wochen, da in der Ostukraine geschossen wird, werden beide Kriege herangezogen, auch um vor einem neuen Weltkrieg zu warnen. Ein Funke nur und alles könnte in die Luft fliegen, ein Weltenbrand mit unschätzbaren schlimmen Folgen.
Aus der Geschichte lernen, ist ein Satz, der immer wieder gesagt wird. Auch der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck versuchte sich gerade daran bei seiner Rede am 1.September in Danzig. Und löste eine heftige Debatte aus. Denn Gaucks Worte an die Adresse der Russen hatten einen drohenden Klang. Er entsprach damit nicht der Linie, wie sie von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier verfolgt wird: Kritik an Putin, aber auch an der Ukraine üben, deeskalierend wirken, mit Russland im Gespräch bleiben, seine Standpunkte klarmachen und die des Gegenüber anhören, nichts tun, was den Mann im Kreml, Wladimir Putin, nur noch mehr reizen könnte.
Es ist die Frage, warum Gauck in seiner Rede nicht die Schuld von Nazi-Deutschland in den Mittelpunkt gestellt hat. Denn es waren die Deutschen und zwar allein sie, die den Krieg 1939 begannen. Und es waren wiederum die Nazis, die dem Überfall auf Polen später den Überfall auf die Sowjetunion folgen ließen. Zur Geschichte, auch das ist wahr, gehört auch der Hitler-Stalin-Pakt, aber der darf nicht darüber hinwegtäuschen, wer hier der Oberschurke gewesen ist: Adolf Hitler und die deutsche Wehrmacht und was noch dazu gehört. Und eines der Schlachtfelder in diesem Weltkrieg war auch die Ukraine.
Wenn der Bundespräsident Lehren aus der Geschichte ziehen wollte, um diese vor aller Welt zu verkünden, hätte er dies betonen müssen, erklären, analysieren und nicht sogleich mit dem Finger auf den bösen Mann im Kreml, Putin eben, zeigen müssen. „Die Geschichte lehrt uns“, hat Gauck u.a. gesagt, „dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern“. Der Satz ist richtig, aber der Vergleich hinkt, denn das Münchner Abkommen ist mit Putins Griff nach der Ost-Ukraine und der erfolgten Einverleibung der Krim durch Russland ebenso nicht zu vergleichen wie den Nazi-Diktator Hitler mit dem Kreml-Chef Putin, der wahrlich auch kein lupenreiner Demokrat ist.
Es ist gut, dass nach den über 2500 Toten, die der Kampf-oder ist es schon ein Krieg?- um die Ost-Ukraine schon jetzt gekostet hat, Waffenruhe eingekehrt ist, die hoffentlich hält, damit alle zur Besinnung kommen. Der Westen ist stark genug, er muss das nicht beweisen, er muss Russland nicht damit drohen und irgendwelche Verbände in die Nähe russischer Grenzen vergleichen. Auch die schnelle Eingreiftruppe gehört in diese Dramaturgie, besser wäre es ohne sie. Wir brauchen, gerade weil der Westen, die Nato, stark ist und Putin das weiß, mehr Diplomatie. Wir sollten nicht mit dem Feuer spielen, nicht zündeln. Europa braucht Russland und Russland braucht Europa. Und zu Russland gehört nun mal Präsident Putin. Realpolitiker vor allem in Deutschland wissen das. Nicht umsonst greift die Kanzlerin immer wieder zum Telefon, um mit Putin zu reden.
Man kann verstehen, dass es in Polen und in den baltischen Staaten Ängste gibt, Ängste vor den großen Russen. Aber die wissen, dass die Polen und die Balten Teile der Nato sind und darum unter dem Schutzschild des westlichen Bündnisses stehen. Auch der Herr im Kreml kennt diesen Paragraphen der Nato genau. Anders sieht die Lage der Ukraine aus. Eine Hinwendung der Ukraine zur EU und später zur Nato wird von Russland als eine Bedrohung angesehen. Das müssen wir im Westen zur Kenntnis nehmen. Gerade vor dem Hintergrund, dass zur jüngeren Geschichte auch das Auseinanderfallen der Sowjetunion gehört, was Putin miterlebt hat und als seine größte Katastrophe betrachtet, ist dies wichtig. Gauck ist darauf nicht eingegangen und das darf man auch einem deutschen Bundespräsidenten vorhalten, der ja seine Kompetenz als Staatsoberhaupt durch die Kraft seiner Worte bezieht.
Der Nato-Russland-Pakt darf nicht aufgekündigt werden, gerade heute ist er wichtig. Erinnern wir uns, wie das damals was mit der deutschen Einheit, die ohne Michail Gorbatschow so nicht machbar gewesen wäre. Man frage Helmut Kohl. Die Ausdehnung der Nato nach dem Zerfall des Warschauer Paktes durch Länder wie Polen und Tschechien und die baltischen Staaten geschah auch auf Bitten der Länder hin, das ist schon richtig. Aber eine Aufnahme der Ukraine würde die Ostgrenze der Nato um 1000 Kilometer verrücken- an die Grenze Russlands.
Sanktionen bringen nicht weiter, weder Europa noch Russland noch anderen. Sanktionen verschärfen die Stimmung und verhärten die Lage. Dass Deutschland hier eine besondere Rolle zukommt, ist gut. Wir haben immer noch die besten Kontakte zum Kreml. Man frage die Essener Ruhrgas, heute EON, wie verlässlich die Russen als Geschäftspartner immer waren. Oder nehmen wir die Kontakte zu Gazprom. Nicht nur der Bundesliga-Verein Schalke 04 wird vom russischen Gas-Riesen gesponsert. Das sollten wir nicht zuschütten. Willy Brandt hat damals in schwierigen Zeiten mit Moskau den Dialog gesucht und wurde auch deshalb in Deutschland heftig bekämpft. Seine mutige Politik hat sich ausgezahlt. Berlin sollte daran anknüpfen. Das hat mit Leisetreterei nichts zu tun. Im Gegenteil. Niemand will einen Krieg um die Ukraine. Er würde sich auch nicht lohnen, für niemanden.
Man hätte sich von Joachim Gauck, gerade weil er aus der ehemaligen DDR stammt, das SED-Regime kennengelernt hat und die Vereinigung hautnah miterlebte, einfühlsamere Worte gewünscht, die verbindend gewesen wären, die gezeigt hätten, dass er den Dialog mit Russland sucht, gerade jetzt, da es brennt. So muss er mit dem Vorwurf leben, den der Osteuropahistoriker und Professor an der University in New Jersey, Jochen Hellbeck,Jahrgang 1966,in einem Beitrag für die Wochenend-Beilage der „Süddeutschen Zeitung“ formulierte: „Er gießt weiter Öl ins Feuer.“