Kaum ein Ereignis wie die Germanwings-Katastrophe vom 24. März hat in letzter Zeit deutlicher vor Augen geführt, wie sehr das Informationsinteresse der Bevölkerung und die sich darauf berufende Medienberichterstattung eine ganze Reihe von Fragen, sei es medienethischer Art oder Fragen zum Opfer- und Persönlichkeitsschutz aufwerfen. Fast die ganze Bandbreite journalistischer Leistungen und Fehlleistungen war in den letzten Wochen zu sehen, zu lesen und zu hören. Der Unterschied zwischen Boulevardmedien, Sensationspresse und verantwortungsvollem Journalismus war selten deutlicher und schmerzvoller wahrzunehmen.
Neben der prinzipiellen medienethischen Frage, wo für Journalisten die Grenze der Informationsvermittlung liegt, wurden viele rechtliche und auf den Persönlichkeitsschutz bezogene Fragen aufgeworfen. Warum das – gefühlt – auch immer schlimmer wird, liegt natürlich auch an der veränderten Medienlandschaft. Der klassische Journalismus hat in den letzten 20 Jahren eine (reichweiten)mächtige Konkurrenz durch das Internet erhalten, die die Geschäftsmodelle nahezu aller Medienverlage erschüttert hat.
Statt Qualitätsjournalismus zählen heute oft nur noch die Klick- und Verkaufszahlen. Da bleiben journalistische Standards, Ethik und z.B. der Schutz der Privatsphäre auf der Strecke.
Das lässt sich gerade auch an der Debatte um die Trauerfeier und den Staatsakt für die Opfer der Germanwings-Katastrophe ablesen. Der Deutsche Bundestag beschreibt sehr treffend, was ein solcher offizieller Akt des Staates öffentlich bekunden will:
„In Staatsakten erfahren Personen oder Ereignisse höchste Würdigung. Um einem Anlass entsprechendes Gewicht zu verleihen, richtet der Staat einen Festakt aus.“
An diesem Gedenken entzündet sich in nicht nachvollziehbarer Weise eine prinzipielle Kritik. An die Spitze der Bewegung gegen eine öffentliche Würdigung der Opfer hat sich vor ca. 2 Wochen Jan Fleischhauer vom SPIEGEL gesetzt. Er bezeichnet den Staatsakt als „unangemessen“. Denn , so Fleischhauer: „Keines der Opfer hat sein Leben für die Bundesrepublik gelassen. Sie sind nicht in Ausübung ihres Dienstes oder bei der Verteidigung des Vaterlandes gestorben; sie haben sich, soweit man weiß, in der Politik auch keine außergewöhnlichen Verdienste erworben. Es waren 149 ganz normale Menschen, die das Pech hatten, an Bord zu sein, als der Co-Pilot, nach bisherigen Erkenntnissen, beschloss, seinem Leben ein Ende zu setzen und dabei auch ihres auslöschte.“
Also keine Tragödie, sondern einfach nur Pech gehabt! Fleischhauer weiter: „Aber wofür stehen die 150 Toten von Flug 4U9525? Für unser Recht, unversehrt von A nach B zu gelangen?“ Fleischhauer meint damit wohl, dass es in unserer mobilen Gesellschaft halt ohne Gefahren nicht abgeht. Wie sagt man so „schön“: Ein bisschen Schwund ist immer“. Es fehlte nur der Zusatz, dass es sich ja ohnehin nahezu zur Hälfte um ausländische Staatsbürger gehandelt hat.
Die Beiläufigkeit, mit der Fleischauer sich über das Ausmaß der Tragödie hinwegsetzt, ist unfassbar. Sie ist kaltschnäuzig, unmenschlich und verletzt die Angehörigen und Freunde der Opfer zutiefst. Die Motivation hinter dieser Attacke ist eindeutig. Jan Fleischhauer will provozieren. Das ist sein Stil, sein Markenzeichen. Er gehört zu den bekanntesten und bestverdienenden Journalisten in Deutschland. Als Buchautor und vor allem omnipräsenter Gast in Talk ist er als scharfsinniger, schnelldenkender Provokateur gefragt wie kaum ein anderer Medienvertreter. Aber sein Marktwert erfordert es, im Sinne der Klicks und des Absatzes, die Provokation und den Tabubruch über die Gefühle der Betroffenen zu stellen. Und er hat zumindest insoweit recht, weil er starken Zuspruch in den „Social Media“ erhält. Es scheint also sozial zu sein, die Staatstrauer und den Staatsakt als Privileg für „verdiente“ Politiker zu verteidigen. Das wäre wohl zu viel Demokratie, wenn der „normale“ Bürger, nur weil er gerade mal Pech gehabt hat, in der falschen Maschine zu sitzen, in den Genuss dieser an die ganze Nation und darüber hinaus gerichtete Würdigung und Trauer erfährt.
Fleischhauer fragt sich nämlich, „Man mag sich nicht vorstellen, was passiert, wenn es zu einer Katastrophe kommt, die diesen Staat wirklich herausfordert. Wie will die Regierung dann reagieren? Wird sie für eine Woche die Arbeit einstellen, um ihre Verbundenheit mit den Opfern zum Ausdruck zu bringen?“
Für Fleischhauer ist daher der Trauerakt im Kölner Dom eine nicht akzeptable Entwertung des Rituals öffentlicher Trauer. Denn ansonsten habe der Staat „nicht mehr viel zur Hand, um einem Land Trost zu geben, wenn es wirklich darauf ankommt.“
Das ist an Zynismus kaum zu überbieten und ähnelt in der Argumentation erschreckend den dumpfen Gedanken der rechtsextremen Wirrköpfe, die vehement gegen den zentralen Staatsakt für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt in Berlin im Februar 2012 wüteten.
Was Fleischhauer völlig ignoriert, ist der Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik. Staatsakte sind kein inflationäres Instrument öffentlicher Trauer gewesen. Eher wäre kritisch anzumerken, was eine einzelne Person auszeichnen muss, um zu Recht eine öffentliche Würdigung zu erfahren.
Otto Graf Lambsdorff, verurteilt wegen Steuerhinterziehung, sollte dennoch einen Staatsakt erhalten. Der wurde allerdings auf seinen Wunsch abgesagt. Ein bewusster und anerkennungswürdiger Verzicht eines Politikers, der es vielleicht mehr verdient gehabt hätte als mancher, der auf den Verzicht verzichtete.
Vielleicht hätte Fleischhauer doch den ein oder anderen weiteren Blick auf die Lebensläufe der bisher gewürdigten Politiker werfen sollen. Darunter befinden sich kompromisslose Vertreter der freien Wirtschaft mit SS-Vergangenheit. Auch verdiente Politiker mit erschreckenden Nazi-Biographien und zum Teil tiefen Verstrickungen in das NS-Unrechtsregime. Sei es der zweite Bundespräsident der Bundesrepublik, Heinrich Lübke, der, obwohl zuerst selbst Opfer der Nationalsozialisten, dann doch als Architekt Verantwortung für Zwangsarbeit und Zuarbeit zum Holocaust Verantwortung trug. Sei es ein „einfaches“ Mitglied der NSDAP wie ein von den RAF-Terroristen ermordete Generalbundesanwalt am Bundesgerichtshof, ein ehemaliger Bundeskanzler oder wie im Falle Hans Filbinger, dessen Verdienste als Ministerpräsident Baden-Württembergs doch weit überschattet wurden von seiner Rolle als „Furchtbarer“ Jurist des Nationalsozialismus mit einer als nahezu Bilderbuchkarriere anzusehender Laufbahn im Unrechtsstatt und einem völligen Unrechtsbewusstsein über seine Mitläufer- und Mittäterschaft im Nationalsozialismus in Deutschland.
Aber auch jenseits dieser Fragezeichen wundert die Provokation zur Trauerfeier und Staatsakt für die Opfer der Germanwings-Katastrophe. Den Opfern der Tsunami-Katastrophe in Asien oder auch den Opfern des Amoklaufes wurde durch den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler ein Staatsakt angeordnet, der auf keine öffentliche Widerrede stieß. Das Argument der „großen Zahl“ kann daher wohl kaum als Argument durchgehen.
Aber Fleischhauer ist nicht allein in der Medienlandschaft. Dirk Pilz von der Berliner Zeitung fordert, dass Trauer eine Aufgabe der Zivilgesellschaft sein muss. Er sieht es als eine Verletzung der staatlichen Neutralität an, wenn sich die führenden Funktionsträger mit den Opfern und deren Angehörigen „gemeinmachen“. Die Teilnahme, das Zeigen von Emotionen oder Trauer ist für ihn ein beunruhigender Verlust an Staatssouveränität.
Was für ehemalige Parteigänger und Akteure des Nationalsozialismus nicht in Frage gestellt wird, was für den gefallenen deutschen Soldaten in Afghanistan selbstverständlich, was ehemaligen – verdienten oder unverdienten – Politikern ohne Hinterfragung gewährt wird, haben die Opfer des unfassbaren Unglücks diesen Positionen nach offenbar nicht verdient. 149 unschuldige Opfer eines Selbstmords sind scheinbar kein nationales Unglück oder öffentlich zu betrauerndes Ereignis.
Man möge nur hoffen, dass Fleischhauer, Pilz & Co. die Gefühlskälte und den Schmerz, den diese Diskussion den Angehörigen bereitet, nicht bewusst in Kauf genommen haben. Aber vermutlich ist der ungeheure Druck der Klicks und Absatzzahlen dann doch entscheidender als Ethik, Mitgefühl und Trauer.
Tagtäglich kommen Menschen auf tragische Weise ums Leben, bei Unfällen, an denen sie keinerlei Schuld haben. Was ist mit all diesen Opfern? Sie sind offensichtlich weniger wert, als Opfer, deren Unglück von den Medien und den Politikern ausgeschlachtet werden kann. Der Staatsakt setzt noch eins drauf und ist völlig unangebracht.