Endlich hat dieser Dauerregen aufgehört. Endlich scheint mal wieder die Sonne. Endlich ein richtiger Spaziergang. Der erste des Jahres. Zum Glück muss ich ja heute nicht arbeiten.
Doch was der Blick durchs Fenster nicht verraten hat: Das herrliche Licht der Sonne ist trügerisch, die Temperaturen liegen deutlich unter Null – und der Wind ist eisig. Extrem eisig. So fühlt sich wohl Sibirien an.
Nach zwei Stunden an der Luft sind meine Wangen gerötet, die Hände steif vor Kälte. Ab nach Hause, heißer Kaffee und dann ein Schläfchen im Ohrensessel. Herrliche Vorstellung.
Doch auf dem Rückweg durch die Essener Innenstadt bleibe ich stehen. Auf dem zentralen Kennedy-Platz wird eine riesige Eisbahn gebaut. Seit Tagen basteln hier Arbeiter Gerüste zusammen, zimmern Schrägen aus Holz. Das wird in diesem Jahr wohl etwas ganz Besonderes.
Vor kurzem noch haben die Arbeiter im strömenden Regen malocht, jetzt also bei klirrender Kälte. Dick vermummt sind sie alle. Wer langsam arbeitet, der friert noch mehr. Ich höre deutsche Stimmen auf der Baustelle, auch osteuropäische. Diese Menschen hier verdienen sicherlich keine Spitzenlöhne, denke ich. Warum also tun sie sich diese harte Arbeit an, warum liegen sie nicht längst in der sozialen Hängematte, von der zurzeit so viel schwadroniert wird?
Ein Stückchen weiter wird gerade das wirklich riesige Riesenrad abgebaut, das in der Weihnachtszeit zum Wahrzeichen der Stadt geworden ist. Auch hier Schwerstarbeit – nur noch viel extremer. In schwankenden Körben in großer Höhe schrauben Männer das Stahlgerüst auseinander. Nur vom Hochschauen wird mir schwindlig, der eiskalte Wind schaukelt die Seilschaften hin und her. Und wieder stelle ich mir die Frage: Wissen all diese Menschen nicht, wie gut man vom Bürgergeld leben kann? Das zumindest behaupten gutverdienende Hetzer doch seit Wochen.
Zuhause angekommen sehe ich die Paketboten, die zu Dutzenden den ganzen Tag über durch die Stadt wieseln. Schlecht bezahlte Menschen, die bei Wind und Wetter raus müssen. Viele von ihnen sprechen nur gebrochen deutsch, sind ganz offensichtlich Geflohene und Eingewanderte aus dem arabischen Raum. Und heute Abend werden dann wie jeden Tag die Pizza-, Sushi- und Fast-Food-Boten auf ihren Rädern durch die Straßen des Viertels flitzen. Viele Schwarzafrikaner und Ostasiaten unter ihnen, die vom Leben im Frieden und gesicherten Verhältnissen geträumt haben und die bei Lieferando gelandet sind: Das also, Herr Merz, sind all diese Sozialtouristen, die in die deutschen Wohlstandssysteme geflüchtet sind, um Ihnen die Zahnarzt-Termine wegzuschnappen? Schwierig, hier nicht zynisch zu werden.
Ich merke, wie in mir der Zorn steigt – und damit der Blutdruck. Allmählich wird es mir trotz der Kälte heiß. Warum reden die Privatflieger und Porsche-Fahrer in Politik und Publizistik nicht über die Millionen Menschen in Deutschland, die trotz widriger Umstände Tag für Tag für einen Niedriglohn zur Arbeit gehen, nicht über Hunderttausende Zugewanderte und Flüchtlinge, die die schlimmsten Jobs annehmen, um irgendwie über die Runden zu kommen? Warum sprechen sie stattdessen ständig und ausschließlich über die kleine Minderheit, die die Lücken im Sozialsystem ausnutzt? Warum befeuern Lindner, Merz und Co den Hass der Menschen auf die wenigen Klein-Schmarotzer, während sie die tausendfach größere Steuerhinterziehung der Millionäre und Milliardäre unerwähnt lassen oder als Kavaliersdelikt abtun? Sie tun es, um kurzfristig von dem mutwillig entfachten Volkszorn zu profitieren. Doch diese Spaltung der Gesellschaft hilft letztlich nicht ihnen sondern den Rechtsextremen, die sich im Hass suhlen. Doch das scheint den Brandstiftern egal zu sein.
Zudem: Welch eine Arroganz von ganz oben spricht aus dem Vorwurf der sozialen Hängematte! Wenn der Privatflieger Merz aus der Höhe und der dummstolze Porsche-Fahrer Lindner auf der Überholspur die kleinen Leute übersehen, wäre das schlimm genug. Dass die Rechtskonservativen und Neoliberalen aber ausgerechnet der Unterschicht und den Geflüchteten wider alle Realität unterstellen, gierig nach leistungsfreiem Wohlstand zu sein, verhöhnt diese Menschen, ist Ausdruck einer grenzenlosen und zynischen Verachtung von Armut.
Vielleicht sollten die Herren Merz und Lindner diese kalten Sonnentage mal für einen Spaziergang nutzen. Vielleicht mal nicht auf Sylt, vielleicht mal durch die Essener Innenstadt.
Vielleicht würde es ja helfen. Obwohl: vermutlich nicht.