Offenkundig hat es diese Woche in Gazas Süden ein Massaker gegeben, bei dem israelische Soldaten auf eine palästinensische Menschenmenge geschossen haben, die sich Hilfslieferungen sichern wollte.
Soweit klar – unklar ist, warum und wo die Verantwortung für die über 100 Toten liegt. Die Forderung oder auch das Versprechen, den Vorgang „lückenlos aufzuklären“, scheint unrealistisch; keiner Seite wird zugetraut, eine Wahrheit zulasten der eigenen Seite zuzugeben oder entsprechende Fakten öffentlich zu machen.
Deshalb muss man indirekt analysieren: wer hat welches Interesse, die möglicherweise nicht absichtlich ausgelöste Katastrophe herbeizuführen oder im eigenen Propagandakonzept zu nutzen.
Die Hamas hat mit ihrem brutalen Überfall und Massenmord am 7. Oktober gezeigt, dass sie an solchen Ereignissen interessiert ist. Ihre Strategie ist erkennbar, die israelische Seite zu Reaktionen zu bringen, die ebenfalls brutale Gewalt beinhalten. Denn nur so kann die militärisch weit unterlegene Hamas die arabischen Massen und Machthaber dazu bringen, Israel anzugreifen und zu vernichten. Es ist auch klar, dass die Hamas den Gaza-Krieg sofort beenden könnte, wenn sie die Geiseln frei ließe und sich selbst nach Katar oder Istanbul absetzte. Ohne die muslimischen „Brüder“ kann sie den Krieg nicht gewinnen; wenn sie weiter kämpft, bekundet sie, dass sie das Leiden des palästinensischen Volkes für ihre politischen Ziele instrumentalisiert, die – das darf nie übersehen werden – die Ermordung von möglichst vielen Juden vorsehen, um Israel von der Landkarte löschen zu können. In diesem Konzept kommt das Massaker gerade recht. Was immer die Hamas an Erkenntnissen dazu hat, sie wird immer lügen, zumal sie damit international offensichtlich erfolgreich ist.
Israels Regierung wird ebenso lügen, wenn sie Kenntnisse hätte, dass das Massaker beabsichtigt war, und sich nicht aus einer Massenpanik heraus entwickelt hat. Aber die Interessenlage Israels ist doch anders einzuschätzen als die der Hamas; für Israel ist das Ereignis im höchsten Maße unwillkommen, peinlich und nachteilig. Es scheint keinen vernünftigen Grund dafür zu geben, Israel eine Absicht zur Tötung von hilfesuchenden Palästinensern zu unterstellen. Im Gegenteil: Israels Regierung sieht, dass es die Hamas geschafft hat, das Land auch bei Israels Freunden immer unbeliebter zu machen – weit über das hinaus, was Netanjahu und seine rechts-radikale Regierung schon selber geleistet haben und weiter leisten. D.h. es ist völlig unwahrscheinlich, dass es sich um eine gezielte Massentötung gehandelt hat!
In Abwägung aller Aspekte dürfte es sich also um einen tragischen Zwischenfall handeln, wie er in der angespannten Situation eben passieren konnte.
Was hat das Ganze nun mit der Ukraine zu tun?
Bei der Analyse der Hamas-Strategie wurde deutlich, dass alles Leid der letzten und der kommenden Monate durch Hamas-Entscheidungen beendet werden könnte. Die internationale Gemeinschaft bis hin zum Generalsekretär der Vereinten Nationen verfehlen ihre Verantwortung, wenn sie die Hamas zur Aufgabe zu drängen und z.B. den Hamas-Führern ein Exil zu sichern.
So wie die Hamas durch Aufgabe das Schicksal der Gaza-Bewohner wenden könnte, stellt sich die Frage auch für die Ukraine, so bitter das ist.
Auch in der Ukraine nähert man sich einer Situation, wo der russische Eroberungssieg nicht mehr zu verhindern sein wird; zu groß sind die russischen Reserven an Soldaten, Waffen und Geld gegenüber der ausblutenden Bevölkerung der Ukraine. Auch hier stellt sich zunehmend die Frage, ob es all die Toten, Verletzten und Zerstörungen wert ist, sich weiter gegen einen so überlegenen Gegner zu wehren, der mit ungeheurer krimineller Energie alles vernichten wird, was sich ihm in den Weg stellt. Wenn die Analysen über Putins egomane Persönlichkeit und Motive einigermaßen richtig sind, wird es für ihn kein Aufgeben geben oder geben müssen, solange er herrscht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es nach der Eroberung der Ukraine auch um Moldawien gehen, das innerlich nicht durchweg anti-russisch ist (wesentliche russisch-sprachige Minderheit, zumal in Transnistrien sowie, nicht rumänisch sprechende, russophile Gagausen im Süden).
Selbst wenn Oligarchen und Militärs Putin stürzen würden, könnte kein russischer Nachfolger die Krim und den Donbass räumen, ohne von der völlig radikal-nationalistisch aufgeputschten Bevölkerung selbst gestürzt zu werden.
Daraus folgt, dass sich die ukrainische Führung und ihre Unterstützer im Westen dem Gedanken nähern sollten, die bestehende Restukraine zu einem Territorialverzicht zugunsten einer Friedensregelung zu sichern. Mehr scheint nicht mehr erreichbar – weniger könnte sonst die Folge sein, da der totale Sieg Russlands droht.
Die Tragik dieses Vergleichs Hamas – Ukraine liegt natürlich darin, dass die Hamas eine terroristische Organisation ist, die Israel überfallen hat, während die Ukraine schuldlos Opfer einer skrupellosen, terroristischen Staatsmacht ist. In beiden Fälle stellt sich schwierige Frage, wie weit Freunde gehen dürfen und sollten, auf die Aggressionsopfer Druck auszuüben, um sie vor den leidvollen, ja blutigen Folgen falsch kalkulierter Ziele zu bewahren.
Müsste der Westen Angst haben, nach einer Kapitulation der (Teil-)Ukraine Putins nächstes Opfer zu sein?
Ich meine kurz- und mittelfristig Nein. Auch Putin und seine Generäle haben gelernt, dass Russland große Schwächen hat und obendrein große Verluste aus dem letztlich planwidrig verlaufenen Eroberungskrieg gegen die Ukraine.
Die Frage nach der Sicherheit des Westens ist viel ernster diejenige, ob seine Einigkeit, d.h. im Kern die NATO, nicht viel größeren Macht- und Abschreckungsverlust vor sich hat, weil z.B. Amerika seinen Schutz Europas beendet oder Mitglieder wie die Türkei eigentlich unglaubwürdige Verteidigungspartner sind.
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