Ob es ihm aufgefallen war, als Sigmar Gabriel seine Sonntagsrede an die SPD hielt und über schwindendes Vertrauen in die Sozialdemokratie sinnierte, dass er dafür den Muttertag gewählt hatte? Ein Blick in den jüngsten Armutsbericht, den er aus diesem Anlass hätte vornehmen können, und er hätte die dort ausgebreitete Sorge über die Lage allein erziehender Mütter entdecken können. Er hätte zugleich wahrnehmen können, dass jedes fünfte Kind in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze groß wird. Darüber hinaus hätte er auf acht Millonen Analphabeten und sieben Millionen funktionale Analphabeten in Deutschland verweisen können, Über das, was er Chancengerechtigkeit nennt, die es herzustellen gelte, kann er also noch einige Reden halten. Stoff genug, den Blick auf die tiefe soziale Spaltung der Gesellschaft zu lenken.
Wo ist die soziale Gerechtigkeit?
Der Vertrauensverlust in die SPD und die dramatisch sinkende Bereitschaft, in ihr den Anwalt der kleinen Leute zu vermuten, immerhin hat ihn erreicht. Seine Besorgnis, dies könne für die Partei existenziell werden, ist zutreffend wie aktuelle Umfragen zeigen, die sie noch bei 20% sehen. Seit 1998 hat sich zum Beispiel die Zahl der Frauen, die sich bei Wahlen für die SPD entscheiden, halbiert. Nur noch ein Drittel der Wähler schenken der SPD Vertrauen in die von ihr reklamierte Kernkompetenz „Soziale Gerechtigkeit“.
Vierjahresplan gegen Kinderarmut
Allein diese Zahlen hätten Anlass sein können, den Einstieg in den Umbau der Gesellschaft zu verkünden und den Abbau struktureller Ungleichheit in Angriff zu nehmen. Ein Vierjahresplan etwa gegen Kinderarmut würde doch der SPD gut anstehen. Oder den Kampf anzusagen gegen den planmäßigen Boykott von Männern in Aufsichtsräten, Frauen in Führungspositionen in der Wirtschaft zu berufen. Gabriel hatte die Chance, Schlagzeilen zu machen und zugleich dieser verdrucksten SPD Mut zu machen, statt sich in großen, dabei immer kleiner werdenden Koalitionen als Juniorpartner zu verkrümeln. Er hätte zugleich und zu recht darauf verweisen können, dass der wesentlich männlich dominierten Marktwirtschaft, das gern angeklebte Attribut „sozial“ längst abhanden gekommen ist.
Steinbrücks müder Wahlkampf
Als Wirtschaftsminister und Vizekanzler und zugleich als Parteivorsitzender hat er jedes Recht, wenn nicht gar die Pflicht, der dahin siechenden SPD neues Leben einzuhauchen. So muss er sich von Peer Steinbrück auch noch am Muttertag den Zuruf gefallen lassen „die SPD ist nicht mehr interessant, sie weckt keine Neugier mehr“. Wenn es so ist, dann hat wohl auch Steinbrück mit seinem müden und einfallslosen Wahlkampf als wenig inspirierter Kandidat dazu einen nicht geringen Beitrag geleistet.
Er kann noch nachlegen
Nach dieser Sonntagsrede zum Auftakt einer Serie von Wertekonferenzen für Gerechtigkeit, mit der die SPD ihr Wahlprogramm erarbeiten will, hat Gabriel noch Gelegenheit, nachzulegen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Bildquelle: Wikipedia, A.Savin – Sigmar Gabriel, CC BY-SA 3.0