Dieser große Roman (Erstveröffentlichung 1967) des kolumbianischen Schriftstellers G. G. Márquez (1927-2014), der 1982 den Nobelpreis für Literatur erhielt, hat mich nun endlich gefangen genommen, nachdem ich einige Versuche unternommen hatte, die zum Abbruch der Lektüre führten. Es ist für eine Mitteleuropäerin wie mich auch gar nicht so einfach, sich in die hier vorgestellte mythische Welt Lateinamerikas hineinzufinden, in der es keine Gegenwart zu geben scheint – zugunsten von jeder Menge Tradition, Geschichte und Geschichten, phantastischen Vorstellungen und Einbildungen, Schicksalen und Katastrophen, Glauben und Aberglauben, Kriegen und Klassenkämpfen, Naturkatastrophen und anderer Einschläge. Der Autor erzählt die Geschichte seines Landes am Beispiel einer Großfamilie oder Sippe über Generationen hinweg, woraus sich der Titel von den Hundert Jahren speist, und genauso steht es um die ebenfalls titelgebende Einsamkeit, die mal als Schicksal der Verlassenheit und mal als Schutz vor Unbill erfahren wird.
Am Anfang werden unzählige Kriege geführt, angezettelt von einem der Urväter der Sippe, in denen es sowohl um ökonomische Macht und Gebietsansprüche als auch um ein zu verteidigendes kulturelles Erbe gegenüber fremden Einflüssen geht. Es folgen eine Sintflut, die über mehrere Jahre mit Unmengen von Niederschlägen das Land überflutet und die dezimierte Bevölkerung in Sümpfen untergehen lässt. Schließlich fegt zum Schluss des Romans ein gewaltiger Sturm übers Land, der alles irdische Leben vernichtet. Beide Naturereignisse haben übersinnlich-biblischen Charakter im Sinne der Bestrafung Gottes, der das sündhafte Leben und Treiben der Menschen verurteilt und diese zur Rechenschaft zieht; auch ihr Leben in der Vergangenheit ist ihnen zum Verhängnis geworden.
Wie ist das zu verstehen? Im Schlusswort des Romans findet sich diese Erklärung: Es existiert eine schriftlich in Sanscrit verfasste Hinterlassenschaft in Form von Pergamenten über die Familiengeschichte der Sippen in der Generationenfolge, und in einer jeden Generation beschäftigen sich jeweils die Klügsten damit, die Stimmen der Vergangenheit zu enträtseln; diese Pergamente enthalten auch Voraussagen über das tragische Ende allen für immer unwiederholbaren Lebens, weil die zu hundert Jahren Einsamkeit verurteilten Sippen keine zweite Chance auf Erden bekommen.
Um einen Eindruck von der Schönheit der Sprache Márquez‘ zu vermitteln und zugleich die für den Roman typische Verstrickung von Mythos, Traum, Sehnsucht, Schmerz und Verlangen aufzuzeigen, sei eine Stelle über eine der weiblichen Hauptfiguren namens Fernanda zitiert: einer Greisin von übernatürlicher Schönheit mit einem vergilbten Hermelincape, einer goldenen Kartonkrone und dem schmachtenden Gebaren eines Menschen, der heimlich geweint hat. In der Tat hatte Fernanda, seit sie das mottenzerfressene Königskostüm in Aureliano Segundos Truhe gefunden hatte, es immer wieder angelegt. Wer sie, berauscht von ihren monarchischen Gebärden, vor ihrem Spiegel gesehen hätte, würde sie für verrückt gehalten haben. Aber sie war es nicht. Sie hatte nur den königlichen Prunk zu einer Erinnerungsmaschine gemacht … und ihre Seele versteinerte sich aus Sehnsucht nach ihren verlorenen Träumen. … Ihr veraschtes Herz, das ohne zu wanken den gezieltesten Schlägen der Alltagswirklichkeit widerstanden hatte, erlag dem ersten Ansturm der Sehnsucht. Die Notwendigkeit, Trauer zu fühlen, wurde für sie zu einem desto größeren Laster, je schlimmer die Jahre sie verwüsteten. Immerhin machte die Einsamkeit sie menschlicher.
Eine weitere weibliche Hauptfigur, Ursula, wird in ihrer Denkschärfe und ihrer Zweifel an der Gerechtigkeit Gottes vorgestellt. Auch verbittert sie die Vergnügungssucht der Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung; und sie gerät in Verzweiflung über ein Versagen der Zeit. In der Vorstellung ihres eigenen Todes fragt sie furchtlos Gott, … ob er wirklich glaube, die Menschen seien aus Eisen, um die vielen Kümmernisse und Demütigungen auszuhalten; und während sie fragte und fragte, fachte sie ihre eigene Verbitterung nur immer heftiger an und fühlte den unwiderstehlichen Drang, sich wie ein Ausländer Luft zu machen und sich endlich einen Augenblick der Auflehnung zu gönnen … statt ein ganzes Jahrhundert des Einverständnisses zu erdulden.
Wie eingangs erwähnt, durchläuft der Roman ein ganzes Jahrhundert, auch im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung. Beispielhaft wird die handwerkliche Fertigung, die landwirtschaftliche Reproduktion, die technische Entwicklung in Form der Eisenbahn und des Telefons bis hin zur Lohnarbeit auf Plantagen mit ihren spezifischen Ausbeutungsverhältnissen aufgezeigt. Und was sich auf den Bananenplantagen ereignet, soll hier noch als Beispiel für die Grauen der Moderne des Kapitalismus erwähnt werden. Aufgrund von unerträglich gewordenen Arbeitsbedingungen und Ausbeutungsformen bricht ein Massenstreik der Lohnarbeiter aus, angeführt von einer gewerkschaftlichen Organisation und niedergeschlagen von Einsatzkräften der Eigner und Besitzer der Plantagen; es werden über 3.000 Arbeiter erschossen, deren Leichen nachts per Eisenbahn abtransportiert und im Meer versenkt werden. Zum Zweck der Geheimhaltung wird die Bevölkerung soweit manipuliert, dass sie glauben soll, dieser Massenmord habe gar nicht stattgefunden, er sei ein Hirngespinst der Rädelsführer, um die Plantageneigner in Misskredit zu bringen. Mit dieser Vertuschungsstrategie sind sie erfolgreich, und die wenigen, die das Niedermetzeln der Arbeiter bezeugen könnten, schweigen aus Furcht vor Vergeltung. Doch das Trauma dieses Verbrechens hat sich im Gedächtnis derjenigen eingeschrieben, die es bezeugen könnten, und es plagt sie solange, bis nach Ablauf der Hundert Jahre Einsamkeit ohnehin alles Leben und Treiben der Menschen verschwindet.
Das Phänomen der Einsamkeit wird als verhängnisvolle Erbschaft beschrieben, ebenso wie der Aberglaube eine solche ist. Die Einsamkeit tilgt die Erinnerung, macht die Menschen apathisch, erzeugt Bitterkeit; doch sie kann auch erlösen von der Gier des Vergessens; sie trennt und verbindet die Menschen zugleich, die in einem widersprüchlichen Zustand zwischen Trägheit, Gleichgültigkeit und des Einverständnisses einerseits sowie dem Willen zur Auflehnung, dem Kampf um die Tradition und der Sehnsucht nach Befreiung ihr Dasein fristen. Márquez hat mit dieser kritischen Analyse menschlichen Verhaltens nicht nur einen großen Roman verfasst, sondern zugleich die Mentalität der Menschen eines ganzen Kontinents beschrieben, die bis heute nachzuwirken scheint und so manches politische Geschehen in Lateinamerika zu erklären hilft.