Sigmar Gabriel bleibt nur die Option der Würde und Chance des „ Aufrechten Gangs“, der von dem großen Philosophen Ernst Bloch als Zielbild des Menschen propagiert wurde. Denn 2017 wird für die SPD zu einem Schicksalsjahr, in dem die Kluft zwischen ehrenvollem Erfolgserlebnis und dem drohenden Grauen nicht größer sein könnte. Einerseits verspricht der 12. Februar mit der Wahl des Bundespräsidenten neuen staatspolitischen Glanz, andererseits droht der Sozialdemokratie bei der Bundestagswahl im September der Verlust ihres Anspruchs als bundespolitische Volkspartei, d.h. der wohl endgültige Abstieg in das Rudel der potenziellen Juniorpartner einer Union mit dauerhaftem Kanzler(Innen)monopol.
Ein voraussehbares Dilemma
Der SPD- Parteivorsitzende wird wohl von niemandem in dieser Ausgangslage beneidet, aber er hat sie ja auch selbst politisch zu verantworten. Gabriel musste 2013 nach der Bundestagswahl wissen, dass der von ihm glänzend über einen Mitgliederentscheid organisierte Eintritt in eine so kurzfristig wiederholte Große Koalition spätestens 2017 zu einer strategisch existenziellen Falle führt. Einfach deshalb, weil er schon damals damit rechnen konnte, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit die SPD als Juniorpartner von Angela Merkel selbst bei kompetenter Regierungsarbeit und respektablen Ressorterfolgen ihren abgeschliffenen Markenkern im Kontrast zur Union nur sehr schwer profilieren kann. Einfach deshalb, weil alle stolzen sozialdemokratischen Ressorterfolge genauso der Kanzlerin und ihrer scheinbar sozialdemokratisierten Partei zugerechnet werden. Es war also für jeden Politprofi ein voraussehbares Dilemma, dass die Sozialdemokratie als Juniorpartner Merkels 2017 nur sehr schwer eine Wechselstimmung zugunsten der SPD als Kanzlerpartei entfachen kann.
Wahrnehmung von Regierungserfolgen
Ursprünglich sozialdemokratische Anstöße und Erfolge wie etwa beim Mindestlohn, Rente, Leiharbeit, Gleichstellung der Frau oder Mietpreisbremse werden nach aller demoskopischer Erfahrung – wenn überhaupt registriert und nicht blitzschnell vergessen – vom Gros der Wählerschaft als gemeinsame Leistung der Großen Koalition wahrgenommen. Dies auch schon deshalb, weil es darüber zu keinen dramaturgisch spektakulären Konflikten in der Regierung kam. Und selbst Gabriels couragierter, zäher, ja imposanter Einsatz für die Erhaltung der Jobs in den „ Kaiser’s Tengelmann“- Filialen hätte medial und bewusstseinsmäßig nur nachhaltig- allerdings negativ- gewirkt, wenn er misslungen wäre und zu einer Rücktrittsforderung gegen den Wirtschaftsminister geführt hätte. Die meinungsbildende Dominanz neoliberaler Wissenschaftler, Experten und Multiplikatoren honoriert eine solch „interventionistische“ wirtschaftspolitische Tatkraft nicht und präferiert viel stärker abgehobene ordnungspolitische Markt-Lyrik, auch wenn sich jetzt Tausende über den Erhalt ihrer Arbeitsplätze freuen.
Geniales Agieren
Dagegen kann das atemberaubend geniale Agieren Gabriels in der Frage einer von der Großen Koalition gemeinsam getragenen Kandidatur bei der Bundespräsidentenwahl die staatspolitische Reputation der SPD dauerhaft stärken, wenn Frank Walter Steinmeier seine unbestreitbaren Stärken im Amt mit Fortune einsetzt.
20 Prozent sind keine naturgesetzliche Untergrenze
An der bundespolitischen Halbierung der SPD seit der Bundestagswahl 1998 und ihrem immer stärkeren Mobilisierungsdefizit wird dies aber alles nichts signifikant ändern. Es wäre auch eine fatale Täuschung, unterschwellig anzunehmen, dass 20 Prozent eine naturgesetzliche Untergrenze für diesen bundespolitischen Wählerschwund wäre. Auch ab dieser Marke gilt kein „sozialdemokratischer Artenschutz“ im Bundestag wegen großer historischer Verdienste. Viele ehemals große europäische Parteien sind vor allem auch daran gescheitert, dass sie die Gefahr eines dramatischen Niedergangs ignorierten und einfach verdrängten.
Trendumkehr nur bei demokratischer Konfliktbereitschaft
Die SPD kann ihren in allen Umfragen anhaltenden bundespolitischen Wählerschwund nur stoppen und umkehren, wenn sie im klaren Kontrast und – wenn nötig- im Konflikt zur Union in zentralen Zukunftsfragen, die unsere Gesellschaft bewegen und aufwühlen, klar und authentisch Position bezieht. Sie kann nur durch Bereitschaft zu einer glaubwürdigen demokratischen Polarisierung da, wo es im Interesse eines ehrlichen und vitalen demokratischen Diskurses unausweichlich ist, ihr chronisches Mobilisierungsdefizit bei Bundestagswahlen überwinden.
Beispiel Europa- und Außenpolitik
Dazu nur ein vielleicht entscheidendes Beispiel aus dem Bereich der Europa- und Außenpolitik: Die EU ist über Jahre trotz vieler gegenteiliger Äußerungen bzw. Forderungen in eine unkontrollierte Ost- West- Konfrontation mit Russland hineingeschlittert. Die Fehler, die zu dieser unseligen Entwicklung führten, sind keineswegs nur einer Seite zuzurechnen, sondern auch durch ein negatives Wechselspiel bedingt. Dieser Prozess der Eskalation hat inzwischen zu unermesslichem Leid in der Ukraine, zu einer wechselseitig absurden ökonomischen Beschädigung aller Beteiligten, sowie zum ständigen Drehen an der Rüstungsspirale geführt und macht uns inzwischen sogar das fast schon vergessene und fahrlässig erhöhte Risiko eines globalen Nuklearkriegs wieder bewusst.
Den historischen Auftrag Willy Brandts aufgreifen
In dieser zugespitzten Lage muss die deutsche Sozialdemokratie konsequent mit einer gesamteuropäischen Initiative den historisch fortwirkenden Grundsatz und Auftrag der Entspannungs- und Ostpolitik Willy Brandts erneut aufgreifen. Ziel dieser Initiative muss die Umkehr der Sanktions- und Aufrüstungsspirale sein, die ansonsten weiter zu beidseitig ökonomisch unsinnigen Schäden und vor allem zu immer bedrohlicheren militärischen Risiken führen wird. Dem absehbaren und notwendigen Meinungsstreit innerhalb der EU kann man dabei nicht samtpfötig ausweichen.
Gabriel kann mobilisierenden Wahlkampf
Sigmar Gabriel hat den Mut zu solchen notwendigen kontroversen Debatten, auch wenn ihm dabei in der ersten Phase der politisch- mediale Wind stark ins Gesicht bläst und er nicht auf ungeteilten Beifall stößt. Er ist aktuell nicht der Personalvorschlag mit den schönsten demoskopischen Werten. Die SPD hat zudem schon mit Kanzlerkandidaten verloren, die an der Startrampe demoskopisch weit besser gehandelt wurden. Der SPD- Parteivorsitzende kann trotz seiner aktuellen Umfragewerte den kühnen und mobilisierenden Wahlkampf führen und die erfahrungsgemäß wahrlich nicht unfehlbaren Demoskopen widerlegen.
Der „Aufrechte Gang“
Er darf daher der Kanzlerkandidatur nicht ausweichen und muss den schwierigen aber „Aufrechten Gang“ wählen: Im Interesse der SPD, der Vitalität unserer Demokratie und seiner persönlichen Würde.
Bildquelle: Wikipedia, Michael Thaidigsmann, CC BY-SA 4.0