Minsk. Die Kulisse war malerisch. Soweit das Auge reicht ein weites Feld, beschienen von der frühen Juni-Sonne, umrahmt von Bäumen, begrenzt von einer Hauptverkehrsstraße, die vorübergehend komplett gesperrt war. Für den Auftritt des weißrussischen Präsidenten stand alles parat: das Rednerpult, Fahnenträger, Bläser, Sängerinnen und ein Publikum, das geduldig volle zwei Stunden auf Alexander Lukaschenko wartete.
Die eigens errichtete Zuschauertribüne füllte sich rasch; diszipliniert nahmen Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Pioniere, Studenten, Schulkinder aus der näheren Umgebung und Angehörige verschiedener Armeeeinheiten ihre Plätze ein; hinzu kamen die 400 Teilnehmer der IBB-Konferenz, darunter 120, die aus Deutschland angereist waren.
Trotz der eilig herangeschafften zusätzlichen blauen Plastikstühle, harrten viele Gäste stehend aus. Während der Wartezeit auf das Eintreffen des Staatschefs verfolgten sie, wie vom sorgsam ausgebreiteten roten Teppich immer wieder herbei wehende Blütenblätter gefegt wurden, wie Chor und Bläser Aufstellung nahmen, den Soldaten die Uniformkragen gerichtet, Kameras und Mikrofone in Position gebracht wurden.
Stramm stand am Rande ein Soldat, der die schwere Tafel trug, die Lukaschenko an diesem Tag in den vorbereiteten Stein einlassen wird. Es ist der Grundstein für die erste zentrale Gedenkstätte, die Weißrussland den Opfern des Nationalsozialismus errichtet – 70 Jahre nach der Befreiung des Landes vom Hitler-Faschismus und 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
„Von 1941 bis 1944 befand sich hier das Vernichtungslager, wo von nationalsozialistischen Massenmördern grausame Verbrechen gegen die Menschheit begangen wurden“, heißt es in der in eine Kapsel eingelassenen Botschaft an kommende Generationen. „Hunderttausende Bürger aus der Sowjetunion und den europäischen Staaten wurden zu Tode gequält, erschossen und verbrannt.“ Der minutiös geplante Festakt ist rasch vorüber. In weniger als einer halben Stunde sprechen Lukaschenko sowie der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Lauder, und die 16-jährige Enkelin eines Ermordeten, ertönen kurze Gesänge und Fanfaren, verneigen sich der Staatschef und sein zwölfjähriger Sohn vor den Opfern. Im Fortgehen wendet sich Lukaschenko einigen der Veteranen zu. Momente später ist die provisorische Tribüne leer, sind die Utensilien eingeräumt, auf der Straße fließt der Verkehr wieder normal.
Die bestellten Gäste zerstreuen sich; doch die Teilnehmer der IBB-Tagung machen sich auf nach Blagowschtschina. Mit sechs großen Reisebussen gelangen sie zu dem Ort, den sie vor dem Vergessen bewahren wollen. Einige hundert Meter legen sie noch zu Fuß zurück, bis sie in dem Waldstück eine kleine Gedenkstätte erreichen.
Dort an der Weggabelung beten sie gemeinsam, über Konfessionen und Nationalitäten hinweg, gedenken gemeinsam der Toten, legen Kränze und Blumen nieder. Gemeinsam, Nachkommen der Täter und der Opfer. Im Hintergrund hängen gelbe Zettel an den Baumstämmen. Sie tragen Namen der Ermordeten, geben Auskunft über ihr Schicksal, manchen auch mit Fotografien ein Gesicht. Tiefe Traurigkeit erfüllt den Ort, Tränen trocknen durch Worte des Trosts. An diesem Tag wächst die Zuversicht, dass die Opfer nach sieben Jahrzehnten schließlich doch ein würdiges Andenken finden.