Am 20. Dezember 1963 begann der erste der sogenannten Frankfurter Auschwitzprozesse, an denen der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer als Chefankläger beteiligt war. In der Rückschau auf die Ereignisse ist schon viel zu diesem Prozess, zur Rolle Bauers und zu seiner Bedeutung für die juristische Aufarbeitung des NS-Unrechts in der Bundesrepublik gesagt worden. Klar ist auch, dass der 20. Dezember 1963 schon deshalb bedeutend ist, weil er einen Bruch mit der Vergessensmentalität markiert, die sich in der deutschen Nachkriegsgesellschaft zunehmend breitgemacht hatte.
Ein Punkt, der mir persönlich jedoch nach wie vor zu kurz kommt, hängt eng mit dem Fall des sogenannten Buchhalters von Auschwitz, Oskar Gröning, zusammen. Gröning wurde vom Landgericht Lüneburg im Juli 2015 wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt. Nachdem der Bundesgerichtshof alle Revisionen verworfen hatte, wurde das Urteil schließlich im September 2016 rechtskräftig. Der entscheidende Punkt: Damit wurde nach langer Zeit endlich eine Rechtsauffassung höchstrichterlich bestätigt, die Fritz Bauer bereits im Rahmen der Frankfurter Auschwitzprozesse vertreten hatte. Nachzulesen ist diese in seinem 1967 in der Juristenzeitung erschienenen Aufsatz „Ideal- oder Realkonkurrenz bei nationalsozialistischen Verbrechen?“. Darin vertritt Bauer die Ansicht, dass in puncto strafbarer Beihilfehandlungen bereits die Anwesenheit genüge, mithin die allgemeine Dienstausübung im Konzentrationslager. Sie sei als psychische Beihilfe zu werten. Denn:
„Jeder stützt den Nächsten, er macht ihm das kriminelle Tun leichter. Die Opfer während seines Lageraufenthaltes sind ihm zuzurechnen.“
Diesem Ansatz sind die deutschen Strafgerichte – allen voran der Bundesgerichtshof – lange Zeit nicht gefolgt. Vielmehr wurde auf Nachweise bestanden für konkrete Beteiligungen an den einzelnen Morden im Konzentrationslager. Prägend waren zudem die Worte des Bundesgerichtshofs im Urteil vom 20. Februar 1969 (Az. 2 StR 280/67) betreffend den damaligen Lagerarzt Dr. Schatz. Dort heißt es:
„Die bloße Zugehörigkeit des freigesprochenen Angeklagten Dr. Sch. zum Lagerpersonal und seine Kenntnis von dem Vernichtungszweck des Lagers reichen nach allem nicht aus, ihm die während seines Lageraufenthalts begangenen Tötungen zuzurechnen.“
Und an anderer Stelle des Urteils liest man:
„Zu Unrecht stützt sich Bauer für seine Meinung auf die Entscheidung des erkennenden Senats v. 22.3.1967 (…). Dort ergab sich die natürliche Handlungseinheit nur aus den Besonderheiten des Falles, insbesondere aus der einheitlichen Planung eines einzelnen Angeklagten, der klaren zeitlichen Begrenzung, dem völlig gleichförmigen Ablauf der Gesamtaktion und der Beschränkung auf einen übersehbaren Kreis von Opfern aus einem räumlich begrenzten Gebiet.“
So hat nicht zuletzt dieses frühe Urteil die Strafverfolgung bei NS-Taten über Jahre erschwert. Mit der Kehrtwende des Bundesgerichtshofs im Fall Oskar Gröning ist nun jedoch endlich klar: Fritz Bauer hatte Recht! Und gerade weil der Bundesgerichtshof dies in seinem Beschluss vom 20. September 2016 (Az. 3 StR 49/16) nicht offen anerkennt, sollten andere es tun. Denn es gehört zum Vermächtnis eines brillanten Juristen.
Ich stimme Ihnen in allem zu. Siehe meine Monografie „Auschwitz vor Gericht“ (Hamburg 2018, EVA).
Doch macht es Sinn, Bauer, der nicht Prozessbeteiligter war, nicht Anklagevertreter, „Chefankläger“ zu nennen? Die vier Anklagevertreter in der HV hätten sich diese heute so gängige Überhöhung Bauers verbeten. Bauer bedarf der Ikonisierung nicht.