Friedrich Engels wurde vor 200 Jahren, im November 1820, in Barmen, einem Stadtteil von Wuppertal, als Sohn eines Unternehmers geboren. Es ist schon ein paar Jahre her, dass ich mich mit seinen Schriften beschäftigt habe. Mein damaliger Professor Gerhard Kraiker bot mir an, mit ihm gemeinsam ein Buch über die Staats- und Gesellschaftstheorie von Marx und Engels zu schreiben. Es erschien 1975 in der alten edition suhrkamp.
Engels, der eigentlich Schriftsteller werden wollte, stieg nur widerwillig auf Wunsch des Vaters in dessen Firma ein und wurde später deren Teilhaber. Der Sitz des Unternehmens befand sich in Manchester, dem Zentrum der britischen Textilindustrie. Gewissermaßen aus erster Hand lernte Engels die Erscheinungsformen der kapitalistischen Produktionsweise kennen. Er wusste, wovon er sprach, wenn er den Kapitalismus kritisierte. Bereits in seiner Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England – einem seiner erfolgreichsten Bücher – beschreibt er die Arbeits- und Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter überaus anschaulich. Mit welcher Ernsthaftigkeit und Empathie er seine Aufgabe wahrnimmt, zeigt das folgende Zitat: Ich habe lange genug unter euch gelebt, um einiges von euren Lebensumständen zu wissen; ich habe ihrer Kenntnis meine ernsteste Aufmerksamkeit gewidmet; ich habe die verschiedenen offiziellen und nichtoffiziellen Dokumente studiert, soweit ich die Möglichkeit hatte, sie mir zu beschaffen – ich habe mich damit nicht begnügt, mir war es um mehr zu tun als um die nur abstrakte Kenntnis meines Gegenstandes, ich wollte euch in euren Behausungen sehen, euch in eurem täglichen Leben beobachten, mit euch plaudern über eure Lebensbedingungen und Schmerzen, Zeuge sein eurer Kämpfe gegen die soziale und politische Macht eurer Unterdrücker.
Viele seiner Kenntnisse dürfte er auch seiner Lebensgefährtin Mary Burns verdanken, einer irischen Arbeiterin, die er später heiratete. Nach deren Tod lebte er mit deren Schwester Lydia zusammen.
Engels kann durchaus als Pionier der empirischen Sozialforschung angesehen werden. Er kritisierte die frühkapitalistischen Methoden, mit denen die menschliche Arbeitskraft im modernen Fabriksystem ausgebeutet wurde; vor allem die weit verbreitete Kinderarbeit; die Berufskrankheiten; die Sterblichkeitsraten und die elenden Wohnverhältnisse der Arbeiter. Und er lernte die Kampfformen der noch jungen Arbeiterbewegung kennen: Streiks, Meetings und gewerkschaftliche Aktivitäten.
Schon sehr früh und noch vor Marx, der sich zu der Zeit vor allem mit philosophischen Fragen auseinander setzte, befasste er sich mit Problemen der politischen Ökonomie, mit denen er auch praktisch ständig konfrontiert war.
Und er setzte sich als einer der Ersten mit den ökologischen Folgen des industriellen Kapitalismus auseinander. Er erkannte, dass die soziale und die ökologische Frage untrennbar miteinander zusammenhängen. Eine Produktionsweise auf fossiler Grundlage, so führte er aus, werde den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur dauerhaft zerstören. Und er wies darauf hin, dass die Ärmsten der Armen am stärksten unter der Umweltzerstörung leiden würden, da sie keine Möglichkeit hätten, sich diesen Bedingungen zu arbeiten und zu leben, zu entziehen.
Um diese Zusammenhänge besser zu verstehen, widmete Engels sich intensiven Studien der Naturwissenschaften und der technologischen Entwicklung. Der Zwang zu ständigem Wachstum und der gnadenlose Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt würden unweigerlich zu einem kaum noch beherrschbaren Raubbau an der Natur führen. Er warnte vor der Anmaßung des Menschen, die Natur beherrschen zu wollen.
Auch in anderer Hinsicht erwies Engels sich als origineller, fortschrittlicher Denker. In seiner Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats ging er den historischen Ursprüngen des Patriarchats nach und kam zu dem Schluss, dass dieses schon lange vor dem modernen Kapitalismus entstand und mit dessen Verschwinden nicht enden würde. Für Engels war der Grad der weiblichen Emanzipation der Gradmesser der menschlichen Emanzipation überhaupt.
Als er 1869 seine unternehmerische Tätigkeit beendete, währte seine Freundschaft und Zusammenarbeit mit Marx bereits ein Vierteljahrhundert. Gemeinsam veröffentlichten sie zahlreiche Schriften und Engels sorgte dafür, dass einige Schriften von Marx überhaupt das Licht der Öffentlichkeit erblickten. So z.B. die Bände 2 und 3 des Kapitals. An letzterem arbeitete er auf der Grundlage der von Marx hinterlassenen Manuskripte ca. 9 Jahre. Jahrzehntelang unterstützte er Marx und seine Familie auch finanziell. Ohne Engels, der sich oft als zweite Violine bezeichnete, hätte Marx seine umfangreichen Studien kaum absolvieren können.
Nach seinem Ausscheiden aus der Firma widmete Engels sich neben dem Studium der Philosophie, Religion und Geschichte vor allem den Sprachen. Aktiv beherrschte er zwölf Sprachen; d.h.: er konnte viele der Texte, mit denen er sich befasste, im Original lesen und übersetzen.
Und natürlich mischte er sich weiterhin in die politischen Auseinandersetzungen ein. Nach dem Tode von Marx im Jahre 1883 war Engels der unumstrittene Mentor der europäischen Arbeiterbewegung. Er nahm Einfluss auf das Erfurter Programm der SPD von 1891 und bekämpfte jede Form von Dogmatismus und Orthodoxie. Er war der Auffassung, dass sich die Frage nach der künftigen Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht eindeutig wissenschaftlich beantworten lässt. Worum es ihm ging, hat Engels in seiner Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft ausgeführt: Es handelt sich aber darum, die kapitalistische Produktionsweise einerseits in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und ihrer Notwendigkeit für einen bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitt, also auch die Notwendigkeit ihres Untergangs, darzustellen, andererseits aber auch ihren inneren Charakter bloßzulegen, der noch immer verborgen war. Dies geschah durch die Enthüllung des Mehrwerts. Es wurde bewiesen, dass die Aneignung unbezahlter Arbeit die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise und der durch sie vollzogenen Ausbeutung des Arbeiters ist.
Engels war aufgrund seiner streng historisch verfahrenden Betrachtungsweise der Ansicht, dass jeder Schritt über den Kapitalismus hinaus auf unbekanntes Terrain führt. In einem Interview im Jahre 1893 sagte er: Wir haben kein Endziel, wir sind Evolutionisten. Und 1895 schrieb er: Heute sind Revolutionen als Kommandounternehmen kleiner Avantgarden nicht mehr möglich. Heute geht es darum, dass die große Masse selbst begriffen hat, worum es geht und worauf sie sich einlassen will.
Für das, was spätere Generationen aus dem Erbe von Marx und Engels gemacht haben, können beide nicht verantwortlich gemacht werden. Beide waren keine Ideologen. Sie selbst haben sich stets geweigert, Aussagen über die Gestaltung einer künftigen Gesellschaft zu machen. Stattdessen wiesen sie darauf hin, dass gesellschaftliche Veränderungen einer materiellen Grundlage bedürfen, deren Voraussetzungen bereits in der Gesellschaft entwickelt sein müssen. Lernen kann man von ihnen auch heute noch, was eine historisch und interdisziplinär angelegte Kapitalismuskritik zu leisten imstande ist. Es wäre zu wünschen, dass viele der für dieses Jahr geplanten Veranstaltungen zum Jubiläum von Engels, die wegen der Corona-Krise abgesagt werden mussten, im nächsten Jahr stattfinden können. Damit würde nicht nur an einen großen Vordenker der Arbeiterbewegung erinnert, sondern auch eine unideologische, neue Sicht auf sein Werk ermöglicht.
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Dass Marx und Engels keine Ideologen waren, kann man nicht oft genug wiederholen. Determinismus wird ihnen zu Unrecht unterstellt; das glaubt nur, wer nie etwas von ihnen gelesen hat.