Am Sonntag, 17. August findet bei den Leichtathletik-Europameisterschaften im legendären Zürcher Letzigrund-Stadion der Weitsprung-Wettbewerb statt. Ohne den Deutschen Meister. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) erlaubt sich den Luxus, einen aussichtsreichen Medaillenanwärter auszuschließen. Das ist nicht nur fragwürdig für den Sport insgesamt, sondern bedauerlich für den Behindertensport und ein Rückschritt auf dem Weg zu Gleichbehandlung von Menschen mit und ohne Behinderung.
Als erster Leichtathlet mit Handicap hat der 25jährige für Bayer Leverkusen startende Markus Rehm am 26. Juli einen nationalen Wettbewerb gewonnen. Er wurde Deutscher Meister im Weitsprung. Im Ulmer Donaustadion sprang er 8,24 Meter. Das war Weltrekord im Behindertensport. Die Norm für die Europameisterschaft (8,05 m) hat Rehm glatt geschafft. Nur vier nichtbehinderte Athleten in Europa sind in diesem Jahr schon weiter gesprungen. Also: ein Mitfavorit.
Am 30. Juli aber entschied der DLV: Markus Rehm wird der deutschen Mannschaft in Zürich nicht angehören. Mit dieser Begründung: „Nach den biomechanischen Auswertungen gibt es erhebliche Zweifel an der Vergleichbarkeit der Leistung. Als Indizien für die Nichtvergleichbarkeit der Leistungen des Prothesenspringers mit denen seiner Konkurrenten konnten deutliche Merkmalsunterschiede der verglichenen Sprünge beobachtet werden. Diese betreffen vor allem die Geschwindigkeiten im Anlauf und die Geschwindigkeitsverhältnisse in der Absprungphase.“ Das liest sich nicht nur etwas sperrig, sondern ist auch ziemlich verquer.
Diese Entscheidung ist mitsamt ihrer Begründung enttäuschend. Dass der Deutsche Meister nicht an den Europameisterschaften teilnehmen kann, ist schon ungewöhnlich. Die Entscheidung ist aber auch nicht konsequent. Denn der Meistertitel ist ihm ohne Vorbehalt zuerkannt worden. Er kann in Europa nicht weniger wert sein als national.
Ob sich der seit einem Sportunfall unterschenkelamputierte Markus Rehm mit seiner Karbon-Prothese einen Vorteil verschaffen konnte, werden erst die wissenschaftlichen Auswertungen der biomechanischen Untersuchungen zeigen. Diese Ergebnisse müssen wir allerdings erst abwarten. Der DLV hat jedoch seine Entscheidung aufgrund eines vorläufigen Zwischenergebnisses gefällt. Das war voreilig und unseriös.
Nun wird erbittert gestritten, ob Rehms gefederte Karbon-Prothese ihm einen Vorteil verschafft hat, also ob seine sportliche Leistung mit den Konkurrenten vergleichbar ist. Schon die Wortwahl ist zweifelhaft. Kann denn eine Prothese überhaupt ein Vorteil sein? Ich meine: Eine Prothese ist immer ein Nachteil. Und eins steht fest: Der Sprung eines Menschen mit Behinderung in die europäische Spitzenklasse bleibt eine sportliche Ausnahmeleistung.
Der europäische Leichtathletik-Verband (EAA) und der Weltverband IAAF stehen vor einer Alternative; Starterlaubnis oder Startverbot. Wie auch immer die Entscheidung letztlich ausfällt – sie wird umstritten sein. Die einen werden auf dem Recht von Spitzensportlern mit Behinderung bestehen, an Sportfesten und Titelkämpfen mit den Nichtbehinderten teilzunehmen. Die anderen werden Gegengutachten vorlegen und Rehms Startberechtigung anfechten. Markus Rehm hat darauf schon eine selbstbewusste Antwort gegeben: „Ich lasse mich nicht behindern.“
Es geht nicht nur um die technische Frage, ob der Katapulteffekt der Prothese oder der verlängerte Kunstfuß vielleicht ein paar Zentimeter bringen. Die gesellschaftliche Kernfrage, der wir uns stellen müssen, ist: Menschen mit Behinderungen werden vom Kindergarten über Schule und Ausbildung bis zum Beruf als weniger leistungsfähig eingestuft und als zweitklassig angesehen. Nun hat Markus Rehm es allen gezeigt: Wenn wir einem Behinderten das richtige Werkzeug an die Hand – oder in diesem Fall an den Fuß – geben, kann er ebenso gut sein oder sogar besser als die Nichtbehinderten. Das müssen wir alle lernen. Auch der Deutsche Leichtathletik-Verband. Exklusion bringt uns nicht weiter. Nur Inklusion.