1. Der Konflikt um die Verteilung der Kreditlast unter den G7-Staaten
Die westlichen Staatschefs (G7) haben sich bekanntlich bei ihrem Gipfel in Apulien entschieden, die finanzielle Unterstützung der Ukraine aus Mitteln ihrer Haushalte zu Ende gehen zu lassen und stattdessen für diesen Zweck auf eine neue Quelle zuzugreifen, auf Erträge aus sistiertem russischem Staatsvermögen. Es soll ein Fonds in Höhe von 50 Mrd. $ aufgelegt werden, in der wörtlichen Formulierung geht es um ein „Darlehen für die Ukraine“ in dieser Höhe „aus der Beschleunigung außerordentlicher Einnahmen“.
Die „außerordentlichen Einnahmen“, Erträge aus sistiertem russischem Zentralbankvermögen in der Größenordnung von knapp 300 Mrd. $, sind klein, aber sie fließen (bislang) stetig, jedes Jahr. Um aus diesem Rinnsal zeitnah einen großen Betrag für die Ukraine zu machen, soll ein bekannter intertemporaler Mechanismus aus dem Werkzeugkasten der Ökonomie angewendet werden: Der Ukraine wird der Vermögenswert russischer Zahlungen über Jahrzehnte im Jahre 2025 bereits zur Verfügung gestellt, der Kredit, den die G7-Staaten dafür aufnehmen, wird von diesen in den Folgejahren aus den Zuflüssen aus dem russischen Vermögen zurückgezahlt. Unterstellt wird damit, dass das russische Vermögen auf Dauer, über zwei Jahrzehnte etwa, seitens des Westens sistiert sein wird – eine offenkundig problematische Unterstellung, die den westlichen Staaten, die den Kredit garantieren, noch in Höhe ihres Anteils auf die Füße fallen kann.
Damit ist klar, dass Aufgabe, die Kreditsumme „50 Mrd. $“ unter den G7-Staaten zu verteilen, der Zuteilung heißer Kartoffeln gleicht. Der bisher vermeldete Stand an Zusagen ist einfach: Allein die EU hat etwas angeboten, nämlich die Hälfte zu übernehmen. Neuerdings melden die Auguren Neues, aber Widersprüchliches. Laut Financial Times soll die EU unter gewissen Voraussetzungen bereit sein, 40 Mrd. $ zu übernehmen. Der Brüsseler Korrespondent der Süddeutschen Zeitung hingegen meldete als neuen Stand eine Aufteilung nach dem Schema 40:40:20 (in Prozent):
- 20 Mrd. für die EU
- 20 Mrd. für die USA
- 10 Mrd. für UK, Kanada und Japan.
Der jüngste Stand ist die Zusagen von 35 Mrd. seitens der EU, wie von der Kommissionspräsidentin öffentlich verkündet wurde.
2. Basis der Erträge wird erweitert
Ein Lichtblick in der Angelegenheit ist, dass sich die Basis der potentiellen westlichen Erträge-Abschöpfung erweitert hat. Bislang wurde in westlichen Staaten allein auf die Guthaben der Zentralbank Russlands (CBR), der Bank of Russia, geschaut. Als abschöpfungsfähig gemeint sind aber die Guthaben sämtlicher staatlicher Institutionen, die im Westen mit Kriegsbeginn sistiert worden sind. Da geht es nicht allein um Vermögenswerte im Eigentum der Zentralbank. Ins Visier genommen wurden zusätzlich die Guthaben folgender staatlicher Einrichtungen Russlands:
- Nationaler Wohlstandsfond (National Wealth Fund, NWF); d.i. ein Sovereign Wealth Fund Russlands, unter der Leitung des Finanzministeriums.
- Russian Direct Investment Fund (RDIF); d.i. ist eine staatliche russische Private-Equity-Gesellschaft, also etwa analog zur DEG in Deutschland.
- Föderalagentur für Angelegenheiten der GUS, für Fragen der im Ausland lebenden Mitbürger und für internationale humanitäre Zusammenarbeit (Rossotrudnitschestwo); d.i. eine Organisation zur Kulturförderung im Ausland, also analog zur Goethe-Gesellschaft in Deutschland.
- Zentrale russische Wertpapierverwahrstelle (NSD), eine Tochtergesellschaft der Moskauer Börse.
Finanziell von ernstlicher Bedeutung, gemessen am in westlichen Staaten sistierten Vermögen, ist unter diesen Eirichtungen allein die NSD. Laut Medienberichten sind derzeit rund 70 Mrd. € von NSD bei Euroclear, dem in Belgien ansässigen Clearinghaus, blockiert. Derzeit werden deren Vermögenswerte nicht dazu verwendet, um die sog „unerwarteten Gewinne“ zu generieren, die als finanzielle Unterstützung an die Ukraine überwiesen werden können, aber eine analoge Vorgehensweise wie mit den Vermögenswerten der russischen Zentralbank liegt nahe. Der Prozess der Klärung, ob die NSD als Tochter der formal privatwirtschaftlich organisierten Moskauer Börse dessen ungeachtet wegen dominanten Einflusses des russischen Staates als „staatlich“ eingeordnet werden kann, ist am Laufen.
Nebelhaft ist, was von dem in EU-Staaten sistierten russischen Staatsvermögen in Deutschland liegt. Anfangs, gleich nach der überraschenden Sistierung einen Tag vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, also am 23. Februar 2022, gab es die folgenden beiden Meldungen, wonach in Deutschland wesentliche Summen verwahrt werden.
- Es gab eine Berichterstattung (dpa), nach der der Minister Lindner gesagt habe,
„Seit Beginn der Sanktionen wegen des Ukraine-Kriegs hat Deutschland russische Vermögenswerte von 4,48 Milliarden Euro eingefroren. Dazu zählten unter anderem Zentralbankguthaben,“ – eine Bestätigung durch das BMF war dann aber schon nicht mehr zu erhalten. - In der unten eingeführten Kleinen Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (Frage 12) wird auf eine Meldung von Destatis (Statistik-Portal Statista) verwiesen, wonach in Deutschland zum Stand März 2022 Vermögenswerte der russischen Zentralbank in Höhe von 55 Mrd. US-Dollar von restriktiven Maßnahmen betroffen waren. Die Bundesregierung weicht in ihrer Antwort darauf aus, sie klärt die Aussage der deutschen Statistik-Behörde nicht.
3. Die Technik der Generation „unerwarteter Gewinne“ und anderes Grundsätzliches
Es gibt inzwischen eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zu dem Themenkomplex. Die ist recht aufschlussreich. Ich hebe Dreierlei hervor.
- Die CDU/CSU-Fraktion versucht die Bundesregierung dazu zu bewegen, zum gesamten Bedarf der Finanzierungs-Notwendigkeit aus sistiertem russischen Staatsvermögen Stellung zu beziehen. Die G7-Staaten hatten bekanntlich zunächst in den Raum gestellt, dass die Sistierung solange beibehalten werden solle, bis Russland die „Schäden“ bezahlt habe, die es durch den Angriffskrieg auf die Ukraine verursacht hat. Später dann, als sich die Regierungen der westlichen Staaten der Schwierigkeiten bewusst geworden waren, die Unterstützung der Ukraine weiterhin allein aus Haushaltsmitteln und damit transparent zu Lasten der eigenen Bürger zu finanzieren, schwenkten sie um und ergriffen die Option, die laufende Unterstützung der Ukraine aus sistiertem russischem Staatsvermögen zu finanzieren. Das steht zueinander in Widerspruch – man kann denselben Kuchen nicht zweimal verzehren. Auf Versuche, die Bundesregierung vor dem Hintergrund des G7-Beschlusses vom 19. Mai 2023, dass Russlands Vermögenswerte so lange immobilisiert bleiben, bis Russland den Schaden beglichen hat, den es der Ukraine zugefügt hat, auf Konkretion dieser Festlegung zu „nageln“, wie hoch denn in etwa der Schaden sei und was Russland werde bezahlt haben müssen, damit seine Vermögenswerte freigegeben werden, antwortet die Bundesregierung lediglich nichtssagend:
„Die Höhe möglicher Zahlungen lässt sich erst nach Ende des Krieges feststellen.“
Was ja nichts anderes bedeutet als: Der vollmundige G7-Beschluss wird von der Bundesregierung in seiner Substanz für Schall und Rauch gehalten. - Von grundsätzlicher Bedeutung ist auch, dass der Finanzbedarf zur Unterstützung der Ukraine deutlich höher ausfällt als seitens des Westens geplant ist, der Ukraine zu geben. Also versucht die Opposition im Bundestag auszuloten, wie die Bundesregierung zu rechtlichen Optionen steht, dass EU-seits weitergehend auf sistierte Vermögenswerte Russlands statt nur auf Erträge in ihrem geringen Volumen zugegriffen wird. Da aber rennt sie gegen fest verschlossene Türen. Die Bundesregierung bekennt plakativ „Die Russische Föderation genießt, wie jeder andere Staat, Immunität nach Maßgabe des Völkergewohnheitsrechts, die sich auch auf hoheitlich genutztes Vermögen erstreckt und dieses vor dem Zugriff durch andere Staaten schützt. Deutschland misst dem völkerrechtlichen Grundsatz der Immunität staatlichen Vermögens hohe Bedeutung bei.“
Folglich gibt sie sich nicht dazu her, andere Optionen auch nur zu prüfen. Diese Weigerung bezieht sich vor allem auf die Liste von weitergehenden Optionen rechtlicher Konstruktionen, die in einer wissenschaftlichen Studie für das Europäische Parlament („Legal options for confiscation of Russian state assets to support the reconstruction of Ukraine“) erstellt worden war. Die Absage der Bundesregierung lautet lapidar:
„Da die Bundesregierung … eine Konfiszierung der staatlichen RUS Vermögenswerte für nicht zulässig hält, hat sie zu dieser Frage keine Erwägungen angestellt.“
Das bedeutet im Klartext nichts anderes als: Wir haben auch keinerlei Vorstellung dazu, wo das nötige zusätzliche Geld zur Unterstützung und zum Wiederaufbau der Ukraine nach Kriegsende herkommen soll. - Neugier vermag weiterhin zu wecken, wie die Bundesregierung es unter einen Hut bringt, einerseits zu behaupten, das Eigentum und Vermögen anderer Staaten sei geschützt und andererseits Russland Erträge auf sein sistiertes Staatsvermögen zu entziehen. Die erste Behauptung in diesem Zusammenhang ist
„Es handelt sich nicht um eine dauerhafte Entziehung der Vermögenswerte. Der Bestand der Reserven und Vermögen bleibt unberührt.“
Diese Aussage ist unrichtig, das ist offenkundig. Ein Bestand an Vermögen verliert in Höhe der Inflation an Wert, wenn das angelegte Kapital nicht arbeiten darf, wenn es nicht zinsbringend angelegt werden darf. Diese Restriktion aber ist der Sinn der Formel „immobilisiert“. Sie bedeutet: Der Eigentümer darf dem verwahrenden Dienstleister keine Weisungen hinsichtlich seiner Kapitalanlage geben. Bei dem sistierten Vermögen privater russischer Eigner ist es tatsächlich so, dass deren Gelder einfach nur auf Konten gehalten werden, nicht ertragbringend angelegt werden. Beim russischen Staatsvermögen hingegen hat der europäische Gesetzgeber anders entschieden. Da wurden die sistierenden Banken angewiesen, weiterhin Erträge mittels des sistierten Kapitals zu generieren. Die so erzielten Erträge, so die Behauptung, stünden nicht der russischen Zentralbank zu, weil sie nicht auf deren Weisung hin generiert wurden – sie seien vielmehr Erträge der sistierenden Banken, weil diese das „Management“ betreiben zur Erringung dieser dann angeblich „unerwarteten Erträge“ – der Bezug zur Kapitalbasis, die man einsetzt, um die Erträge zu erzielen, wird geleugnet. Zudem wird die künstliche Sprechweise eingeführt, dass es sich bei den Erträgen aus Cash Management nicht um „Zinsen“ handle. Hier zum Beleg der originale Wortlaut, wie die Bundesregierung sich, konsistent mit den Sprechweisen der EU, das wundersame Ergebnis, dass die Kapitalerträge nicht dem Kapitaleigner zustehen, zusammenreimt:
„Ausweislich der Begründung für den einschlägigen EU-Rechtsakt schöpft die EU bei den Zentralverwahrern keine Erträge ab, die der russischen Zentralbank oder dem russischen Staat gehören. Die sogenannten „windfall profits“ entstehen den Zentralverwahrern aus dem Cash-Management der bei ihnen blockierten Vermögenswerte der RUS Zentralbank. Der RUS Vermögensbestand selbst sowie die darauf anfallenden, RUS zustehenden, Zinsen werden nicht angetastet.“
Wenn sich eines Tages Richter bei EU-Gerichten finden, die diesen ökonomischen Unsinn als angemessen akzeptieren, dann wird es nur auf die Weise gelingen, dass sie es ohne Anhörung ökonomischer Expertise, allein mit Hilfe rechtlicher Kompetenz, entscheiden.
So steht es um den Rechtsstaat.