Die Arbeit in einer Regierungskoalition von drei Parteien ist auch nach 34 Monaten immer noch nervenaufreibend und schweißtreibend. In der Bundesrepublik Deutschland waren vorher Zweier-Koalitionen in der Regierungsverantwortung üblich. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es im Getriebe der Koalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP immer wieder mal kräftig knirscht. Drei Partner sind nun mal gewöhnungsbedürftig, besonders dann, wenn sie in politischen Grundüberzeugungen weit auseinander liegen. Gleichzeitig liegt darin eine Stärke dieser Koalition, denn sie spiegelt die politische Vielfalt unserer Gesellschaft wider. Die Zeiten von einstmals zwei großen Volksparteien, die wesentliche Teile der Wählerschaft an sich binden konnten, ist wohl vorbei. Dass die Regierungsarbeit trotz unvorhersehbarer riesengroßer Herausforderungen im Innern wie von außen alles in allem gut gelingen konnte, ist deshalb eine nicht zu unterschätzende Leistung, die dem Zusammenspiel der drei Fraktionen zu verdanken ist. Darüber darf der oftmals unnötige und teils verbissene Streit in der Koalition nicht hinwegtäuschen.
Bei der Regierungsbildung war von vornherein klar, dass die entscheidenden Grundlagen für das politische Handeln im deutschen Bundestag gelegt werden mussten und müssen. Demokratische Regierungen brauchen parlamentarische Mehrheiten, sonst sind sie nicht handlungsfähig. Es lag und liegt also viel Verantwortung auf den Fraktionen, die mit dieser Dreierkonstellation Neuland betreten haben. Mit 207 Abgeordneten stellt die SPD die zahlenmäßig größte Fraktion, fast die Hälfte der 87 Frauen und 120 Männer waren erstmals gewählt worden, die meisten davon sind jung. Bündnis 90/Die Grünen haben 107 Abgeordnete, die FDP hat 92 Abgeordnete. Die Koalition hat also mit 414 Abgeordneten von 736 im Deutschen Bundestag eine stabile Mehrheit.
Im Rückblick ist hervorzuheben, dass große Teile der Öffentlichkeit vom Wahlergebnis und dann von dieser Regierungsbildung überrascht worden sind. Damit hatte kaum jemand gerechnet. Vor allem in den Medien und ganz besonders bei den sogenannten Hauptstadtjournalistinnen und -journalisten war die Enttäuschung über den Wahlausgang mit Händen zu greifen. Entsprechend war die Berichterstattung.
Olaf Scholz Kanzler, das hatten die Wenigsten auf dem Schirm. Die meisten waren auf eine Koalition von CDU/CSU und Grünen fixiert. Schwarz-grün war die mediale Traumkonstellation. Über die stoische Voraussage von Scholz, die SPD würde bei der Wahl vorn liegen und er würde Kanzler, gab es eher belustigte Kommentare als ernsthafte Berichte. Bis heute ist die Enttäuschung noch in vielen Medien zu spüren. Nur wenige lassen sich darauf ein, die politische Bandbreite in der Koalition zu akzeptieren und die daraus erarbeiteten Kompromisse zu würdigen. Diese mediale Arroganz ist auch ein Zeichen dafür, dass die politische Zeitenwende hin zu Mehrparteien-Koalitionen längst noch nicht erkannt worden ist.
Das ist jedenfalls eine Lehre aus der Regierungsarbeit von drei Parteien, dass politische Entscheidungen, die für die ganze Koalition gelten, nicht vom Himmel fallen oder gar in einem Koalitionsvertrag festgelegt werden können, sondern im politischen Alltag unter sich ständig verändernden Bedingungen hart erarbeitet werden müssen. Ob die Unionsparteien dazu jemals in der Lage sein würden, darf bezweifelt werden.
Parlamentarische Arbeit ist Kärrnerarbeit. In den Gesichtszügen des einstigen legendären SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner war das in jeder Phase einer Bundestagssitzung abzulesen. Auch heute gilt das noch, obwohl die geneigte Öffentlichkeit mit den Boulevardmedien an der Spitze den gewählten Abgeordneten und ihrer wichtigen Arbeit eher herablassend und geringschätzig gegenüberstehen. Selbstverständlich haben auch Bundestagsabgeordnete Verantwortung für ihr öffentliches Ansehen und selbstverständlich müssen sie Kritik ertragen können. Aber dennoch muss sich unsere Gesellschaft fragen lassen, wie sie damit umgeht, dass Kritik an demokratisch gewählten Politikerinnen und Politikern in immer mehr Hass und Hetze umschlägt. Unsere Demokratie hält sicher vieles aus, auch harte Kritik an politischen Entscheidungen. Aber unsere politischen Institutionen, vor allem unsere frei gewählten Parlamente in den Kommunen, den Ländern und im Bund brauchen auch Schutz, Anerkennung und Respekt. Sie sind der Kern unseres demokratischen Rechtsstaates, sie sind unverzichtbar.
Bis heute jedenfalls hat die Regierungskoalition die großen Herausforderungen durch den von Russland im Februar 2022 begonnenen und anhaltenden Angriffskrieg gegen die Ukraine mit den weitreichenden Folgen für die Energieversorgung, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung, die millionenfach geflüchteten Menschen und die finanziellen Ausgaben für deren Unterstützung sowie die militärischen, humanitären und wirtschaftlichen Hilfen für die Ukraine gut bestanden. Auch die dringend notwendige Transformation von Industrie und Wirtschaft, der Um- und Ausbau der Stromerzeugung, die Veränderungen in der Wärmeversorgung, die Förderung der E-Mobilität, die Folgen der bis tief in den persönlichen Lebensbereich reichenden und langfristig wirkenden Pandemie sowie die Sicherung stabiler und auskömmlicher Renten sind nach intensiven Diskussionen und der zügigen Beseitigung von Mängeln wie beim Gebäudeenergiegesetz auf den Weg gebracht worden. In diesem Prozess hat sich vor allem die SPD-Bundestagsfraktion als stabilisierender und ausgleichender Faktor in der Koalition bewährt.
Selbstverständlich sind Meinungsumfragen Stimmungsbarometer. Für die Koalitionsparteien sind die Ergebnisse der Meinungsumfragen jedenfalls niederschmetternd. Sie zeigen, dass das Ansehen von SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP auf einen Tiefpunkt gesunken ist. Das muss aber nicht so bleiben. Heute jedenfalls vorauszusagen, wie die Wahlentscheidungen bei der Bundestagswahl am 28. September 2025 sein werden, ist gewagt. Allerdings scheint sehr wahrscheinlich, dass eine Regierungsbildung ähnlich kompliziert werden würde wie 2021. Da wundert es dann schon, dass die Unionsparteien im Rausch eines vermeintlichen demoskopischen Höhenflugs alles, aber auch alles in Bausch und Bogen verdammen, was die Koalitionsregierung politisch zustande gebracht hat. Das kompromisslose Eindreschen auf alle drei Koalitionsparteien ist jedenfalls kaum geeignet, später mal selbst eine Dreier-Koalition bilden zu wollen. Und so schlecht, wie Merz, Dobrindt und Söder den Zustand in und um Deutschland darzustellen versuchen, ist die Lage trotz aller Widrigkeiten und Schwierigkeit tatsächlich nicht.
Die legendäre Sonthofen-Strategie von Franz-Josef Strauß lässt 50 Jahre nach ihrer Erfindung grüßen. Der damalige CSU-Vorsitzende und wirtschafts- und finanzpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vertrat am 19. November 1974 in der Sonthofener Klausurtagung der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag die Meinung, dass es für die Bundestagswahl 1976 am besten sei, als Opposition keine eigenen Vorschläge mehr in die politische Parlamentsarbeit zu bringen, sondern nur noch zuzusehen, wie die Regierung mit den massiven wirtschaftlichen und sozialen Problemen fertigzuwerden versuche, um sich dann später als Retter zu präsentieren. Das politische Taktieren von Friedrich Merz, der gern Bundeskanzler werden möchte, ähnelt dem Vorgehen von Strauß auffallend, obwohl er doch wissen müsste, dass diese Strategie 1976 nicht besonders erfolgreich war. Ob es CDU/CSU und Friedrich Merz heute helfen wird, bleibt abzuwarten. Klar ist aber: Unserem Land und vor allem den Menschen im Land hat das damals nicht geholfen und wird es auch heute nicht.
Für die drei Koalitionsparteien und die von ihnen getragene Bundesregierung geht es inzwischen auf die Zielgerade dieser Legislaturperiode. Die Wegstrecke bleibt schwierig und mit großen Hindernissen versehen. Das darf aber keine Ausrede für zögerliches Verhalten sein. Der Haushalt für 2025 muss verabschiedet werden. Die Probleme mit Asylsuchenden, Flüchtlingen und dringend benötigten ausländischen Fachkräften müssen gelöst werden. Eine Investitionsoffensive, die vor allem bis in die Kommunen für Kitas, Schulen, Straßen und Wohnungen wirkt, muss kommen. Der Industriestandort Deutschland muss gesichert und zukunftsfähig gemacht werden, die deutsche Wirtschaft braucht staatliche Hilfen, wo immer das geboten ist. Die Meyer-Werft lässt grüßen. Die soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit, im Alter und für Gesundheit und Pflege muss stabilisiert werden. Das Rentenpaket muss kommen. Die Menschen müssen erleben, dass die politischen Entscheidungen dafür sorgen, ihr Leben leichter und besser zu machen. Und es geht darum, alles dafür zu tun, den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken, damit es gute Zukunftsaussichten auch und besonders für die jungen Menschen gibt. Alles kein Hexenwerk, aber durchaus anspruchsvolles Handwerk. Und im Übrigen gut geeignet, der rechtsextremistischen und demokratiefeindlichen AfD das Wasser abzugraben.
Antreiber und Stabilisator in diesem Prozess muss die SPD-Fraktion sein. Sie ist mit ihren 207 Abgeordneten der Seismograf in den Wahlkreisen, also direkt verwurzelt am Lebensmittelpunkt der Menschen. Das macht auch ihre Stärke aus. Antenne und Sender sein, diese Aufgabe kann niemand den Abgeordneten abnehmen. Dafür sind sie da. Mitnehmen nach Berlin in den Bundestag, was die Menschen ihnen vor Ort sagen, was sie wünschen und erwarten und gleichzeitig berichten und aufklären, welche politischen Entscheidungen und warum sie getroffen worden sind. Am besten gelingt so etwas im persönlichen Gespräch, in direkten Begegnungen, auch im zwanglosen Miteinander bei Kuchen und Kaffee. SPD-Abgeordnete haben ein solches Verhalten eigentlich mit der sogenannten Muttermilch in ihrer Partei aufgenommen. Insofern kommt der SPD-Fraktion auf der Zielgeraden besondere Bedeutung zu. Sie muss der Fels in der Koalition sein.