Da ich eine überzeugte Leserin älterer, oft vergessener Literatur bin, komme ich selten dazu, mich der unüberschaubar gewordenen Menge an Neuerscheinungen zu widmen. Doch es gibt Ausnahmen, wie es dieser Roman ist, der zum diesjährigen Buch für die Stadt (von der Jury der Kulturredaktion des Kölner Stadtanzeigers und dem Kölner Literaturhaus) ausgewählt wurde.
Die Autorin ist bekannt als Redakteurin der „taz“ und anderen Zeitungen, und sie schreibt mit diesem Buch ihren zweiten Roman; schon ihr erster wurde unter dem Titel Ellbogen (2017) mit mehreren renommierten Preisen ausgezeichnet. Auch der neue Roman hat schon zwei Preise erhalten.
Fatma Aydemir, selbst aus einer türkischen Migrantenfamilie stammend, in Deutschland geboren, zeichnet die fiktive Geschichte einer kurdisch-türkischen Familie nach, die vor Jahrzehnten nach Deutschland emigrierte; als erster ging der Vater von vier Kindern dorthin, wo er sich als Fabrikarbeiter verdingte, um später seine Familie nachzuholen. Eine Geschichte also, die sich unzählige Male wiederholte und bis heute soziale Realität ist. Doch wie die Autorin diese sechs Personen charakterisiert – mit allen Schwierigkeiten, Problemen, Konflikten, differenziert nach Alter und Geschlecht in der Abfolge der Generationen – das ist schon etwas Besonderes; ihr gelingt es nämlich, die Individualität einer jeden Person so aufzuzeichnen, dass sie zugleich auch Typen sein könnten, die jeweils für eine Generation stehen. Es geht dabei um die Macht der traditionellen Werteorientierung der Eltern und der Kampf ihrer Kinder je nach Alter um ihre Selbstfindung und -bestimmung, die enorme Bedeutung von (genutzen oder untersagten) Bildungschancen vor allem für Mädchen, die Verheimlichung der kurdischen Herkunft u.a.m., was das Buch lebendig und realistisch macht.
Die Autorin baut ihren Roman so auf, dass jede der sechs Personen in einem eigenen Kapitel vorgestellt wird. Allen voran Hyseyin, der Vater. Stilistisch ausgefeilt dadurch, dass eine fiktiv erzählende Person diesen Mann vertraulich mit „Du“ anspricht. Sie befragt ihn bzw. erzählt uns von seiner schweren Schichtarbeit – überwiegend im Akkord – über ein langes Arbeitsleben von 30 Jahren hinweg, das nunmehr erfolgreich beendet ist, denn er ist inzwischen in Rente. Der Erfolg bemisst sich daran, dass er das meiste verdiente Geld angespart hat, um seinen Lebenstraum verwirklichen zu können. Dieser besteht darin, in die Türkei zurückzukehren und seiner Ehefrau eine Eigentumswohnung in Instanbul zu bieten. Mit Sorgfalt und Stolz richtet er diese komplett ein, damit sie es so gut und schön wie möglich haben. Er hat gerade Lebensmittel eingekauft und den Möbelpackern geholfen – doch dann ? Da spürst du ein scharfes Stechen in deinem linken Arm. Du fragst dich, ob du dich vorhin übernommen hast … Du stehst da und kreuzt die Arme über der Brust, als umarmtest du dich selbst … Du machst zwei Schritte in Richtung Wohnzimmer, wo der neue Esstisch und die dazugehörigen neuen Polsterstühle stehen, aber während der zwei Schritte überkommt dich plötzlich eine solche Übelkeit, dass du doch lieber schnell ins Bad willst, aber das schaffst du jetzt nicht mehr, und dein Körper beugt sich nach vorne und du erbrichst dich vor der Wohnzimmertür mitten auf deinem Flur.
Hyseyin stirbt in seiner Wohnung an einem Herzinfarkt.
Der Roman entwickelt sich thematisch dadurch, dass alle 5 Familienmitglieder aus verschiedenen Standorten Deutschlands nach Istanbul anreisen, um der Beisetzung des Vaters beizuwohnen.
Den älteren Sohn Hakan lernt man bei seiner wilden Autofahrt (im Sportwagen) über eine Entfernung von mehreren Tausend Kilometern von Deutschland in die Türkei kennen, denn er hat das Flugzeug verpasst. Zu erfahren sind seine im Vergleich zum Vater grundverschiedenen Ansichten von Arbeit und Lebenssinn.
War Hüseyin überhaupt jemals irgendwas anderes als ein Arbeiter? Hakan kann es nicht sagen. Hüseyin war immer am Machen, hat immer geschuftet für die anderen, für seine Familie, immer war er fleißig, immer tun, nie reden, nie Risiko, alles auf die sichere Bank, immer beschäftigt, kein unnötiges Gerede, sich nichts gönnen, keinen Pfennig verschwenden, Hüseyin war nicht einfach ein Arbeiter, er war der geborene Arbeiter. Er hatte das im Blut. Manche haben das ja, Hakan halt nicht. Hakan weiß nämlich, dass es tausend Arten gibt, schnelles Geld zu machen, als irgendwo am Fließband zu stehen und sich Befehlen von irgendeinem bekackten Meister zu unterwerfen, kein Bock darauf, dann lieber ein eigenes Geschäft aufziehen und sich dafür hoffnungslos verschulden, fuck it, wenigstens was Eigenes haben, keinen Chef, keinen Meister, keinen Capo, immer nur eigene Entscheidungen…
Im Stil des Endlossatzes schafft es Aydemir, nicht allein die Absetzung des Sohnes vom Vater darzustellen, sondern diese auch in dessen eigener Milieu-Sprache zu artikulieren, die alle Zweifel am eigenen Wollen und Tun überdeckt. Hakan, der in jungen Jahren bereits eine gewerbliche Ausbildung abgebrochen hatte, entdeckte schon als Schuljunge den Breakdance, der für ihn mehr war als Fitness oder Tanz, sondern eine Ausdrucksform von Protest und Widerstand, eine eigene Sprache., ja, eine eigene Welt. Aus der Schilderung seines bisherigen Lebensweges erfährt man so manches an Schiffbruch bei Versuchen, sich eine eigene, selbständige Existenz aufzubauen. Doch in einem ist er sich treu geblieben: sich irgendwie durchzuschlagen, im von Illusionen durchdrungenen Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung; jedenfalls ohne sich einer Hierarchie zu unterwerfen, auch wenn er dabei nicht immer das schnelle Geld gemacht hat; für höhere Ambitionen reichte es wohl auch aus Gründen fehlender (Aus-) Bildung nicht; aber immerhin hat er die Hauptschule besucht.
Doch es ist nicht nur die ganz andere Orientierung in Bezug auf Arbeit und Existenzsicherung; hinzu kommt, dass der Sohn seinem Vater verübelt, sich nie Zeit für die Familie, für ein Gespräch (nie Reden) genommen hatte, was Hakan offensichtlich als Mangel wahrgenommen hat. Dazu gehört auch das Verschweigen der kurdischen Abstammung. Hakan fragt sich, warum der Vater diese Herkunft verheimlicht hat. Und er mutmaßt, dass die Verunglimpfung als Kanake durch die Deutschen sich als Kurde möglicherweise noch verstärkt hätte, zumal als Remigrant auch in der Türkei. Hakan bemängelt das Schweigen in der Familie über alles, was ihre Herkunft und Lebensgeschichte betrifft, auch seitens der Mutter, die dieses Verstummen als Waffe eingesetzt habe.
Ein ganz anderer Fall ist Sevda, die ältere Schwester und von allen Vieren die Älteste. Zum Erzählzeitpunkt ist sie eine gestandene Frau, die sich beruflich durchgeschlagen hat bis zum Betreiben eines Restaurants; im Status der Selbständigkeit ist sie in der Lage, für sich und ihre zwei Kinder zu sorgen, mit allem, was dazugehört: eine gute Wohnung in einem sozial gemischten Stadtviertel und ein gutes finanzielles Auskommen.
Sevda ist eine gestandene Frau, die sich allerdings ihr Leben lang hat durchkämpfen müssen. Sie sieht ihr Leben als Aneinanderreihung falscher Entscheidungen. Etliche Stellenwechsel und die Scheidung vom Vater ihrer Kinder waren zu bewältigen, keine leichten Anforderungen. Der Trennung ging voraus, dass sie erst lernen musste, ihrem Mann zu widersprechen.
Sie ging ganz langsam ins Kinderzimmer, wo Bahar und Cem auf dem Teppich hockten und ihr ängstlich entgegensahen. Sie zog die Kinderzimmertür hinter sich zu, setzte sich zu ihren Kindern und lächelte sie sanft an, während aus der Küche noch immer das Geschrei ihres Mannes zu hören war. Sevda sagte nichts, doch ihr Herz pochte wie verrückt, und zwar nicht vor Wut, sondern vor Aufregung. Es fühlte sich gut an, Ihsan zu widersprechen, es fühlte sich besser an als alles andere auf der Welt, und das hier sollte ja erst der Anfang sein.
Für eine Frau, die im osmanischen Kulturkreis und als Arbeiterkind mit traditionellen Werten und Normen aufgewachsen ist, und d.h. als Frau dem Mann untergeordnet zu sein und so gut wie nichts zu sagen zu haben, ist dies ein enormer Schritt hin zu einem Selbstverständnis von eigener Würde und Daseinsberechtigung; ein schwieriger Lernprozess voller Widersprüche und Rückschlägen, bis der feste Entschluss zur endgültigen Trennung herangereift war. Sie erlebt die Scheidung als Befreiung, und im Gefühl der Bewältigung dieses Konflikts nimmt sie sich vor, ihre kleine Tochter anders zu erziehen, als es ihr selbst widerfahren war, mit dem Ziel, ihr die Befähigung zum freieren Leben beizubringen.
Ein weiteres Trauma ihres Lebens ist, dass Sevda als Mädchen ohne jegliche Schulbildung aufgewachsen ist; und das heißt: niemals Lesen und Schreiben gelernt zu haben. Dieses Manko verfolgt sie bis zur erzählten Gegenwart. Auch sie kommt, wie ihre Geschwister, in die Türkei, um an der Beerdigung des Vaters teilzunehmen. Im Kapitel über Emine , der Mutter, ist von einer längeren Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter die Rede, in der Sevda ihr Unverständnis über dieses Versäumnis ausspricht. Man hat den Eindruck, als sprächen sie erstmalig über dieses Thema als eine Schuld, die Emine in Sevdas Sicht auf sich genommen habe. Immer wieder fragt die Tochter nach den Gründen, warum sie nicht zur Schule gehen durfte. Und immer wieder betont die Mutter, es seien andere Zeiten gewesen. Womit sich Sevda nicht zufrieden geben kann und will. Auch Ausflüchte dahingehend, dass es damals keine Schule in der Nähe des türkischen Dorfes gegeben habe, oder dass es die Entscheidung ihres Vaters war, weist sie vehement zurück. Die Auseinandersetzung der Beiden erstreckt sich über mehrere Buchseiten, was nur heißt, dass es für Sevda aus gegenwärtiger Sicht eine unverzeihliche Entscheidung war; dass es auch anders geht bzgl. Bildungschancen von Mädchen/Frauen, sähe sie am Beispiel ihrer jüngeren Schwester: bei Perihan war alles anders und möglich, sie hat in Deutschland das Gymnasium besucht, hat Abitur gemacht und anschließend Germanistik studiert. Sevda sieht das zwar aus der Perspektive ihrer eigenen extremen Benachteiligung als Fortschritt in Sachen Gleichberechtigung von Frauen und als Vorbild für die Erziehung ihrer eigenen Tochter an, doch der Konflikt zwischen Mutter und Tochter erfährt noch eine Zuspitzung.
„Du bist einfach undankbar, Sevda … Du hast Geld, du hast ein Auto, du hast ein Esslokal, dir fehlt es an nichts. Und nun kommst du ausgerechnet zu mir und machst mir Vorwürfe, dass ich dir nicht genug gegeben habe? Was fehlt dir denn, Sevda? Was habe ich dir nicht gegeben?“
Sevdas Augen füllten sich mit Wuttränen. Sie schüttelt den Kopf, als ob sie die Tränen zurückschütteln könnte.
„Liebe, Anne. Es fehlt mir an Liebe.“
Bemerkenswert ist, dass die beiden älteren Geschwister etwas beklagen, das sie in ihrer Herkunftsfamilie vermisst haben; Hakan in sprachlicher Abkürzung das Reden und seine Schwester Sevda die unterlassenen, nicht gewährten Bildungschancen, dahinter aber die Mutterliebe.
So kommt man vielleicht auf den Schlüssel zum Entziffern des Roman-Titels: was bedeutet der Ausdruck Dschinn? Im Roman gibt es Hinweise darauf in einem Gespräch zwischen Perihan und Ümit (beide sind jeweils die jüngeren Geschwister), in dem der Bruder nach der Bedeutung des Wortes fragt; ob es Geister seien? Die Schwester bemüht sich, ihm das zu erklären: Dschinns seien alles, was man (sich) nicht erklären kann: das Geheimnisvolle, das Verschwiegene, Verborgene, Unsichtbare, Mysteriöse oder, wie es im Klappentext heißt: Vielleicht sind Dschinns wie Wahrheiten, die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen. Darunter fällt also auch das Schweigen der Eltern, die Verheimlichung der kurdischen Herkunft und noch viel mehr.