Man erinnere sich: Zu Beginn der 80er Jahre konnte die Friedensbewegung in Westdeutschland in Reaktion auf den damaligen NATO-Doppelbeschluss Hunderttausende Menschen mobilisieren, um gegen die Aufstellung von atomar bestückten Pershing II Raketen zu protestieren und Abrüstungsverhandlungen einzufordern: „Frieden schaffen ohne Waffen“. Schon damals wurde der Friedensbewegung unterstellt, sie sei von Moskau gesteuert und von Kommunisten unterwandert. Persönlich habe ich mir oft genug auf dem Mannheimer Paradeplatz anhören müssen: „Geh doch nach drüben!“ Tatsache war aber, dass die unzähligen, vor allem auch kirchlichen Friedensgruppen in ihrer erdrückenden Mehrheit weder fremdgesteuert noch unterwandert waren. Sie folgten dem biblischen Friedensauftrag und dem Vorrang für nichtmilitärische Konfliktlösungen. Hinzu kam, dass die von der DDR aus unterstützte DKP (Deutsche Kommunistische Partei) in Westdeutschland immer eine Splitterpartei blieb. Vor diesen falschen Freunden musste sich niemand fürchten.
Unter schwierigen Umständen arbeiteten Teile der westdeutschen Friedensbewegung mit den kirchlichen Friedensgruppen in der DDR zusammen. Beiden ging es um ein Ende der atomaren Aufrüstung in Ost und West. Dem dienten die jährliche Friedensdekade und der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung, der in den 80er Jahren zu einer weltweiten ökumenischen Bewegung wurde. Nun standen aber die kirchlichen Friedensgruppen in der DDR in Opposition zum SED-Regime. Denn dieses reklamierte für sich, alleinige „Friedensmacht“ zu sein. Wer für den Frieden eintreten wollte, musste sich der SED-Ideologie unterordnen. So trat der „Friedensrat der DDR“ „für den Weltfrieden, Entspannung, für friedliche Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen, für Abrüstung, Freiheit, nationale Unabhängigkeit und für die Abschaffung von Neokolonialismus sowie Rassismus und für antiimperialistische Solidarität“ ein, hatte aber mit der Militarisierung des Alltags, mit Wehrkundeunterricht und der Aufrüstung der Sowjetunion keine Probleme. Kein Wunder, dass da der biblische Slogan der kirchlichen Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ zur ideologischen Bedrohung wurde, zumal die kirchlichen Friedensgruppen auch Demokratisierung und soziale Gerechtigkeit forderten. Mit Macht versuchte die SED durchzusetzen, dass alles, was sich in der DDR auf Geheiß der SED vollzog, dem Frieden, wie sie ihn verstand, zu fügen hatte. Wer dem nicht folgen wollte, war per Definition gegen den Frieden. Er wurde verdächtigt, im Dienste des amerikanischen Imperialismus und des westdeutschen Revanchismus zu stehen.
Über 40 Jahre später und 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution stehen sich Europa und Russland erneut feindlich gegenüber. Russland versucht seit Jahren, seinen Machtbereich durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu erweitern. Damit will Russland die Eigenständigkeit des Staates Ukraine verhindern, so wie Russland den Diktator Alexander Lukashenko 2020/21 massiv unterstützt hat, als er die Demokratiebewegung in Belarus zerschlug. Die Ukraine wird in dem seit dem 24. Februar 2022 andauernden Krieg mit Waffen aus den USA und Europa, insbesondere auch aus Deutschland unterstützt. Jetzt sollen in Deutschland wieder Mittelstreckenraketen der USA stationiert werden. Zwar ist nach dem 24.02.2022 keine Friedensbewegung entstanden. Aber gerade in Ostdeutschland werden die militärische Unterstützung der Ukraine durch Deutschland und die vorgesehene Stationierung der Mittelstreckenraketen von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung abgelehnt. Davon profitieren im Vorfeld der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zwei Parteien: die rechtsradikale AfD und das BSW, also die ein-Person-Bewegung Sahra Wagenknecht.* Beide Parteien plakatieren: „Frieden ist alles“ (mit deutscher und russischer Fahne unterlegt), „Krieg oder Frieden – Sie haben jetzt die Wahl“, „Diplomatie statt Kriegstreiberei“.
Auffällig ist, dass AfD wie BSW im Blick auf den Ukrainekrieg immer davon ausgehen, dass Wladimir Putin keine andere Wahl gehabt hätte, den Krieg gegen die Ukraine zu führen: Putin, ein Opfer der NATO-Expansionsgelüste. Jetzt müsse mit ihm gesprochen werden, damit der Krieg durch Verhandlungen und Diplomatie so schnell wie möglich beendet wird. Wie das zu geschehen hat, erfährt man weder von der AfD noch vom BSW. Allerdings setzen beide große Hoffnungen auf Autokraten wie Donald Trump und Viktor Orbán. So wünscht sich die AfD Trump als nächsten Präsidenten der USA, der ja behauptet, den Krieg innerhalb von 24 Stunden zu beenden. Sahra Wagenknecht lobt Viktor Orbán für seine „Friedensmission“ bei Putin. Was weiter auffällt: Die Ukraine als souveräner Staat, also die Bevölkerung der Ukraine, spielt bei AfD wie BSW keine Rolle. Insofern war es konsequent, dass sowohl die Bundestagsabgeordneten der AfD wie des BSW bei der Rede des Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenskyj den Bundestag verließen. Sie haben damit gezeigt, dass sie mit diesem frei gewählten Präsidenten und damit mit der Bevölkerung der Ukraine nichts am Hut haben. Mehr noch: AfD wie BSW haben nicht begriffen (können es aufgrund ihrer Programmatik auch nicht), dass es in der Auseinandersetzung um die Ukraine und in einer zukünftigen europäischen Friedensordnung ganz wesentlich darum geht, wie sich Freiheit und Demokratie in den Gesellschaften weiterentwickeln, und ob es gelingt, den voranschreitenden Autokratismus zurückzudrängen.
Auch wenn ich aus meiner pazifistischen Grundhaltung nichtmilitärischen Konfliktlösungen den Vorzug gebe, auch wenn ich die Kritik an der Bundesregierung teile, dass derzeit viel zu wenig um die zukünftige europäische Friedensordnung gerungen wird, auch wenn ich den einsam gefassten Beschluss zur Aufstellung von Mittelstreckenraketen ohne Abrüstungsperspektive für fatal halte – mit falschen Freunden sollte man niemals gemeinsame Sache machen. Viel zu durchsichtig ist das rein taktische Verhalten von AfD und BSW in der Friedensfrage. Viel zu plump bedienen sie sich eines Friedensbewusstseins in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung, das sich nach wie vor speist aus den hohlen Friedensphrasen der DDR-Zeit und gleichzeitig verdrängt, dass „Schwerter zu Pflugscharen“ und Demokratieverachtung nicht zusammen gehen.** Dass dazu noch die Parolen aus der kirchlichen Friedensbewegung und der Friedlichen Revolution missbraucht werden, gehört zu den Unappetitlichkeiten, die beide Parteien den Bürger:innen schamlos zubereiten. Bleibt nur noch die Unverschämtheit, die SPD als „Kriegspartei“ oder „Kriegstreiber“ zu verunglimpfen – und das durch Leute, die an den Grenzen Schusswaffen gegen Geflüchtete einsetzen wollen und mit autokratischen Kriegsherren paktieren.
Darum kann es für mich und hoffentlich viele andere bei der Landtagswahl am 1. September 2024 nur heißen: Ich wähle nach wie vor die Partei, die aufgrund ihrer Geschichte wie ihrer tatsächlichen Politik bewiesen hat, dass sie das Friedensprojekt Europa weiter fördern wird und deswegen ihre Politik an dem Grundsatz Willy Brandts ausrichtet „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Darum geht meine Stimme an die SPD.
______________________________________________________________
* Zusammen mit ihrem Mann Oskar Lafontaine hat Sahra Wagenknecht zwei Parteien zu zerlegen versucht (die SPD und DIE LINKE); sie hat ein 2018 großspurig inszeniertes Bündnis „Aufstehen“ in den Sand gesetzt; schließlich erwies sich auch die am 24.02.2023 ausgerufene „Friedensbewegung“ als Rohrkrepierer. Mal sehen, was vom BSW 2026 übrig geblieben ist …
** In den Diskussionen, die ich derzeit mit vielen Bürger:innen auf der Straße führe, höre ich fast stereotyp: Die SPD ist Kriegspartei … Das, was sich in der Ukraine seit 2014 abspielt, ist von den USA gesteuert … Selenskyj ist eine Marionette des Weißen Hauses … die Ukraine wird von Oligarchen geführt … Russland musste sich gegen die Übermacht der NATO wehren … Europa muss sich von der Hegemonialmacht USA befreien … Die Überlegung, dass es in der Auseinandersetzung auch um die Demokratie in der Ukraine geht, spielt so gut wie keine Rolle bzw. wird mit der Bemerkung beiseitegeschoben „die haben wir hier ja auch nicht“.