Am 22. Juni 1941, um vier Uhr morgens, vor 75 Jahren, begann der Einmarsch von Hitlers Truppen in die Sowjetunion, ungeachtet des Nichtangriffspaktes, den er Jahre zuvor mit Stalin geschlossen hatte. Das Unternehmen „Barbarossa“ war ein Vernichtungskrieg, „Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz. ..Politische Hoheitsträger und Leiter(Kommissare) sind zu beseitigen“. Der letzte Satz steht im sogenannten „Kommissarbefehl“, der erste war Teil einer Rede des Führers am 30. März 1941 vor 200 hohen Offizieren der Wehrmacht. An den Überfall erinnert Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder(SPD) in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ und übt zugleich Kritik an der Haltung des Westens, auch der Bundesregierung, gegenüber Putin und Moskau. Wörtlich erklärte Schröder, ein Freund des russischen Präsidenten: „Deutschland sollte aufpassen, dass seine privilegierte politische und wirtschaftliche Partnerschaft mit Russland nicht verloren geht. Wir dürfen die Erfolge der Ostpolitik Willy Brandts nicht verspielen. Wichtig wäre, dass wir einen Schritt auf Moskau zugehen. Wenn die EU allerdings die Sanktionen gegen Russland undifferenziert verlängern würde, ist das gefährdet.“
Genscher mahnte den Westen: Gebt Putin die Hand
Einen Schritt auf Moskau zugehen, so hatte es auch Wochen vor seinem Tod der langjährige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in einem seiner letzten Interviews gefordert. Der Westen solle Putin die Hand reichen, es dürfe keine Verlierer geben. Diese Sätze des Außenministers aus der Zeit der Wende in Deutschland, des Falls der Mauer und der deutschen Einheit sind im Grunde eine Art politisches Vermächtnis des Freidemokraten Genscher an die heutigen Politiker. Er hatte mehrfach an die gemeinsame deutsch-russische Geschichte erinnert, an Moskaus wesentlichen Anteil am Zustandekommen der deutschen Einheit, an mündliche Zusagen westlicher Politiker, den Nato-Bereich nicht Richtung Osten auszudehnen. Auch der damalige Kanzler Helmut Kohl hat in der Vergangenheit mehrfach Gorbatschows Rolle bei der Wiedervereinigung Deutschlands herausgestellt. Schröder sagt im SZ-Interview wörtlich: „Die Sowjetunion stimmte ihr zu und zog ihre Armee ab. Sie stimmte sogar der Mitgliedschaft des geeinten Deutschlands in der Nato zu.“
75 Jahre Ostfeldzug, begonnen an einem Tag, wie es der renommierte Historiker Heinrich August Winkler in seiner „Geschichte des Westens, Die Zeit der Weltkriege“ formuliert, der den „geschichtsbewussten“ Hitler hätte „stutzig machen müssen“. An einem 22. Juni 1812 hatte Napoleon seinen Russland-Feldzug begonnen, „einen Krieg, der für ihn in einer militärischen Katastrophe endete“. (S. 939)
Schröders Vater starb an der Ostfront
Gerhard Schröder hat einen besonderen, persönlichen Bezug zu dieser Historie. Sein Vater, den er nie kennengelernt hatte, war 1944- Schröder ist Jahrgang 1944- an der Ostfront in Rumänien gefallen, als Kanzler hat er das Grab des Vaters das erste Mal gesehen. Putin hat bei der Einkesselung Leningrads(heute St. Petersburg) durch die Nazis seinen Bruder verloren, die Mutter wäre während der schlimmen Jahre fast verhungert. Schicksale, die verbinden. Und Schröder erzählt in dem SZ-Gespräch, wie und wie spät er diese russisch-deutsche Geschichte erfahren habe.
Es stimmt ja, im Geschichts-Unterricht wurde um das Dritte Reich, die Hitler-Zeit, zumeist ein großer Bogen gemacht und die deutsche Gesellschaft schien diese braune NS-Zeit viele Jahre nicht zu interessieren, viele Deutsche waren Nazis, viele Mitläufer, viele Täter. Es war die Zeit des Kalten Kriegs, die Angst vor den Russen überwog das Nachdenken über die eigene, schwere Schuld der Deutschen gegenüber den Russen. Denn die Deutschen haben den Krieg angefangen, die Deutschen wollten die Russen oder zumindest einen Großteil von ihnen vernichten und den Rest versklaven. Das kann man alles nachlesen in Hitlers Reden und Anweisungen. Die Russen allein verloren 27 Millionen Menschen im Zweiten Weltkrieg.
Generäle haben Vernichtungskrieg mit vorbereitet
„Es hat lange gedauert, bis in der westdeutschen Gesellschaft öffentlich darüber diskutiert wurde“, sagt Schröder den SZ-Redakteuren. Und selbst die Generäle, die an der Ostfront eingesetzt waren, hätten später alle Verantwortung von sich gewiesen und auf Hitler gezeigt: Sie hätten nur ihre Pflicht getan. „Dabei haben die Generäle den Vernichtungsfeldzug mit vorbereitet und geführt“, so Schröder.
Wer dem Ex-Kanzler nicht glauben mag, wird ihn bestätigt bekommen, wenn er in Winklers Geschichtswerke des Westens schaut. Winkler erwähnt die Offiziere, die keinen Widerspruch leisteten, er nennt die Generäle Halder und Hoepner und andere, die zwar später zum militärischen Widerstand gegen Hitler gehört hätten und im Falle von Hoepner 1942 aus der Wehrmacht ausgestoßen worden seien. Derselbe Hoepner habe aber zuvor die gewünschten Forderungen Hitlers gezogen. „Der Krieg gegen Russland ist die zwangsläufige Folge des uns aufgezwungenen Kampfes um das Dasein und insbesondere um die Selbständigkeit Großdeutschlands“, zitiert Winkler aus dem Aufmarschbefehl Hoepners. „Es ist der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum, die Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitisch-asiatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen Bolschewismus. Dieser Kampf muss die Zertrümmerung des heutigen Russland zum Ziele haben und deshalb mit unerhörter Härte geführt werden“.
Es war der Krieg Hitlers wie der Wehrmacht
Es war der Krieg nicht nur Hitlers, schreibt Winkler, „es war auch der Krieg der Wehrmacht, die sich den Weisungen des Führers ohne Widerrede unterwarf.“ Dabei hatte die Sowjetunion dem Deutschen Reich im Zeitraum 1939/40 entsprechend den wirtschaftlichen Vereinbarungen Tonnen von Getreide, Baumwolle, Erdölprodukte, Holz, Mangan und Chrom geliefert.
Nicht nur die Generäle unterstützten Hitlers Politik, auch die Kirche, es applaudierten evangelische wie katholische Würdenträger, als Hitler Russland angriff. Die katholischen Bischöfe mahnten die Gläubigen gar zu „treuer Pflichterfüllung, tapferem Ausharren, opferwilligem Arbeiten und Kämpfen im Dienste unseres Volkes“, der Bischof von Eichstätt, Rackl, sprach von einem Kreuzzug, einem heiligen Krieg für Heimat und Volk, für Glauben und Kirche, für Christus.“(Winkler, S. 944)
Die Endlösung der Judenfrage als Teil der Vernichtung
Mit dem Überfall auf die Sowjetunion einher ging die so genannte Endlösung der Judenfrage, die Vernichtung der Juden, aller Juden, einschließlich der Frauen und Kinder. So wurden 1941 allein im Baltikum und in Teilen Nordrusslands binnen weniger Wochen 125000 Juden umgebracht, an einem einzigen Tag, am 29. September wurden in einer Schlucht bei Kiew 33700 Juden erschossen, die Gesamtzahl der umgebrachten Juden im ersten Halbjahr des Ostfeldzug betrug rund eine halbe Million. „Der Völkermord hatte begonnen“.(Winkler)
An die Gräueltaten der Nazis, der Wehrmacht wie der SS, erinnert Schröder in dem SZ-Interview und weist auf eine Ausstellung über den großen Vaterländischen Krieg hin, die er als Jungsozialist bei einem Besuch Russlands in den 70er Jahren gesehen habe, Bilder des Schreckens, Bilder, die den Terror, die Massenerschießungen der Nazis, begangen an Russen, zeigten. Der Leiter der Ausstellung, schildert Schröder, habe selber seinen Sohn beim Kampf gegen die Nazis verloren und dennoch habe dieser Mann keinen Groll gegen die jungen Deutschen gehegt, weil die ja jetzt(es war in der 70er Jahren) den Kanzler Willy Brandt hätten. Und der alte Mann habe gesagt: „Ihr könnt ja nichts dafür, Ihr seid jung. Und wir müssen jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass so ein Krieg nie wieder passiert.“
Mit deutschen Journalisten auf dem Gedenkfriedhof
Viele Jahre später waren wir, eine Gruppe Journalisten aus Bonn, am 9. Mai in St. Petersburg und haben Ähnliches erlebt, wie es Schröder geschildert hat. Wir waren auf dem Friedhof der Stadt, dem Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof, einer Massenbegräbnisstätte von Opfern der Blockade, die am 6. Dezember 1941 begann und 900 Tage dauern sollte. Den Menschen wurde bei 40 Grad unter Null die Heizung gekappt, es gab kein Trinkwasser mehr, das mussten sich die Menschen aus Eislöchern der vereisten News holen. Hitlers Ziel war, die Menschen einfach verhungern zu lassen. Ein Genozid an der Bevölkerung von St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß. Erst am 27. Januar 1944 wurde die Stadt durch die Rote Armee wieder befreit, mindestens eine Millionen Menschen waren ums Leben gekommen, verhungert, erfroren, entkräftet, eine Millionen konnte evakuiert werden. Auf dem Gedenkfriedhof liegen die Leichen von rund 470000 Zivilisten und 50000 Soldaten, begraben unter 186 Gräberfeldern, am Ende der von Grabhügeln gesäumten Allee stößt der Besucher auf die Statue „Mutter Heimat“, die an die schlimme Zeit erinnert. Nur 700000 Bürgerinnen und Bürger der Stadt überlebten den Nazi-Terror.
9. Mai in St. Petersburg, der Tag, an dem die Menschen auf den erwähnten Friedhof strömen, an dem die ganze Stadt des Kriegsendes gedachte und der Befreiung der Heimat von den Nazis durch die Rote Armee. Wir sahen, wie die Familien mit Großeltern, Eltern, Enkeln auf diesen Friedhof gingen, Blumen niederlegten und vor den Grabhügeln still standen und der Opfer gedachten. Die Großväter, Soldaten des Vaterländischen Krieges, in ihren alten Uniformen mit allen Abzeichen geschmückt, daneben standen wir, eine Gruppe Deutscher. Auch wir haben nur einen Blumenstrauß hinterlegt, mehr bleibt einem nicht zu sagen, man schweigt betroffen und ergriffen. Später am Tage haben wir mit einem ehemaligen Soldaten des Vaterländischen Krieges gesprochen, der ohne Hass und ohne Feindschaft zu und mit uns über diesen Krieg sprach.
Ein Wunder, dass die Russen zur Versöhnung bereit sind
Schröder bezeichnet es als ein „Wunder, dass die Völker der Sowjetunion trotzdem zur Versöhnung“ mit Deutschland bereit gewesen wären, trotz des „epochalen Verbrechens“. Das haben wir auch gedacht, damals in St. Petersburg.
Und heute? Heute sollen auch deutsche Soldaten zusammen mit Soldaten aus anderen Nato-Staaten an die russische Grenze verlegt werden, für Russland sei das von „hoher politischer, militärischer und symbolischer Bedeutung“, so Schröder, der bezweifelt, dass die Nato-Verbände in Osteuropa überhaupt nötig seien. Gerade vor dem Hintergrund der Vorgänge im Juni 1941 seien die Einkreisungsängste auf russischer Seite verständlich. Und was die Ängste der Menschen in Polen und im Baltikum angeht, meint der SPD-Politiker, historisch sei diese Angst zu verstehen, wobei diese Menschen auch mit den Deutschen schlimme Dinge erlebt hätten. Und er zieht dann Bilanz. „Balten wie Polen sind Mitglied der Nato sowie der EU. Sicherheit und Souveränität dieser Staaten sind garantiert. Die Vorstellung, dass irgendjemand in der russischen Führung die Absicht haben könnte, in Nato-Staaten zu intervenieren, hat mit der Realität nichts zu tun.“