Das Interview, das Evonik-Chef Christian Kullmann am Wochenende der „Süddeutschen Zeitung“ gab, hat es in sich. Kullmann ergreift Partei für unsere Demokratie und gegen die „braun durchwirkte AfD“. Diese AfD gefährde „Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Menschenrechte“. Diese Partei schade „unserer Volkswirtschaft, unserer Gesellschaft, unserer Zukunft“. Kullmann spricht klar, wie man das sonst selten hört und liest. Wer AfD wähle, gefährde Jobs, warnt und mahnt, der Vorstandsvorsitzende des Chemiekonzerns Evonik mit Sitz in Essen. Und weil das so ist, fordert Kullmann die deutsche Wirtschaft auf, jetzt „zu handeln und Farbe bekennen gegen die AfD“. Für Evonik heiße das: „Bei uns kommen keine AfD-Funktionäre auf den Hof, zu Werksbesuchen werden sie nicht empfangen“. Und wenn er, Kullmann, auf einer Betriebsversammlung spreche, „erkläre ich, wofür wir stehen und wofür eben nicht“. Vor einer Wahl würde er zwar keine Wahlempfehlung für eine bestimmte Partei abgeben, aber „ich würde klar sagen. Björn Höcke ist ein Nazi!“ Unternehmen aus dem Ausland würden vor Investitionen in Deutschland zurückschrecken.
Kullmanns mahnende Worte an die Adresse seiner Kollegen in deutschen Firmen kommt zur richtigen Zeit. Gerade hat der Rechtspopulist Geert Wilders die Wahlen in den früher so liberalen Niederlanden gewonnen, in Ungarn regiert Orban, in Italien Meloni, in den USA droht die Rückkehr von Trump an die Macht, in Skandinavien sind die Rechten auf dem Vormarsch, eine Entwicklung, die jedem Demokraten zu denken geben muss. Und eben auch der Wirtschaft und dort einem mächtigen Manager wie Kullmann, der einem international tätigen Unternehmen mit 34000 Beschäftigten vorsteht. Und dass er sich politisch so weit vorwagt, hat gute Gründe. Deutschland sucht händeringend Fachkräfte aus dem Ausland, die AfD polemisiert gegen Zuwanderer und schreck Arbeitskräfte ab. Deutschland und seine Exportwirtschaft leben von der EU, die AfD will die EU zerstören. All das würde den Wohlstand im Lande mindern.
In einem Kommentar der SZ zum Interview auf der Wirtschaftsseite unterstreicht der Autor die historische Verantwortung von Evonik und erinnert daran, dass die „Vorgängerfirma Degussa Vorstandssitzungen in SS-Uniformen abhielt und das KZ-Gas Zyklon B produzierte“. Kullmann geht in dem Interview der SZ auf die Historie ein und erwähnt den Auftritt Hitlers 1932 vor den „Größen der Industrie der Weimarer Republik im Düsseldorfer Industrie-Club. Das war für ihn damals kein großer Erfolg. Es ist ein marxistischer Mythos, Hitler sei wie ein Maskottchen der deutschen Großindustrie an die Macht gekommen. Und die Frage, ob die deutsche Industrie den Nazis viel oder wenig Geld gegeben hat, ist auch nicht entscheidend“.
Da möchte ich dann doch die Sicht von Evonik-Chef Kullmann ein wenig erweitern helfen. 24 mächtige Wirtschaftsbosse halfen der finanziell klammen NSDAP mit drei Millionen Reichsmark, damit die Nazipartei ihren Wahlkampf führen konnte. Es fand auf Einladung Görings ein Treffen von besagten Managern mit Hitler im Reichspräsidentenpalais statt. Am 20. Februar 1933, kurz nach der Machtübernahme und noch vor der alles entscheidenden Abstimmung im Reichstag über das Ermächtigungsgesetz. Drei Millionen zahlten die Männer in braunen, schwarzen oder orangefarbenen Überziehern, in ihren Dreiteilern und breitgesäumten Bundfaltenhosen. Nachzulesen in einem fein gestrickten Büchlein von Eric Vuillard. Titel: Die Tagesordnung. Die Liste der Teilnehmer ist berühmt: Dabei sind Wilhelm von Opel, Gustav Krupp, Albrecht Vögler, Günther Quandt, Friedrich Flick, Ernst Tengelmann, Fritz Springorum, August Rosterg, Ernst Brandi, Karl Büren, Günther Heubel, Georg von Schnitzler, Hugo Stinnes Jr., Eduard Schulte, Ludwig von Winterfeld, Wolf-Dietrich von Witzleben, Wolfgang Reuter, August Diehn, Erich Fickler, Hans von Loewenstein zu Loewenstein, Ludwig Grauert, Kurt Schmitt, August von Finck und Doktor Stein. Wer mit den Namen nicht so klar kommt, hier einige Firmen, die durch ihre Chefs beim Führer vertreten waren: BASF, Bayer, Agfa, Opel, IG Farben, Siemens, Allianz, Telefunken.
Die Besten der Besten, die High Society der deutschen Wirtschaft. Gesammelt wird Geld für die Wahl am 5. März. Eine entscheidende Wahl, wie Göring den hohen Herren verspricht, damit werde die Unsicherheit im Reich ein Ende haben, wenn die Nazis gewännen, seien es auch „die letzten Wahlen für die nächsten zehn Jahre, ja sogar für die nächsten hundert Jahre“, verspricht Göring. Kleinigkeiten seien zu ergänzen: August von Finck trat schon 1933 der NSDAP bei, er war ein glühender Verehrer Hitlers und wird 1948 im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens als Mitläufer eingestuft. Das nenne ich Gerechtigkeit. Krupp allein habe eine Million gespendet. Ein paar Jahre danach werden die Herren der Industrie üppig entlohnt, sie bekommen fast zum Nulltarif Millionen von Zwangsarbeitern, die sie reich werden lassen. Jedem Überlebenden muss Krupp später 1250 Dollar zahlen. Und als sich noch Deportierte melden-quasi nach Kassenschluss- lässt der Konzern sie wissen, dass er leider, leider zu weiteren Zahlungen nicht mehr in der Lage sei. Die Juden, so schreibt der preisgekrönte Autor Vuillard, hätten ihn schon genug gekostet. Wie gesagt, man kann, man muss das nachlesen, was Vuillard so brillant in Druck gegeben hat, ja auch wütend. Verständlich ist es.
Christian Kullmann räumt dann im SZ-Interview ein, wie sich nach 1933 „die Nomenklatura der deutschen Industrie hemmungslos opportunistisch auf das Regime eingelassen“ habe. Plötzlich sei die NSDAP „massiv finanziell unterstützt“ worden, plötzlich drängte man in die Partei, das habe auch für die Degussa gegolten. Dann das Kapitel mit Zyklon B, „der düsterste Schatten“ in der Geschichte eines Unternehmens, die Vorstandssitzungen in SS-Uniformen. Kullmann streift all diese üblen Fakten und betont dann: „Aus dieser Historie erwächst für Unternehmen wie das unsere eine besondere Verantwortung“.
Ein großes Interview, ein besonderes Gespräch, das ein Chef einer großen Firma offen geführt hat, Stellung bezieht und Haltung zeigt. Und mit Blick auf die heutige Zeit fordert: Man brauche eine andere Erinnerungskultur, keine Rituale, sondern es müsse gefragt und geantwortet werden, wie und warum es dazu kommen konnte. Wir brauchen einen Kampf gegen Rechts, an dem sich möglichst viele beteiligen, niemand darf sich da heraushalten, sondern muss Flagge zeigen, die Bürgerinnen und Bürger, die Gewerkschaften, die Arbeitgeber. Gegen eine AfD, die eine „Zukunftsbremse“ sei, ein „Zukunftsverhinderer, weil ausschließlich rückwärtsgewandt.“ Kullmann stuft das „Früher war alles besser“ zu Recht als „blühenden Blödsinn“ ein. Endlich einer, der Stellung nimmt und sich nicht sorgt vor Angriffen.
Es stimmt auch, dass „viele Eliten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur den Aufstieg der Nazis in der Weimarer Republik einfach hingenommen haben“, wie Kullmann in der SZ erklärt und was der Historiker Fritz Stern das „feine Schweigen“ beurteilt hat. Ich denke auch an manchen Hochschullehrer, der schnell Mitglied der NSDAP wurde, um dort Rektor zu werden. Man denke an all die Ärzte und Juristen, die Nazis wurden und die Menschlichkeit vergaßen. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Bert Brecht hat Recht. Es lebe der Opportunismus. Der Demokratie fehlten damals die Demokraten, die die Demokratie verteidigt hätten, was der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier aus gutem Grund immer wieder anmahnt. Er meint das aber für die heutige Zeit. Und er meint damit auch die Wahlergebnisse der AfD, die einen Demokraten erschrecken müssen. Nie wieder, das scheint zu wenig zu sein, wenn es nichts kostet. Wir müssen Flagge zeigen, Zivilcourage. Die Sorgen des Bundespräsidenten scheinen auch Kullmann zu bewegen. Ihm ist es zu leise, wie er betont, der Protest gegen die Rechtsextremisten, wie auch die Fürsprache für die Demokratie zu leise ist. Auch wir finden es zu leise, suchen laute Demokraten, die diese Gefahr laut äußern. Auch und gerade gegenüber den Millionen Wählerinnen und Wählern. Es darf nicht der Normalfall werden, AfD zu wählen. Normal muss das Eintreten für diesen Staat werden. Es stehen Wahlen vor der Tür, die Europa-Wahlen und die Landtagswahlen im Osten der Republik, da drohen braune Wellen. Und „da muss die Wirtschaft Farbe bekennen und erklären, welche Folgen es hat, wenn diese braun gewirkte Partei starke Wahlergebnisse einfährt.“ Kullmann hat Recht. Endlich einer, der es sagt.
Bildquelle: Wikipedia, Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0