Rechtsruck bei den Europawahlen, so viele Kommentatoren nach dem Votum. Die „schwarz-blaue Republik“, so das Fazit eines Kollegen für Deutschland. Sigmar Gabriel, Ex-SPD-Chef, selbst nie unumstritten, sieht die Regierung durch bei der Bevölkerung, Söder hält die Ampel „de facto abgewählt“ und Merz spricht von der letzten Warnung für die Scholz-Regierung. Scholz wirkt, als ginge ihn das nicht an, wenn die Opposition Neuwahlen fordert. Die links-alternative taz konnte der Abstimmung noch etwas Gutes abgewinnen. „Immerhin rund 80 Prozent noch halbwegs bei Sinnen“. Gemeint auf Deutschland bezogen: 30 Prozent für die Union, soviel wie die Ampel aus SPD, den Grünen und der FDP zusammen, dagegen 15,9 Prozent für die AfD und sechs Prozent für Wagenknechts BSW. Jubelnde Populisten und Rechtsextreme. Ratlose Grüne, verzweifelte Sozialdemokraten, übermütige Christdemokraten und Christsoziale. Neuwahlen in Frankreich nach dem Wahlsieg der Rechten. Halbwegs bei Sinnen?
Gerade haben wir die D-Day-Gedenkveranstaltungen hinter uns, 80 Jahre danach. Der Anfang vom Ende der Nazi-Herrschaft über Europa, ein Jahr sollte der 2. Weltkrieg noch dauern mit all seinen vielen Millionen Toten und dem Wahnsinn der Zerstörungen, große Teile Europas sahen aus wie ein Friedhof. Zugleich wurden die Gedenkfeiern dazu genutzt, Europa zu feiern als das, was es gewesen ist und immer noch ist: Ein Zusammenschluss demokratischer Regierungen zu einem Bündnis, das Sicherheit und Wohlstand versprach und immer noch verspricht, eine Gemeinschaft, von der man glaubte, sie habe genug von ihrer jahrhundertealten kriegerischen Vergangenheit. Nie wieder! Rief ein großer europäischer Chor, nie wieder Krieg. Man beschwor eine europäische Allianz, die sich 1999 mit dem Euro sogar eine gemeinsame Währung gab, die einen gemeinsamen Markt hatte und auch deswegen florierte, die mit ihren Werten wie Freiheit und Würde des Menschen dem Westen ein Gewicht gab in der Welt, insgesamt ein Angebot, das niemand ausschlagen kann. Dachte man.
Nach der Europawahl vom Wochenende scheint der gemeinsame Weg der vergangenen Jahrzehnte nicht mehr nur Freunde zu finden, weil viele Menschen ganz offensichtlich vergessen oder verdrängt haben, warum sie sich nach dem schrecklichsten aller Kriege 1945 zusammengeschlossen hatten. Die Formulierung vom „Ruck nach Rechts“(so die Medien) beschreibt nur ungenau, was passiert ist. Wir sind dabei, den Pfad wieder zu verlassen, der uns Frieden, Sicherheit und Wohlstand beschert hat, das gemeinsame Werk, u.a. von den großen Alten wie Konrad Adenauer und Charles de Gaulle geschaffen, ins Archiv zu stellen und eigene Wege zu gehen. Nationale, ja nationalistische Töne sind mehr und mehr zu hören und verdrängen dabei das, was sie früher angerichtet haben. Man fasst sich an den Kopf. Haben denn die Europäer all die verhängnisvollen Irrwege vergessen, die überhöhter, verklärter Nationalismus in Europa angerichtet hatte? Die Kriege zwischen Frankreich und Deutschland zum Beispiel? Wäre nicht mehr Europa angebracht als weniger?
Der Krieg hat Europa wieder erreicht durch Russlands Putin, der nicht genug hat mit dem größten Land der Erde, der mehr, der zurück will zur alten Weltmacht, der das Auseinanderbrechen der UdSSR als seine größte globale Katastrophe empfunden hat. Deshalb der Einmarsch in die benachbarte Ukraine, die sich Richtung Westeuropa orientierte, um sich aus den Fängen des russischen Imperators zu befreien. Frieden und Freiheit sind Werte, die dieser Putin nicht garantieren kann und will, weil sie seinem Drängen nach mehr Macht und Einfluss im Wege stehen. Und auch hier frage ich mich, ob wir nicht mehr Europa bräuchten statt weniger? Und wir müssen es besser erklären, unser Europa.
Es war Francois Mitterrand, der französische Staatspräsident, gewiss ein glühender Franzose, aber später auch überzeugter Europäer, der schon vor Jahrzehnten vor einem Wiedererstarken des Nationalismus warnte; 1995 im Europa-Parlament, zu einer Zeit, da wir vom ewigen Frieden träumten, der kalte Krieg war zu Ende, die Mauer war weg, der Warschauer Pakt aufgelöst, wir glaubten, wir seien in Europa von Freunden umzingelt. Und ausgerechnet da hob der alte Mann aus Frankreich, der den Krieg mit Deutschland noch erlebt hatte, der 1940 bei der Schlacht um Frankreich in der Nähe von Verdun bei einem Fliegerangriff verwundet wurde und in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, zur Mahnung an: „Le nationalisme, c´est la guerre.“ (zitiert aus der SZ)Nationalismus heißt Krieg. Mancher wird damals gedacht und gelacht haben: Krieg? Was soll das? Warum redet der Franzose so? Nun, Mitterrand sprach die Worte wenige Monate vor seinem Tod(8. Januar 1996). Es war also so etwas wie das Vermächtnis eines Mannes, den ich zusammen mit Bundeskanzler Helmut Kohl, händchenhaltend, am 22. September 1984 in Verdun erlebt habe vor dem Beinhaus Douaumont, in dem über 130000 sterbliche Überreste von unbekannten Kriegstoten beerdigt sind. Eine ergreifende Szene vor den letzten Überlebenden des Ersten Weltkriegs. Gerade in Verdun, wo sich Franzosen und Deutsche in einer der blutigsten Schlachten 1916 gegenüberstanden. Der „Handschlag von Verdun“ ging in die Geschichte ein.
Krieg ist zurück in Europa
„Krieg ist nicht nur Vergangenheit, er kann unsere Zukunft sein“. (zitiert aus der SZ) Mahnung eines großen Staatsmannes, der ein wechselvolles Leben hinter sich hatte. Und irgendwie passt das zusammen heute, wo über den Krieg Russlands gegen die Ukraine täglich in den Medien berichtet wird, über die Zerstörungen, über Waffen, die Frankreich und Deutschland der bedrängten Ukraine liefern. Der Krieg ist zurück in Europa, er hat das „Nie wieder“ verdrängt. Und zur gleichen Zeit wählt Europa und gibt den Nationalisten in Frankreich, den Niederlanden und in Deutschland, um nur diese drei zu nennen, mehr Stimmen denn je. Frankreichs Staatspräsident Macron hat den Wahlausgang zum Anlass genommen, die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Dort hat die rechtsnationale Partei Rassemblement Nationale(RN) über 30 Prozent der Stimmen gewonnen, mehr als doppelt soviel wie Macrons Liste Renaissance.
Neben Frankreich feierten die Rechtsnationalen Erfolge in Italien, Österreich(FPÖ 25,5 vh), aber auch in Deutschland. In Ostdeutschland ist die AfD stärkste Kraft mit rund 27 Prozent. Bundesweit kam die AfD auf 15,9 Prozent, sie ist damit zweitstärkste Partei und liegt vor der SPD und den Grünen. Auf Platz 1 landete die Union mit rund 30 Prozent der Stimmen. Nicht vergessen darf man in diesem Zusammenhang, dass eine Partei wie die BSW(Bewegung Sahra Wagenknecht) auf Anhieb rund sechs Prozent der Stimmen erreichte. Die österreichische FPÖ hatte Wahlkampf gemacht mit EU-skeptischen Tönen: die EU sei im Ukraine-Krieg kriegstreibende Kraft. In Italien konnte die Partei von Ministerpräsidentin Meloni(Fratelli d´Italia) mit 28, 9 Prozent der Stimmen Platz1 gewinnen. In Ungarn büßte die Partei von Regierungschef Orban(Fidesz) Stimmen ein, blieb aber mit 44,6 Prozent stärkste Kraft.
Die Mehrheit im Europa-Parlament in Straßburg bleibt in der Mitte, aber die Gruppe nationalistischer Abgeordneter nimmt erheblich zu. Wobei man sich fragt, worin die Attraktivität derartiger Parteien liegen mag. Sie bieten keine Lösungen an, sie polemisieren gegen das Bestehende, reden es schlecht. So wie es die AfD macht, eine mehr und mehr rechtsextreme Partei mit einem Faschisten in der Führung: Björn Höcke. Eine Partei mit vielen Problemen und Skandalen im Wahlkampf, was ihr aber nicht zu sehr schadete. Die Menschen wählen sie dennoch, oder vielleicht sogar deswegen. Die Rechtspopulisten gaukeln ihren Anhägern gern etwas vor, einige liebäugeln mit Putin in Moskau, Frau Wagenknecht redet offen davon, der Westen müsse die Waffenlieferungen an Kiew einstellen und Kiew mit Moskau Waffenstillstandsgespräche führen. Wobei man die Frage stellen darf, ob eine solche Ukraine dazu dann in der Lage wäre oder ob sie in einem solchen Fall nicht Putin ausgeliefert wäre? Die Rechten predigen Selbstbestimmung und Abschottung, was in einer globalisierten Welt kaum geht. Europa steht im Wettbewerb mit den USA, mit China, Indien, da geht Abschottung nicht, man muss Teile der Souveränität abgeben an die Gemeinschaft und kann als Gegengeschäft Sicherheit und Wohlstand versprechen.
Migration und Kriminalität
Sicher, es gibt Probleme in Europa, die alle haben. Da ist die Migration, wo die Rechten sogenannte einfache Lösungen anbieten: keinen mehr reinlassen und die schon drin sind in der EU, sollen rausgeschmissen werden. Da wird dann polemisiert gegen die Einwanderung in soziale Sicherungssysteme und es wird verschwiegen oder bestritten, dass wir in Deutschland Fachkräfte brauchen, Hunderttausende jedes Jahr. Die Nationalisten behaupten sogar, man könne hier mit einigen Millionen Ausländern weniger besser leben. Kriminalität ist ein Thema der Rechten, der Blick richtet sich auf Einwanderer. Die Klimafragen treffen alle. Gemeckert wird unentwegt über die Bürokratie in Brüssel, da mag was dran sein, richtig ist aber auch, dass manche Regel und manches Gesetz so geformt und formuliert wurde, weil es prozessfest sein soll, sicher gegen Klagen.
Dass Europa für Deutschland ein großer Erfolg ist, erwähnen die Rechten nicht. Sie verkaufen den Leuten die Mär von Deutschland als Zahlmeister. Was erwiesenermaßen unsinnig ist. Aber am Biertisch wird es geglaubt. Europa gibt uns mehr Sicherheit. Natürlich ist das so. Man frage die Ukraine, sie wäre ohne die Hilfe der Europäer geliefert und zwar ausgeliefert Putin und seinen Soldaten. Es ist leichter, gegen die EU zu polemisieren, von der krummen Gurke als europäischer Erfindung zu reden oder davon, dass die EU uns den Verbrenner wegnimmt. Alles Unsinn.
Die Strahlkraft Europas hat gelitten. Auch weil wir den Nationalisten, den Ultra-Rechten, den Feinden Europas das Feld überlassen haben. Europa ist nicht perfekt, wer ist das schon. Aber es ist das Beste, was wir je hatten. Die Europa-Wahl hat die Zukunft Europas nicht verbaut, das stimmt. So weit ist es noch nicht. Aber wir müssen die Warnzeichen dieser Wahl erkennen und die europäische Idee neu beleben. Einer allein ist zu schwach, zusammen sind wir stark. Ob die Ampel-Parteien das wissen?
Hallo, vielen Dank für die Zusammenfassung der Ergebnisse der Wahl. Danke, auch für den Hoffnungsschimmer. Leider sehe ich es nicht so positiv. Das liegt daran, dass ich aus dem schönen und bunten München nach Prenzlau in die Uckermark gezogen bin. Ich bin nicht mehr in meiner Wohlfühlblase. Jetzt knallen Hass und Hetze schonungslos in meinem Alltag hinein. Das hatte ich vor meinem Umzug nicht erwartet. Ich dachte ich ziehe in eine sozial und umweltfreundliche Gegend. Den Menschen hier geht es sehr gut. Und trotzdem sind sie unzufrieden mit ihrem Leben und schieben ihren Frust auf die Migranten, die mit ihren privaten Problemen nichts zu tun haben. Ich habe seit Sonntag ziemlich schlechte Laune. Vielleicht können Sie mich noch ein wenig beruhigen. Mit freundlichen Grüßen Esther