„Die europäische Integration gelang nach 1945 nicht aus Liebe zu Europa, sondern entsprang dem Wunsch, eine wieder erstarkte Macht im Zentrum, Deutschland, einzudämmen. Die Formung Europas war die Einbindung Deutschlands zu einem größeren westlichen Verbund.“ So hat es Altkanzler Helmut Schmidt vor ein paar Jahren gesagt, so wird der Hamburger in einer neuen Biographie von Martin Rupps „Der Lotse“ mit dem Untertitel „Helmut Schmidt und die Deutschen“ zitiert.(Orell Füssli Verlag Zürich, 2015, 368 Seiten, 21.95 Euro)
Man kann den Untertitel leicht ausweiten auf Schmidt und die Europäer, weil der Autor vieles über die europäische Integration ausführt, was gerade heute wichtig ist, da in den Medien über ein Scheitern Europas geredet und die bange Frage gestellt wird: Zerbricht Europa? Gemeint an der Flüchtlingsfrage. Sinkende Geburtenzahlen in überalternden Gesellschaften und die sinkende wirtschaftliche Macht bedeuten für Schmidt die Folge, dass auch die wirtschaftliche Macht Europas in der Welt sinken könnte. „Daraus ergibt sich das langfristige strategische Interesse der europäischen Nationalstaaten an ihrem integrierenden Zusammenschluss.“
Mit Zitaten des Buch-Autors aus besagtem Buch können man fortfahren, zum Beispiel mit diesem: „Aber erkennen die Regierungen Europas rechtzeitig, was vernünftig und geboten ist? Der Altkanzler zweifelt an einem Sieg der Vernunft über die Affekte.“ Und Schmidt äußert wenige Zeilen später die Sorge, dass Konkurrenz- und Prestigekämpfe neu ausbrechen könnten mit der gefährlichen Konsequenz, dass die Einbindung Deutschlands kaum noch funktionieren könnte. Als der weise Mann von der Alster diese Rede zur Finanzkrise hält, war er selber schon 93 Jahre alt. Er ist ein Mann, der aus seiner Erfahrung sprechen kann, der als Schüler das Ende der Weimarer Republik und den Aufstieg der Nazis erlebte, den Zweiten Weltkrieg als Soldat mitmachen musste und die Zerstörung Deutschlands mit eigenen Augen sah und erschrak, als alles in Trümmern lag. Und der am Wiederaufbau der neuen, dieses Mal demokratischen Republik tatkräftig mitarbeitete. Seine Sätze zu Europa gelten gerade heute, da die europäische Union eher von Zwietracht gekennzeichnet ist denn von Solidarität, da viele Staaten nur noch an ihren eigenen Vorteil denken und das Ganze aus den Augen verloren haben.
Es steht schlecht um den Kontinent
Es steht schlecht um den Kontinent, schreibt Schmidt zur Finanzkrise. Der Satz ist gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingsbilder sehr aktuell. Wenn vor allem die Staaten im einstigen Ostblock ihre Türen lieber verrammeln wollen, wie das die Ungarn tun, wenn sie Zäune ziehen wollen, um sich abzuschotten und dabei ihre eigene Geschichte vergessen. Wie gern hätten viele Ungarn damals den Warschauer Pakt verlassen, als ihr Aufstand 1956 an den Panzern der Sowjetmacht scheiterte! Einigen gelang die Flucht über Österreich, Fußballer wie Ferenc Puskas spielten später für Real Madrid. Wie gern wären sie in Zeiten hinter dem Eisernen Vorhang durch diesen geschlüpft. Und jetzt wollen sie sich am liebsten einmauern. Wie passt das denn zusammen?.
Oder die Polen, die gerade eine neue Regierung gewählt haben, die mindestens kritisch Europa gegenüber steht und die keine Flüchtlinge aufnehmen will. Ein Land, das gerade mal einen Anteil von Migranten in Höhe von 0,3 Prozent hat. Der nationale Kurs könnte noch gefährliche Folgen haben, denn er wird Polen, das ja reichlich von einer prosperierenden EU profitiert hat, nicht weiterhelfen, sondern das Land eher zurückwerfen.
Scheine ja, aber keine Werte
Die einen schließen sich ein, die anderen winken die Menschen in Not einfach durch, damit sie sie los sind, nichts mehr damit zu tun haben. Die Europäische Union scheint für sie eine Bank zu sein, die ihnen billiges Geld gibt. Nehmen, aber nichts geben, schon gar nichts abgeben. Europa eine Wertegemeinschaft? Wenn man Werte in Scheinen messen würde, dann ja.
Einer wie Schmidt vergisst die Geschichte nicht, die Europa verbindet, vergisst die Feindschaft nicht, die Frankreich und Deutschland über Jahrzehnte trennte und sie in Kriege trieb, in denen beide Völker Tausende und Abertausende Menschen verloren. Man könnte auch Helmut Kohl fragen, der ein paar Jahre jünger ist als Schmidt, der aber die Notwendigkeit Europas nie aus den Augen verlor und der auf die deutsch-französische Freundschaft größten Wert legte. Schmidt verband viel mit seinem französischen Kollegen Giscard d´Estaing, Kohl hielt ein enges Band mit Francois Mitterrand.
Europa ist voller Mahnmale
Wer heute nach Frankreich fährt, zum Beispiel von Köln aus mit dem Thalys in gut drei Stunden über Brüssel nach Paris, muss selbstverständlich weder an der Grenze zu Belgien oder der zu Frankreich einen Ausweis zeigen. In Paris, in dem die Nazis von 1940 bis 1944 herrschten, begegnen einem die Franzosen freundlich, ja herzlich. Nirgendwo ein falscher Ton, wenn sie heraushören, dass ein Deutscher einen Kaffee bestellt oder nach dem Weg fragt. Beim Gang durch Paris stößt man, wie könnte es anders sein, auf Gedenksteine oder Ehrenmale, die an die furchtbaren Kriege erinnern. Da findet sich eine Tafel an einer Schule in der Nähe des Louvre, wo einst jüdische Kinder abgeholt worden waren, die in Viehwaggons nach Auschwitz gefahren wurden, wo man sie vergaste. Insgesamt wurden 11500 Kinder ermordet. Auch das ist wahr und wird von den Franzosen nicht verschwiegen, dass die französischen Kollaborateure den Nazis viel ihrer schmutzigen und tödlichen Arbeit abnahmen.
Und auch das ist wahr und gehört zur Geschichte von Paris und zur deutsch-französischen Aussöhnung, die ja die Basis Europas ist, das Fundament, auf dem der Kontinent steht: Der General der Infanterie Dietrich von Choltitz(1894-1966) wurde am 7. August 1944 von Hitler zum Wehrmachtsbefehlshaber von Paris ernannt. Der Führerbefehl lautete: „Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen“. In einem Telefonat hat Hitler von Choltitz gefragt: „Brennt Paris?“ Der General widersetzte sich dem Befehl des Führers, die Stadt im Kampf systematisch zu zerstören und zu verbrennen- bei Einsatz des Lebens tausender Franzosen und seiner eigenen Soldaten. Die Franzosen gaben Dietrich von Choltitz später den Ehrennamen: Retter von Paris. Bei seiner Beerdigung 1966 in Baden-Baden waren auch hohe französische Offiziere anwesend. Des Generals Sohn Timo von Choltitz ist stolz auf seinen Vater, zu Recht.
Sicherheit für Polen und Balten
Was wäre Europa ohne die deutsch-französische Freundschaft, ohne die Vorarbeiten Adenauers und de Gaulles, wobei wir andere nicht vergessen wollen, wie Robert Schuman oder Italiens Alcide de Gasperi, um nur einige zu nennen, die den Mut und den Weitblick hatten, nach dem Inferno des Weltkrieges der Vision eines friedlichen Europas zu folgen? Ohne die Montan-Union, die EWG? Wie stünde es denn um die Sicherheit Polens gerade gegenüber Moskau, wenn es nicht Mitglied der EU und der Nato wäre? Putin mag seine Muskelspiele betreiben, aber er wird Polen nicht anfassen, auch die baltischen Staaten, die Putin gern belästigen lässt, indem seine Flieger entlang der gemeinsamen Grenze ihre Runden drehen, können sich im Grunde in Sicherheit fühlen. Wenn man Estland, Lettland und Litauen besucht, hört man immer wieder die Ängste heraus, die die Menschen vor der russischen Übermacht haben. Sogar die Finnen sind froh, dass sie dem westlichen Bündnis angehören. Auch sie haben ihre Erfahrungen gemacht und mussten sich im Zweiten Weltkrieg mächtig gegen die Rote Armee zur Wehr setzen. Und sie alle haben die Segnungen der europäischen Integration, vor allem die wirtschaftlichen genossen und genießen sie noch.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es keinen Krieg mehr in Europa gegeben, wenn man mal den Zerfall Jugoslawiens und die Neuordnung des Balkans außen vor lässt. Es ist friedlich zwischen Frankreich, Deutschland, England und den anderen. Niemand muss sich vor einer deutschen Bundeswehr fürchten, die Bundesrepublik ist Teil der Nato. Sogar die deutsche Einheit gelang ohne einen Schuss und der Eiserne Vorhang liegt seit Jahr und Tag auf dem Müllhaufen der Geschichte Europas. Aber die Toten der Kriege auf den Friedhöfen in fast allen Teilen Europas mahnen, diesen blutigen Teil der Geschichte Europas nicht zu vergessen. Überall kann man die Mahn- und Ehrenmale sehen, ob in Berlin, Paris oder in Bonn.
Europäische Geschichte gehört in die Köpfe
Diese Einheit Europas darf nicht aufs Spiel gesetzt werden, mehr noch, die europäische Union ist gut beraten, wie es der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher vor einiger Zeit gesagt hat, auf Putin zuzugehen und ihm die Hand zu reichen. Wir brauchen Russland, um den Frieden mit und in der Ukraine wieder herzustellen, Russland gehört zu Europa und an den Tisch der Mächtigen. Gerade Deutschland mit seiner Geschichte ist hier gefordert. Wer hätte nach den Verbrechen der Nazis, nach dem Kulturbruch durch die Deutschen, als aus dem Volk der Dichter und Denker das Volk der Richter und Henker wurde, je geglaubt, dass unsere europäischen Nachbarn uns so schnell wieder die Hand gereicht hätten, dass man Deutschland so schnell in den Verbund der Kulturvölker aufnehmen würde und es mitwirken ließ an der europäischen Einigung.
Die europäische Geschichte muss in die Köpfe der Menschen. Wir dürfen diese Jahrhundertidee, die Europa nach vielen Kriegen den Frieden brachte, nicht kaputt machen. Die Flüchtlingskrise ist zu lösen, da hat die Bundeskanzlerin Angela Merkel Recht, aber sie muss europäisch gelöst werden. Jedes Land, ein jedes Mitlieder der EU muss sich hier beteiligen, muss Flüchtlinge aufnehmen und ihnen eine neue Heimat bieten. Das ist eine große Herausforderung, aber im Sinne der Wertegemeinschaft Europa machbar. Menschen in Not bedürfen unserer Hilfe, der christlichen Nächstenliebe. Nationale Kleinstaaterei hilft niemandem, vielmehr müssen Staaten lernen, europäisch zu denken, was zur nötigen Folge hätte, Europa zu stärken, indem man ihm mehr Macht, mehr Souveränität verleiht. Das gilt auch für Polen, für die Slowakei, Ungarn, für alle. Nur ein starkes Europa kann sich gegenüber der Konkurrenz behaupten und davon wird langfristig jeder Nationalstaat profitieren.