Die Europäische Union steckt in ihrer bisher tiefsten Krise. Sie muss sich, wenn sie da heil herauskommen will, gegen die erstarkenden Nationalisten und Rechtspopulisten im eigenen Haus ebenso behaupten wie beim Brexit, dem historischen Ausscheiden der Briten, und gegenüber dem großmäuligen Donald Trump, der, noch ehe er überhaupt im Amt des US-Präsidenten ist, der EU den Zerfall vorhersagt. In dieser Krise wählt das Europäische Parlament ausgerechnet Antonio Tajani zu seinem neuen Präsidenten und erntet dafür verständnisloses Kopfschütteln.
Enger Weggefährte Berlusconis
Leicht haben es sich die Parlamentarier in Straßburg nicht gemacht. Vier Wahlgänge brauchte der 63-jährige Tajani, in früheren Jahren europäischer Industriekommissar und enger Weggefährte des italienischen Ex-Premiers und EU-Verächters Silvio Berlusconi, um die nötigen Stimmen hinter sich zu bringen. Für viele war der Kandidat der Konservativen eine Zumutung, sein Gegenkandidat, der italienische Sozialdemokrat Gianni Pittella, das kleinere Übel. Am Ende aber ließen sich ausreichend Abgeordnete den Schneid abkaufen. Taktische Absprachen bewegten den belgischen Liberalen Guy Verhofstad zum Rückzug, mit Zugeständnissen und Versprechen über Amtsführung und Themensetzung zimmerte der Fraktionschef der Konservativen, Manfred Weber (CSU), ein Zweckbündnis zur Wahl. Von einer guten Wahl kann keine Rede sein.
Das Amt braucht einen überzeugten Europäer
Wohl wahr, ein Mensch kann an seiner Aufgabe wachsen. Tajanis Vorgänger im Amt, der Sozialdemokrat Martin Schulz, der nun in die Bundespolitik wechselt, hat auch während seiner Amtszeit das Format entwickelt, das ihm jetzt zu seinem Ausscheiden so viel Anerkennung und Popularität beschert. Doch das Amt des Parlamentspräsidenten hat nur so viel Autorität, wie der Amtsinhaber sich erwirbt, und sein stärkstes Instrument dazu ist das Wort. Das Amt braucht einen überzeugten und überzeugenden Europäer, keinen wankelmütigen und verzagten, der im Machtgebilde aus Rat, Kommission und Parlament unter die Räder gerät.
Verwalten genügt nicht
Das Europäische Parlament hat über die Jahrzehnte seine Rolle im europäischen Einigungsprozess gestärkt und nach und nach an Einfluss gewonnen. Nun sind alle Machtzentren der EU in konservativer Hand. Wichtige Impulse zur Vertiefung der Union, wie sie in der Vergangenheit beharrlich und visionär vom Parlament gegeben wurden, sind da nicht mehr in Sicht. Von Tajani ist eher Verwalten statt Gestalten zu erwarten, und das genügt in der Krise nicht.
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