1. Einleitung: Defensiv versus aggressiv
Moralisch und auch völkerrechtlich ist klar: Verteidigung ist legitim, Angriff ist illegitim. Die UN-Charta in Art. 51 verbietet allein den Angriffs-Krieg. Deshalb gilt in aller Regel: Wer einen Krieg beginnt, stilisiert ihn als Verteidigung – angefangen hat immer der Gegner.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann und einige Tage vorher befohlen wurde, ist die große Ausnahme. Russland bemühte sich nicht einmal um Camouflage. Dabei bietet die Kriegsgeschichte einen reichen Fundus von Bemäntelungs-Inszenierungen. Legendär ist die, auf die Hitler am 31. August 1939 mit dem von der SS fingierten angeblich polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz zurückgriff – zum „Beweis“ blieb ein erschossener deutscher Staatsangehöriger im Gebäude des Senders zurück. In seiner Reichstagsrede am Vormittag des 1. Septembers bemühte Hitler mit der Formel „Seit 5:45 h wird ZURÜCKgeschossen“ dasselbe Narrativ.
Gleichfalls Ausformungen dieses Narrativs sind, wenn auch eine Schraubendrehung abstrakter, Formeln, die Krieg oder Gewalt legitimieren, wenn sie auf den Potentialis abstellen. Als die USA unter Präsident Trump am 3. Januar 2020 am Flughafen von Bagdad hochrangige Militärs des Iran und aus dem Irak mit einem Drohnenangriff töteten, lautete die Begründung:
“At the direction of the President, the U.S. military has taken decisive defensive action to protect U.S. personnel abroad by killing Qasem Soleimani. General Soleimani was actively developing plans to attack American diplomats and service members in Iraq and throughout the region.“
Nun gehört es zum Wesen der militärischen Tätigkeit, dass in Sandkastenspielen und anderen Formen von Planung Eventualitäten durchgespielt und vorbereitet werden – die werden von höheren Rängen des Militärs in Auftrag gegeben und überwacht. Mit der von den USA angeführten Begründung gibt es weder eine Grenze des Präemptivschlages noch eine Grenze für den Personenkreis, gegen den er gerichtet sein darf. Der Eskalation nach oben sind keine Grenzen gesetzt. Nach der Tötung des Hisbollah-Generalsekretärs Hassan Nasrallah samt der Riege seiner Parteispitzen im 20 Meter tiefen Führungsbunker ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis erstmals ein Staatsoberhaupt Opfer von targeted killing werden wird.
Die Grundunterscheidung von defensiv versus aggressiv in Art. 51 UN-Charta ist damit aufgegeben, sie ist nicht mehr operationalisierbar. Absehbar erfolglos ist das Konzept ebenfalls. Das Töten von hohen Funktionsträgern führt nur dazu, dass diese ersetzt werden. Militärische Schläge, die auch als Angriffe realisiert werden können, werden weiterhin vorbereitet.
Die israelische Vorgehensweise des targeted killing, in diesem Statement des Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes Israels als Faktum formuliert,
„The Government of Israel employs a policy of preventative strikes which cause the death of terrorists in Judea, Samaria, or the Gaza Strip. It fatally strikes these terrorists, who plan, launch, or commit terrorist attacks in Israel and in the area of Judea, Samaria, and the Gaza Strip, …“.
folgt demselben Grundsatz wie er von den USA im Einzelfall Soleimani angeführt wurde. Informelle Äußerungen, sowohl des US-Militärs als auch israelischer Politiker, erweisen, dass in Wahrheit Vergeltung, nicht präemptive Verteidigung, das Motiv ist.
2. Der Umgang im Weißbuch der EU-Kommission mit dem Dilemma bei der Waffenbeschaffung
Mit diesem Dilemma unterschiedlicher Legitimität von Angriff und Verteidigung sind aktuell die Planer der europäischen Ebene konfrontiert. Ihre Aufgabe ist es, die Rüstungsplanung, die nun vorbereitet wird, sprachlich zu bemänteln bzw. volksverträglich zu machen – ein Akt des hybriden Krieges, der demokratieschädlich ist. Die zentralen Dokumente von EU-Ebene aus, der ReArm Vorschlag, welcher von der Kommissionspräsidentin ausgearbeitet und anschließend dem Europäischen Rat zur Bestätigung vorgelegt worden ist, sowie das Verteidigungs-Weißbuch, enthalten jeweils Listen von Waffen, in denen festgehalten wird, wo europäischerseits ein Kapazitäten-Defizit bestehe.
Der Umgang mit „Raketen“ in diesem Zusammenhang ist in seiner Asymmetrie auffällig bzw. vielsagend.
- Da geht es zunächst um Flugabwehrsysteme, also um Waffen, die allein zur VERTEIDIGUNG konzipiert und geeignet sind. Das sind, so der Wortlaut,
“Air and missile defence: an integrated, multi-layered, air and missile defence that protects against a full spectrum of air threats (cruise missiles, ballistic and hypersonic missiles, aircraft and UAS)”. In diesem Falle werden die geforderten Waffensysteme ausführlich beschrieben, insbesondere wird detailliert aufgelistet, gegen welche “air threats” des Gegners man der eigenen Bevölkerung Schutz bieten will. Die Liste der Raketen, mit denen der Gegner droht, besteht im Wesentlichen aus dem, was fachlich üblicherweise als Long Range Fire Systems (LRFS) rubriziert wird. - Wenn es aber darum geht, was die eigene Seite an LRFS aus den nun üppig fließenden Geldströmen anschaffen will, wenn es also um weitreichende Raketen und ähnliches zum ANGRIFF geht, dann wird es dazu in den Dokumenten äußerst schmallippig. Da wurden die LRFS zunächst, im Schreiben der Kommissionspräsidentin, nur implizit, als bessere Granaten, dargestellt. Erst ein Widerspruch dazu im Europäischen Rat am 6. März führte dazu, dass nun im Weissbuch des Verteidigungskommissar die Formel lautet: “Artillery systems: advanced fire systems including modern artillery and long-range missile systems designed to deliver precise, long-range attacks against land targets (deep precision strike)”. Eine Auflistung der unterschiedlichen Typen wird auch da, im Weissbuch, nicht gegeben.
Dieser Unterschied, diese Asymmetrie, ist deswegen so auffällig, weil diese weitreichenden Systeme die Eigenschaft haben, dass sie nur demjenigen (sicher) zur Verfügung stehen, der als erster schießt – d.i. der sog. “Präemptionsdruck”. Ihre problematische Eigenschaft ist somit gerade die, dass sie nur in dem Sinne Waffen zur Verteidigung sind, dass sie angreifen, um einem unterstellten Angriff des Gegners zuvorzukommen. Damit verwischt die völkerrechtlich zentrale Unterscheidung von Verteidigung und Angriff. Im Ernstfall wird vermutlich noch klar sein, wer als erster geschossen hat. Der aber muss bzw. wird zur Begründung sagen: Wir sind lediglich einem Angriff des Gegners zuvorgekommen. Das Völkerrecht verliert damit im Nebel der ungeklärten Intentionen seine Funktion – die Fakten („wer hat angefangen?“) zählen dann nicht mehr.
Eindeutig hingegen ist: Die LRFS gehören zu den Fähigkeits-Lücken, welche die Europäer beseitigen wollen.
3. Der Umgang im Weißbuch der EU-Kommission mit dem Dilemma bei der militärischen Unterstützung der Ukraine
Ein zweites problematisches Feld ist die zukünftige Lieferung von Waffen seitens der Europäer an die Ukraine. Problematisch ist daran Zweierlei:
- Solche Lieferungen mindern die eigene bzw. genuine Verteidigungsfähigkeit der Europäer; militärische Lieferungen an die Ukraine schlagen negativ auf die eigenen Fähigkeiten der Europäer durch.
- Sofern es sich um Lieferungen nach Abschluss der Kämpfe an der gegenwärtigen Kontaktlinie zwischen den Streitkräften Russlands und der Ukraine handelt, kann man jedoch argumentieren, sie dienten dem Schutz der weiter westlich gelegenen Europäer, sie befähigten die Ukrainer zu einer Art Vorne-Verteidigung. Dann mindern sie nicht den Schutz, im Gegenteil, sie erhöhen ihn sogar, weil das Komplement, das Personal, von der Ukraine gestellt wird.
Die Kehrseite ist aber, dass die Ukraine damit Fähigkeiten erhält, die auch zum Angriff befähigen, die sie so nutzen kann. Fähigkeiten sind einschätzbar, Intentionen nicht. Hinzu kommt die völkerrechtliche Besonderheit: Ein eventueller Vorstoß ukrainischer Truppen auf das von Russland besetzte Gebiet wäre im völkerrechtlichen Sinne kein „Angriff“ – es wäre ja ein Vorstoß auf eigenes Territorium, Aserbeidjan hat es im Armenien-Fall gerade vorgemacht. Im strikt militärischen Sinne aber handelte es sich selbstverständlich um einen Angriff. Interesse der Europäer aber ist eine Stabilisierung der militärischen Situation im Donbass. Werden die ukrainischen Streitkräfte von den Europäern so ausgestattet, dass sie zum Überraschungsangriff fähig sind, dann entsteht an der Ostfront der Ukraine keine Stabilität.
Diese objektive Zweideutigkeit ist der EU Anlass für ein phantasievolles Framing der zukünftigen Kapazitäten der ukrainischen Streitkräfte, in dem die unterschiedliche Legitimität von Waffen zur Verteidigung und zum Angriff vorkommt. Zur Unterstützung der militärischen Fähigkeiten der Ukraine auf Dauer wurde aus der Vorratskiste bildhafter Sprache der Ausdruck „Stachelschwein“ gewählt. Stachelschwein-analog soll die ukrainische Armee befähigt werden, sagt des Weissbuch der EU – wohlgemerkt nicht gemäß den Eigenschaften eines Igels, also nicht ausschließlich defensiv.
Die Pointe des Stachelschweins ist, dass es sich, wird es angegriffen, zunächst, wie ein Igel, rein und unzweideutig defensiv verhält. Wenn diese Einigelung aber nicht hinreicht, weil der Gegner nicht ablässt, dann geht es auch zum Angriff auf den Gegner über und nutzt dabei seine giftigen Stacheln als Waffe. Die Frage ist: Ist eine militärische Ausstattung der Ukraine vorstellbar, welche diesem Narrativ entspricht? Oder liegt es in der Natur des Militärs, dass Waffen, die zum Angriff befähigen, ggfls. auch zum (prä-emptiven) Ersteinsatz genutzt werden?
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