Europa, heißt es, wächst an seinen Krisen. Doch der optimistische Leitgedanke verliert an beruhigender Kraft. Vor dem Flüchtlingsgipfel mit der Türkei wirkt die Europäische Union desolat. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit ihrem Eintreten für eine europäische Lösung einen schweren Stand. Humanität und Solidarität, das legt der Konflikt bloß, sind im Club der 28 Mitgliedsregierungen längst nicht so selbstverständlich, wie es die vielbeschworene Wertegemeinschaft verheißt.
Nationale Egoismen triumphieren. Unverhohlene Drohungen, Alleingänge, Austrittsszenarien… und wenn vor den Toren der EU der türkische Präsident Erdogan der Pressefreiheit in seinem Land erneut einen kräftigen Schlag versetzt, herrscht weithin betretenes Schweigen. Die Regierung in Ankara hält einen Schlüssel zur Entschärfung der Flüchtlingssituation in der Hand und lässt sich das von der EU nicht nur in barer Münze bezahlen, sondern auch durch stillschweigendes Gewährenlassen.
Vor dem Sondergipfel hat die europäische Diplomatie noch einmal alle Kraft aufgeboten, um ein völliges Scheitern abzuwenden. Ratspräsident Donald Tusk nahm die bockigen Österreicher und Osteuropäer ins Gebet und machte auch wieder Stopp in Ankara, Merkel sprach mit dem französischen Präsidenten François Hollande, Innenminister Thomas de Mazière mit seinem italienischen Amtskollegen, und Kommissionschef Jean-Claude Juncker redete sich den Mund fusselig, um zu retten, was zu retten ist. Es geht um die Seele des historischen Einigungswerks.
Festungspolitik setzt auf Abschottung
Die ist in den zurückliegenden Jahren mehr als einmal verraten worden. Durch eine Festungspolitik, die auf bloße Abschottung setzte, durch das Versäumnis einer gemeinsamen Asyl- und Einwanderungspolitik, auch durch massive Rüstungsexporte und fehlende Initiativen zur friedlichen Konfliktbewältigung, durch mangelnden Kampf gegen den Klimawandel, rücksichtslose Handels- und ungerechte Finanzpolitik.
Millionen Menschen fliehen vor Krieg und Zerstörung, vor Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit. Die weitaus meisten bleiben in der Region, an den Grenzen zu den syrischen Nachbarländern leben sie in Zeltstädten, deren Unterhalt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen nicht mehr gewährleisten kann. Andere wagen den strapaziösen Marsch über den Balkan oder den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer, sie liefern sich Schlepperbanden aus und stranden an Ufern, Stacheldrähten, oder in der Illegalität.
Es fehlt die politische Union
Bis heute ist der Beschluss einer gerechten Verteilung von 160 000 Menschen auf die 500 Millionen Einwohner starke Union nicht umgesetzt. Allein das nährt die Zweifel daran, dass rasch eine umfassende europäische Lösung gelingt. Dabei wäre sie gerade in Zeiten der Verunsicherung und rechtspopulistischen Stimmungsmache ein wichtiges Signal. Die EU hat mit einer wachsenden Akzeptanz bei ihrer Bevölkerung zu kämpfen. Das liegt auch daran, dass es ihr zwar als Wirtschaftsmacht gelingt, entschlossen zu handeln und Krisen in Fortschritt umzuwandeln, nicht aber als politische Union. Jedenfalls bis jetzt nicht.
Die Flüchtlingsfrage ist eine Bewährungsprobe und zugleich die Chance, Glaubwürdigkeit und Vertrauen zurückzugewinnen. Wenn die Europäische Union in einer derart wichtigen, die Menschen bewegenden Frage keine gemeinsame Antwort findet, verkommt sie zu einer Freihandelszone, die nur die Märkte, nicht die Menschlichkeit im Blick hat.
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