Man muss in diesen Tagen, da wieder mal über das einige Europa gestritten wird, zurückblicken in die Jahre kurz nach dem 2. Weltkrieg. Als alles kaputt war, Deutschland, das den Krieg entfacht hatte, zerstört am Boden lag, moralisch am Ende, waren es die Nachbarn, die den Deutschen die Hand gaben zur Versöhnung. Die Franzosen, die gelitten hatten unter der Nazi-Herrschaft, die Holländer, die Belgier, alles Opfer jener barbarischen NS-Zeit, die Briten, ja auch die Italiener, obwohl die selber ein gutes Stück beteiligt gewesen waren an den Verbrechen. Von der Montan-Union über die EWG zur EU mit heute immer noch 27 Mitgliedsstaaten. Mit dabei Polen, das Nazi-Deutschland mit einem Vernichtungskrieg auslöschen wollte. Vergessen wir das nicht, wenn wir über Differenzen zwischen Paris und Berlin reden, zwischen Macron und Scholz. Denken wir an Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Kohl, Francois Mitterrand, Gisdard d´Estaing.
Worum es heute geht? Um die Energie- und Wirtschaftspolitik, darum, dass Macron den Eindruck hat, Deutschland isoliere sich? Das europäische Führungsduo sei außer Betrieb, lese ich und kann dazu nur den Kopf schütteln. Europa ist mehr als Energie- und Wirtschaftspolitik, mehr als Paris und Berlin, Macron und Scholz. Vor allem ist Europa wichtiger als anderes. Jeder der 27 Mitglieder braucht dieses Europa, das sich nur geschlossen behaupten kann gegen Übermächte wie China oder auch gegen die immer noch Welt-und Nuklear-Macht Russland. Putins Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen unsere Wertegemeinschaft, gegen die Freiheit.
Wir stehen zusammen
„Europa steht zusammen“, hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz betont. Das ist die Pflicht der Politik, Herr Bundeskanzler, Ihre Pflicht und natürlich auch die Ihres französischen Kollegen. Es kann doch nicht sein, dass in Zeiten, da Russlands Präsident Putin die Ukraine mit Raketen zerstören will, Frankreich und Deutschland über Kreuz liegen. Paris und Berlin, das war immer der europäische Motor. Wenn der ins Stottern gerät, geht gar nichts mehr auf unserem Kontinent. Das kann, das darf sich Europa nicht leisten angesichts der Weltlage, des Krieges in der Ukraine, der ja auch uns mehr als berührt.
China wird immer mächtiger, der Einfluss des Reichs der Mitte reicht längst in europäische Gefilde. Man denke an die Seiden-Straße, die in China beginnt und im Duisburger Hafen endet. Und fast überall hat Peking sein Hand im Spiel, geraten wir, Stichwort Hamburger Hafen, in neuerliche Abhängigkeiten. Wir sollten doch eigentlich gelernt haben von der allzu einseitigen Abhängigkeit vom russischen Gas. Das darf uns und Europa nicht noch einmal passieren.
Das europäische Führungsduo muss sich verständigen. Wenn Frankreichs Präsident Macron sein Unbehagen über einen deutschen Alleingang in der Energiepolitik äußert und dabei den 200-Mrd-Euro-Abwehrschirm nennt, dann ist das mindestens eine Mahnung an die deutsche Adresse im Kanzleramt, ein Weckruf. Ja, wir brauchen absolute Einigkeit, wie es Macron gefordert hat. Es reicht nicht, wenn der Bundeskanzler anders als sein französischer Partner von einer deutsch-französischen Entfremdung nichts wissen will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der französische Präsident nur einer Einbildung folgt. Es wird Zeit, diese Dinge zu diskutieren und Unstimmigkeiten auszuräumen.
Viele andere Probleme
Es gibt genug andere Probleme in Europa. Schauen wir nur ins benachbarte Großbritannien, das zwar nicht mehr der EU angehört, wo es aber drüber und drunter geht. Das kann niemanden kalt lassen, zumal sich die Stimmen in Schottland wieder mal mehren, das mit der eigenen Unabhängigkeit erneut zum Thema zum machen, um sich anschließend der EU anzudienen. Auch in Nordirland wächst nach den Chaostagen in London die Unruhe, wie es weitergeht. Angesichts der Lage im sogenannten vereinigten Königreich geht es uns in Deutschland bestens, politisch wirkt alles weitgehend stabil und wirtschaftlich auch. Ich denke, selbst Oppositionschef Friedrich Merz wird dem zustimmen, auch wenn er überzeugt sein mag, dass er es besser machen würde als Scholz.
Und dann sollten wir nach Rom schauen, wo mit Giorgia Meloni erstmals eine Neofaschistin Ministerpräsidentin Italiens geworden ist. An ihrer Seite die wenig schmeichelhaften Zeitgenossen Berlusconi und Salvini, allesamt keine glühenden Anhänger der Europäischen Union. Beifall bekam Meloni wie erwartet von Ungarns Orban und die polnische Regierung steht mit ihren nationalistischen Klängen auch nicht sehr entfernt. Ein Europa auf Rechts-Kurs, das hätte uns gerade noch gefehlt angesichts des Flüchtlingsstroms aus der Ukraine und aus Russland. Da wird man nicht lange warten müssen, bis entsprechende Forderungen auf dem Tisch liegen, die Grenzen für Geflüchtete zu schließen.
Der russische Präsident hat es bisher nicht geschafft, die Mitglieder der EU gegeneinander auszuspielen. Die Hilfe der Europäer für die bedrängte Ukraine wird (noch) nicht in Frage gestellt. Diese Geschlossenheit gilt wohl auch bei den Sanktionen aus Brüssel gegenüber Moskau. Auch das Bestreben der Europäer, sich von der allzu großen russischen Gas-Abhängigkeit zu lösen, scheint unstrittig zu sein. Bisher. Der Winter steht vor der Tür, niemand weiß, wie wir durch die kälter werdenden Monate kommen, wenn das Gas knapp und teuer wird. Wenn vieles noch teurer wird, auch Lebensmittel, Benzin. Hilfe ist zugesagt, Firmen und Familien, Rentner und Beschäftigte, niemand solle allein bleiben mit seinen Sorgen. Hat die Politik versprochen. Dennoch wäre mehr Krisenkommunikation hilfreich. Denn niemand soll frieren, nicht nur in Deutschland, sondern in allen Teilen Europas. Soviel Solidarität muss sein.
Von Scholz stammt der Satz: Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen. Er wird ihn nicht gewinnen, wenn Europa geschlossen bleibt. Ein einiges Europa ist eine Macht. Europa muss lernen, mit einer Stimme zu sprechen. Auch wenn das schwer wird bei 27 Mitgliedern und dem herrschenden Sprachengewirr. Aber wer hätte 1945 geglaubt, dass es jemals zur deutsch-französischen Freundschaft kommen würde, zur EWG, zur EU?!